11

Andy brauchte sich keine Gedanken zu machen, wo der Stachel des Todes war - er hatte ihn gefunden. Überall um ihn herum. Er hatte gewußt, daß das Leben außerhalb der Konzern-Enklave rauher, schmutziger, geräuschvoller und weniger geordnet war, als er es gewöhnt war, aber ihm war nicht klar gewesen, wieviel mehr es all das war. Doch er war jetzt ein Shadowrun-ner, und das war sein Leben. Und wenn es nicht seinen Vorstellungen davon entsprach, wie es aussehen würde, mußte er sich eben umgewöhnen.

War die Vortäuschimg seines Todes die richtige Entscheidung gewesen? Es hatte Vorteile, »tot« zu sein. Denn wer würde sich schon die Mühe machen, einen Toten zu jagen?

Aber er war ein Toter mit einem Plan. Er starrte die Wände seines neuen Heims an und versuchte sich darüber klar zu werden, ob er bereit war, damit fortzufahren. Die Wände mit ihrer abblätternden Farbe und den unidentifizierbaren vielfarbigen Flecken waren entmutigend. So wie fast alles seit seinem »Tod«.

Er hatte diese winzige Ein-Zimmer-Wohnung in den Green Tree Hill Apartments bezogen, einem abgewirtschafteten, heruntergekommenen Motel, das monatsweise vermietete. Die Reklame für das Apartment hatte sich wesentlich besser angehört, als es in Wirklichkeit war, aber es war besser als die übrigen, die Andy sich angesehen hatte. Einige der anderen hatten nicht einmal ein Schloß an der Tür gehabt. Er hatte es genommen, weil er einen Platz zum Schlafen brauchte, und er mußte Geld sparen, besonders nachdem er so viel für Verbesserungen an seinem Sony ausgegeben hatte.

Obwohl Andy für alle Sicherheitsvorkehrungen, die Green Tree Hill anbot, extra bezahlt hatte, fühlte er sich nicht sicher. Wie konnte er auch, wenn er diesen Vorkehrungen nicht traute? Er war sicher, daß es sich bei der Hälfte um hochtrabende Namen für heiße Luft handelte und die Hälfte des Rests außer Betrieb war. Fenster- und Türschlösser funktionierten. Das hatte er in der ersten Nacht herausgefunden, als jemand einzubrechen versuchte. Er hatte den Alarmknopf gedrückt, doch ohne Wirkung, weshalb er wußte, daß dieses System nicht funktionierte, aber glücklicherweise war es dem Einbrecher nicht gelungen, das Türschloß zu knacken, und schließlich hatte er aufgegeben, vermutlich, um sich leichtere Beute zu suchen. Der Vorfall hatte bei Andy ein Gefühl der Verwundbarkeit hervorgerufen. Wenn nun der Einbrecher ein Troll gewesen wäre? Einen Eindringling mit derartiger Kraft hätten die Schlösser gewiß nicht aufgehalten.

Wenn Andy in den Schatten überleben wollte, brauchte er Kontakte. Runner hatten immer Kontakte. Doch Angst zu haben, nach draußen zu gehen, war gewiß nicht die beste Methode, Kontakte herzustellen.

Oder Freunde zu finden.

Zum erstenmal in seinem Leben war Andy auf sich allein gestellt, wirklich auf sich allein gestellt. Er hatte niemanden, an den er sich wenden konnte: keine Freunde, keine Familie, keine Kollegen, nicht einmal einen Boß oder Lehrer. Ihm war nicht klar gewesen, wie schnell eine Person vereinsamen konnte. Er wollte mit jemandem reden - nur reden, mehr nicht -, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob dieser Jemand ihn vielleicht schon als Ziel für einen räuberischen oder sexuellen Überfall auserkoren hatte - womit alle anderen Bewohner der Green Tree Hill Apartments, die er bisher gesehen hatte, ausschieden. Hätte er ein paar von ihnen besser gekannt, würde er vielleicht nicht gedacht haben, daß sie ihn als leichte Beute betrachteten. Doch er kannte keinen von ihnen. Er kannte niemanden auf der Straße. Alle, die er kannte, lebten in der Konzernwelt. Wenn er mit jemandem zu reden versuchte, den er tatsächlich kannte, würde sein Geheimnis verraten werden, und dann wäre alles umsonst gewesen.

Was ohnehin der Fall war, wenn er nicht bald ein paar Kontakte knüpfte.

Er mußte aufhören, es vor sich herzuschieben. Es wurde Zeit, sich einzustöpseln und es zu versuchen. Andy hatte es schon immer vorgezogen, Leute in der Matrix kennenzulernen. Die Matrix war ein sinnvoller Ausgangspunkt.

Als ersten Haltepunkt wählte er Neils Kaller, eine Adresse, die er im Shadownet aufgeschnappt hatte. Angeblich war der Laden mit Eskimo-Nell verbunden, Gerüchten zufolge einem Treffpunkt für Runner, der in seinen virtuellen Phantasien seine Operationsbasis war. Er ging davon aus, daß die virtuelle Bar in der Hauptsache voller Möchtegerns wie ihm selbst sein würde, aber er hoffte, daß sich auch ein paar Talentsucher dort aufhielten. Er konnte keine direkte Connection zu irgendwelchen Runnern erwarten. Die Adressen der Läden, in denen echte Runner herumhingen, wurden nicht dorthin ausposaunt, wo jeder an sie herankommen konnte. Wenn sie irgendwo veröffentlicht waren, dann im Shadowland, dem echten Shadowrunner-Netz, aber dazu hatte Andy keinen Zugang. Einstweilen mußte er es einfach versuchen. Wenn er echtes Glück hatte, konnte ihn jemand bei Neil vielleicht ins Shadowland einklinken.

Er schaltete das Sony ein und fuhr eine Diagnose seiner Modifikationen ab. Die Konsole war jetzt ein echtes Cyberdeck - kein gutes, aber besser als die Dutzendware, die es zuerst gewesen war. Richtige Decker benutzten keine Dutzendware, weil sie ihnen keine Vorteile gab, und Vorteile waren das, was einen in den Schatten am Leben hielt.

In der Hoffnung; daß sein physischer Körper während seines Ausflugs durch nichts gestört würde, stöpselte er sich ein.

In Neils Keller zu decken war leicht. Es gab nur wenig Ice, und das war strahlend weiß, wenngleich so knifflig, daß einiges Geschick erforderlich war. Andy hatte mehr als genug, um durchzukommen.

Die virtuelle Bar war voller Persona-Icons, manche an der Bar, die meisten an den Tischen. Bei der überwältigenden Mehrheit der Bilder handelte es sich um Metamenschen aus Chrom, die mit Kleidungsstücken, Juwelen oder Neonmarkierungen verziert waren, um ihnen so etwas wie Persönlichkeit zu verleihen. Es gab eine ganze Reihe von Cartoon-Charakteren und klassischen, kantigen Icons aus der Frühzeit des Computerzeitalters. Ein paar Gäste hatten sich für animierte leblose Gegenstände wie gehende Toaster und obskurere Dinge entschieden. Nicht alle in der Menge waren Decker, manche waren Tramper. Andy erkannte den Unterschied, wenn er genau hinsah. Die Tramper hatten nicht dieselbe Auflösimg, und manchmal sah er auch eine dünne Linie, die den Tramper mit seinem Decker verband.

Neils Keller war in verschiedenen Grautönen eingerichtet. Sogar die Icons, die unter den an der Decke hängenden Scheinwerfern hergingen, blieben in dem Licht blaß und farblos. Irgend etwas in der virtuellen Konstruktion, vermutete Andy, eine atmosphärische Sache. Andy sah sich nach einem Tisch mit einem Licht um, das eine offene Gesprächsrunde signalisierte, sah jedoch keinen. Weiter hinten waren noch mehr Tische, die jedoch vom Eingang aus nicht deutlich zu sehen waren. Er würde ein wenig herumgehen müssen.

Er war keine virtuellen drei Meter weit gekommen, als ihm ein ausgestrecktes Bein den Weg versperrte. Wenigstens nahm er an, daß es ein Bein war. In dem Strahl gebändigter Flüssigkeit waren keine Gelenke oder Wölbungen zu erkennen, aber er war mit der Hüfte eines Icons verbunden, das wie ein Mann aus Zeichentrickfilm-Blitzstrahlen aussah. Der Kopf des Icons bestand aus einem glatten menschlichen Gesicht mit leuchtenden Augen. Die Augen musterten Andy von oben bis unten. Dasselbe galt für die Augen der anderen Icons an dem Tisch.

»Hoi, Chummer, seht mal hier«, sagte der Blitzstrah-len-Mann. »Hier will jemand Arnold sein und hat keine Ahnung, wo die Struktur-Karten geblieben sind.« Und zu Andy: »Du hast wohl zu viel Speicher, daß du ihn für dein Icon verschwendest, Grünschnabel. Willst du dich mal im Dschungel umsehen, oder bist du einfach nur dumm?«

Es war eine herausfordernde Frage. Ein Runner würde eine coole Antwort geben, also sagte Andy: »Weder, noch.«

»Oooh. Tatsächlich nicht?« Die leuchtenden Augen verengten sich zu rechteckigen Schlitzen. »Ich bin Zag-foot. Vielleicht hast du von mir gehört.«

»Nein«, erwiderte Andy aufrichtig.

»Dann bist du also doch dumm«, sagte Zagfoot.

»Laß ihn in Ruhe, Zagfoot«, sagte ein Wolf-Ork-Hybrid, der dem ursprünglichen Schloß Löwengrimm-Spiel-Icon so nahe kam, daß ein R in einem Kreis in der Luft über ihm schwebte.

»Seit wann bist du so ein Schlaffie, Wolfie?« konterte Zagfoot.

Da Zagfoots Aufmerksamkeit abgelenkt war, machte Andy Anstalten, die Barriere zu umgehen, während er sagte: »Ich suche keinen Streit, Zagfoot.«

Im nächsten Augenblick landete er mit dem Gesicht auf dem Boden. Die SimSinn-Schaltkreise in seinem Deck vermittelten ihm den Eindruck, als sei es tatsächlich geschehen. Andy war nicht über seine eigenen Füße gestolpert, sondern Zagfoot hatte ihm ein Bein gestellt. Der Decker grinste ihn höhnisch an.

»Für dich heißt das Mr. Zagfoot, Grünschnabel. Jammerschade, daß du keinen Streit suchst, weil du ihn nämlich gefunden hast.«

Andy versuchte aufzustehen, aber die motorischen Funktionen des Terminators waren blockiert. Zagfoot lachte über Andys Bemühungen. »Seht euch das an«, sagte der Decker.

Fotorealistische Blitze nagten an Andys Icon, schwärzten und entfärbten den Terminator, wo Zag-foots Angriffsprogramm Andys grafisches Interface löschte. Andys SimSinn-Verbindung übermittelte ihm die Angriffe als schmerzhafte Elektroschocks. Seine physischen Finger flogen über die Tastatur seines Decks, da er einen Fluchtweg zu finden versuchte. Zag-foots Blockade hielt, und die glänzende Oberfläche des Terminators korrodierte weiter.

Andys Qualen endeten abrupt, und er blieb schlaff und desorientiert liegen. Einen Augenblick lang dachte er, er stehe unter Auswurf-Schock, aber dann wurde ihm klar, daß er alles nur grau in grau sah, weil er sich immer noch in Neils Keller befand. Er wußte, daß er nichts getan hatte, tun den unnachgiebigen Druck des Programms seines Peinigers zu brechen. Dankbar für die Atempause, konnte er nur verblüfft zusehen, wie sich Zagfoot nun unter dem Angriff eines anderen wand.. Der Blitzstrahl-Mann erstarrte, wobei er mehr denn je wie eine Zeichentrickfigur aussah, und verschwand dann einfach. Wie auf ein Stichwort trat ein kleiner ebenholzfarbener Junge in einem silbern glitzernden Mantel unter den nächsten Scheinwerfer und sagte: »Wahrhaftig, heute abend muß doch noch geeigneteres Jagdwild in der Matrix unterwegs sein.«

Ein allgemeines zustimmendes Gemurmel ertönte, während sich Icons abwandten oder einfach verschwanden. Mehrere nannten einen Namen, während sie Entschuldigungen und Begrüßungen an den Neuankömmling richteten. Andy hatte diesen Namen auch schon im Shadownet flüstern hören, aber er konnte nicht glauben, daß er ihn richtig verstanden hatte. Der Dodger. Die Tatsache, daß sich das Icon vor ihm in sattem Schwarz zeigte, demonstrierte, daß dieser Decker dazu in der Lage war, sich über Neils atmosphärisches Matrixkonstrukt hinwegzusetzen. Aber es konnte nicht der Dodger sein, oder? Nicht Verners Decker, nicht hier! Erstens würde solch ein legendärer Decker nicht an einem Ort wie Neils Keller herumhängen. Zweitens hätte so ein erstklassiger Runner keinen Grund, sich für Andy einzusetzen. Drittens, nun, drittens konnte es einfach nicht sein. Wie konnte ein Decker mit dem Ruf des Dodgers ein so wenig imposantes Icon haben?

»Bist du wirklich der Dodger?«

»Das ist ein Name, auf den ich höre«, erwiderte der Ebenholzjunge, indem er sich an den nun leeren Tisch setzte, über den Zagfoot geherrscht hatte. »Bitte, Sir, nehmt Platz und sagt mir, wie man Euch nennt.«

»C-drei«, sagte Andy zufrieden, weil er nicht vergessen hatte, daß er diese Abwandlung seines üblichen C-Kubik benutzen wollte. Er setzte sich auf den Stuhl Dodger gegenüber. Er wollte nicht zu vertraulich wirken.

Die Lippen des Ebenholzjungen verzogen sich zu einem neugierigen Lächeln. »Könnte Euer Nachname zufällig P-O lauten?«

»Nein«, erwiderte Andy. Hatte er einen Fehler gemacht? Gab es noch einen C-drei? »Warum?«

»Stört Euch nicht an meiner Bemerkung. Sie war nur ein scherzhafter Verweis und ohne Bedeutung.« Der Ebenholzjunge betrachtete Andy einen Augenblick, bevor er weitersprach. »Es will mir seltsam erscheinen, daß Ihr nur unter einem Buchstaben und einer Zahl bekannt seid. Das ist kein Name, ganz gewiß nicht für freie Leute, wie Ihr und ich es sind. Folglich müssen wir die Nummer von vornherein streichen, werter Herr. C, sagtet Ihr? Wie in dem glänzenden, mit Cylin-dern übersätem Cybermann, der Ihr zu sein scheint? Nein, erspart Euch die Mühe einer Antwort, denn es geht mich nichts an. Aber es ist mir, so muß ich annehmen, eine Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen, Meister Cylinder.« Der glitzernde Mantel wurde herumgewirbelt, als sich der Ebenholzjunge verbeugte. »Ihr seid, würde ich meinen, einigermaßen neu hier in dieser digitalen Domäne. Wie Ihr am eigenen Leibe erfahren habt, ist das eine Beute, die ganz nach dem Geschmack dieses Grobians Zagfoot ist.«

Andy bestritt, daß er ein Neuling sei, aber er wußte, der Dodger würde ihm nicht glauben.

»Du beweist Charakter, indem du scherzt, aber es bleibt nur ein Scherz. Die Wahrheit läßt sich nicht so einfach verbergen, denn Churl Zagfoot ist zwar ein Flegel, aber er hatte recht. Es ist offensichtlich, daß Ihr für ein derart bescheidenes Deck wie das Eure viel zuviel in Euer Icon investiert habt. Der Fehler eines Neulings. Ihr wäret gut beraten, ein paar Veränderungen vorzunehmen, bevor Ihr Euch das nächstemal hinauswagt.«

Das würde Andy tun. »Hast du noch einen anderen Rat für mich?«

»Ich? Ich erteile niemals Ratschläge.« Der Ebenholzjunge lächelte, wobei er glänzende, nachtschwarze Zähne zeigte. »Das heißt, nicht ohne eine Vergütimg. Kostenlose Ratschläge werden mit dem Respekt gewürdigt, der allem entgegengebracht wird, was umsonst ist.«

»Ich wäre bereit, für einen guten Rat von jemandem zu bezahlen, der sich wirklich auskennt«, sagte Andy, der bezweifelte, daß er genug anzubieten hatte, um sich die Zeit eines derart berühmten Deckers leisten zu können.

»Wahrhaftig?«

»Ja. Einiges.«

»Man sagt, ein wahrer Ritter hilft den Unterdrückten um der Tugend willen und zum Wohle der unglücklichen Bedürftigen. Leider ist es mein Unglück, daß Ihr in mir keinen wahren Ritter seht. Und es ist vielleicht mein noch größeres Unglück, daß Ihr die Wahrheit seht.« Eine Pause. Die Miene des Ebenholzjungen wurde ernst. »Ihr sagtet, Ihr verfügt über Mittel.«

Andy zückte einen virtuellen Kredstab, den er auf die Hälfte seiner verfügbaren Mittel begrenzt hatte. Er hoffte, das würde reichen, um Dodger zu überreden, ihm zu helfen. Er dachte daran, die Summe zu erhöhen - die Hilfe des Dodgers konnte von unschätzbarem Wert sein -, beschloß es jedoch erst, nachdem er den Kredstab bereits auf den Tisch gelegt hatte. Und da war es zu spät, ihn zurückzunehmen. Das wäre zu uncool gewesen.

Kohlschwarze Finger strichen einen Moment lang über Andys Kredstab und zogen sich dann zurück. Dodger saß so lange schweigend da, daß Andy schon befürchtete, sein mageres Angebot könne ihn beleidigt haben.

»Wie seltsam«, sagte der Ebenholzjunge leise. »Ihr gehört zu Telestrian.«

»Woher weißt du das?« platzte es aus Andy heraus.

»Technomantie«, sagte der Ebenholzjunge mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Darm stimmt es also?«

»Früher einmal«, sagte Andy. Als der Dodger nicht antwortete, fügte er hinzu: »Ganz bestimmt. Ich arbeite für niemanden. Aber ich würde gern. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ihr werdet für niemanden arbeiten, solange Ihr noch Verbindungen zu Telestrian unterhaltet.«

»Ich sagte doch schon, meine Arbeit für den Konzern ist Geschichte. Ich bin ein freier Agent.«

»Ich wäre glücklicher, wenn das stimmte.«

»Ich weiß nicht, wie ich es dir beweisen soll.«

»Kannst du das denn nicht?«

Andy wußte wirklich nicht, wie. »Nein, kann ich nicht.«

»Wollt Ihr mir nicht ein offenes Portal zu ihren Geheimnissen anbieten? Ihr habt Euch erst vor so kurzer Zeit von Eurem Arbeitgeber getrennt, daß Eure Codes und Protokolle noch nicht alle ungültig sein können. Solch ein Angebot wäre viel mehr wert als das hier.« Der Ebenholzjunge rollte Andy den Kredstab zu.

Andy hatte nicht einmal daran gedacht, solch ein Angebot zu machen. Er hätte es machen können. Zwar waren seine legitimen Codes und Zugänge mit Sicherheit ungültig gemacht worden, sobald sein »Tod« bekannt geworden war, aber er hatte sich ein paar Hintertüren offengelassen. Er konnte immer noch in das System gelangen. »Wenn das der Preis für deine Hilfe ist, läßt sich vielleicht etwas arrangieren. Aber ich werde dir nicht dabei helfen, etwas zu stehlen.«

Der Ebenholzjunge neigte unmerklich den Kopf. »Ich verstehe. Ihr werdet die Tür öffnen, aber darüber hinaus nichts tun, während ich alleine eindringe, um zu rauben und zu plündern.«

»So etwa in der Art.«

»Das ist eine Vereinbarung, mit der ich eine flüchtige Bekanntschaft habe. Und als Gegenleistung verlangt Ihr nichts weiter als Rat? Ein kleiner, unbedeutender Preis. Sagt, welche Art von Rat sucht Ihr?«

Das klang so, als würde ihm Dodger helfen. Der Ausflug in Neils Keller entwickelte sich viel besser, als Andy hatte hoffen können.

»Ich will ein paar Leute treffen«, sagte Andy. »Die Sorte Leute, die ich kennen muß, um auf der Straße zu überleben und ins Geschäft zu kommen. Du weißt schon, die Sorte Leute, mit denen du zusammenarbeiten würdest.«

»Vielleicht genau diejenigen Leute, mit denen ich verkehre?«

»Das wäre Sahne! Wenn es dir recht ist. Ich meine, ich will dir keine Geschäfte wegschnappen, aber, Jesus, die Connections des Dodgers zu haben. Wer hätte das gedacht?«

»Ja, wer. Und sonst nichts?«

Andy konnte kaum glauben, wie entgegenkommend Dodger war.

»Tja...« Ihm spukte noch etwas anderes im Kopf herum. Er war nicht sicher, ob es ihm wirklich gelungen war, seine Spuren vollständig zu verwischen. Wenn jemand entdeckte, daß er seinen Tod nur vorgetäuscht hatte...

»Wenn du mir dabei helfen könntest zu gewährleisten, daß ich ein Schatten bin.«

Der Ebenholzjunge lächelte breit. »Es gibt viele Möglichkeiten, das zu gewährleisten.«

Also doch! »Ich glaube, ich habe alle grundlegenden Dinge erledigt, aber jemand hat einen Wachhund auf mich angesetzt, bevor ich ausgestiegen bin. Ich weiß nicht, wer, will es aber wissen. Ich will ganz sichergehen, daß sie nichts haben, was sie gegen mich benutzen können. Und ich wüßte auch gerne, warum sie überhaupt gesucht und was sie gefunden haben.«

»Alles sehr löbliche Ziele.« Aus den Tiefen seines Mantels zückte der Ebenholzjunge ein Frettchen aus Chrom. »Das ist ein Spürprogramm. Es ist sehr gut darin, Verbindungen aufzuspüren, wenn es auch sehr kurzlebig ist, und darauf abgerichtet, die Hand zu beißen, die sich an ihm zu schaffen macht. Man muß seine Geheimnisse bewahren, wie Ihr gewiß versteht. Ich kann diese edle Bestie darauf ansetzen, alle Dateien aufzuspüren, die mit Euch zu tun haben, darin eingeschlossen alle etwaigen Spuren, die Eure Jäger hinterlassen haben, wenn Ihr die richtigen Source-Codes zur Verfügung stellt. Würde das ausreichen?«

»Klingt toll.« Andy griff über den Tisch, um das Frettchen zu nehmen, doch der Ebenholzjunge gab es ihm nicht.

»Die Codes sind erforderlich, um es abzurichten.«

»Richtig.« Andy gab ihm ein virtuelles Faksimile seines alten Konzern-Identifizierungskennzeichens.

In der Hand Dodgers verwandelte es sich in etwas, das wie Katzenfutter aussah. Er fütterte das Frettchen damit, stellte es auf den Tisch und tätschelte sein Hinterteil. Es hoppelte über den Tisch zu Andy. »Das Frettchen steht bis zum Morgengrauen zu Eurer Verfügung.«

»Sahne!« Andy nahm das Frettchen und öffnete eine Klappe in der Brust des Terminators, um das Tier darin zu verstauen. »Was ist mit den Connections?«

»Zeigt mir zuerst Euer magisches Portal.«

Das war nur fair. Der Dodger hatte ihm bereits geholfen, und jetzt lag es an Andy, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Sie verließen Neils Keller und flogen durch die Matrix zum Telestrian-System. Die Cyber-dyne-Abteilung war eine Eiche aus geschmolzenem Gold, die mit Wurzeln und Ästen am Elektronenhimmel hing. Mit Andy in Führung tauchten sie in das Gewirr der Wurzeln ein. Als sie die richtige Stelle gefunden hatten - sein zweitsicherster Weg hinein -, zeigte Andy dem Dodger die Hintertür. Der Ebenholzjunge blieb stehen, um den Eingang zu begutachten.

»Gute Arbeit.«

Das Kompliment des Dodgers traf ihn unvorbereitet. Von einer der größten Legenden der Matrix gelobt zu werden, war in der Tat ein großes Kompliment! Vielleicht hatte Andy eine Zukunft als Runner.

Aber er mußte ganz eindeutig noch viel lernen. Der Dodger verbrachte viel Zeit in der Tür. Andy hatte damit gerechnet, daß er einfach hineingehen und tun würde, was er im Telestrian-System vorhatte.

»Was machst du?« fragte Andy.

»Ich ergreife Vorsichtsmaßnahmen«, antwortete der Dodger freundschaftlich. »Etwas, das ein kluger Mann sehr oft tut, Meister Cylinder.«

»Das klingt ganz nach einem kostenlosen Rat.«

»Tatsächlich? Wie könnte es ein Rat von mir sein, wenn er kostenlos ist?« Der Ebenholzjunge beendete seine Untersuchving, machte jedoch keine Anstalten, in das Telestrian-System einzudringen.

»Willst du denn nicht hinein?« fragte Andy.

»Nein, ich glaube nicht. Vielleicht ein andermal.« Der Ebenholzjunge trat von der Tür zurück. »Eine letzte Sache, Meister Cylinder. Der Platz, von dem Ihr in unsere gemeinschaftliche Halluzination startet. Ist er sicher?«

»Es ist das Beste, was ich im Augenblick tun kann. Ich habe zusätzlich für Sicherheitsoptionen bezahlt.«

»Bezahlt? Zweifellos mit Euren hervorragenden Kon-zern-Kreds.«

So dumm war Andy nun auch wieder nicht. »Nein. Mit anderem Geld.« Mit dem Geld, was ihm die Runner hinterlassen hatten.

»Das fröhlich Eurem Kredstab innewohnt.«

»Ja.«

»Ach, armer, naiver Meister Cylinder. Welch for-midable Erscheinung und dabei doch so eine zarte reale Präsenz. Elektronisches Geld ist elektronisches Geld, aber sogar Elektronen hinterlassen Spuren für diejenigen mit den Augen, sie zu sehen.« Der Ebenholzjunge zückte eine weiße Karte und schob sie in den Mehrfach-Ziffernmanipulator des Terminators. »Nehmt diese Adresse eines relativ ehrlichen Geldwäschers. Sagt ihm, Ihr sucht eine Anfängerarbeit und erwähnt den Dodger.«

Damit wirbelte der Dodger seinen Mantel herum und wurde zu einer kreisenden Säule aus blitzendem Silber. Die Säule löste sich in einem glitzernden Wirbel von Sternen auf, und als sich die Sterne ausbreiteten und verblaßten, erteilte seine Stimme noch einen letzten, kostenlosen Rat. »Und, bitte, sucht Euch eine bessere Bleibe.«

Nun, da der Dodger verschwunden war, wußte Andy nicht, was er als nächstes tun sollte. Er war zum Telestrian-System gekommen und hatte die Hintertür in der Erwartung geöffnet, den Dodger darin verschwinden zu sehen. Doch statt dessen war nur der Dodger verschwunden. Nun stand er also hier, die Tür war offen, und der Dodger hatte gesagt, daß das Frettchen-Programm nur eine begrenzte Lebensdauer hatte. Konnte es einen besseren Zeitpunkt geben? Schließlich hatte er keine Verabredimg, die er einhalten mußte. Andy glitt in das Telestrian-System und ließ das Frettchen frei.

Das Frettchen führte ihn zu einer ganzen Reihe von Dateien, in denen sein Name vorkam. Da er sich Sorgen machte, weil er ein unbefugter Benutzer im System war, kopierte Andy die Dateien, die er noch nicht kannte, in der Absicht, sie später zu lesen. Sie zu kopieren, war weniger offensichtlich, als sie zu verstümmeln oder zu löschen. Beide Möglichkeiten würden wesentlich deutlichere Spuren hinterlassen, und dieser Run sollte geheim bleiben. Alles lief Sahne, bis das Frettchen eine Datei über eine Sicherheitsverletzung aufstöberte. Die Entdeckung, daß Telestrian ihn mit einer Sicherheitsverletzung in Verbindung brachte, gab Andy zu denken. Eine oberflächliche Betrachtung verriet ihm, daß die Datei nicht leicht zu öffnen sein würde, also kopierte er sie ebenfalls und fuhr fort. Das Frettchen, das eine weitere Spur verfolgte, rannte direkt in die gepanzerten Beine eines schwarzgesichtigen goldenen Ritters. Andy zögerte nicht. Er machte kehrt, floh und überließ es dem Frettchen, den ersten Angriff des schwarzen Ice hinzunehmen.

In seinem heruntergekommenen kleinen Zimmer starrte er keuchend auf das Datenkabel in seiner Hand. Sein Kopf schmerzte, und sein Blickfeld war verschwommen, wobei leuchtende farbige Punkte an den Rändern flimmerten. Er war noch einmal davongekommen.

Natürlich hatte er den Run verdorben, weil er verschwunden war, ohne die Hintertür zu schließen. Diesen Zugang würde er nie wieder benutzen können. Ebensowenig hatte er alle Dateien des Systems über sich zusammengetragen. Das Frettchen war erwischt worden, während es noch auf der Jagd war, aber im Augenblick war ihm das egal. Wichtig war, daß er dem schwarzen Ice entkommen und noch am Leben war, um es ein andermal erneut zu versuchen.

Wenn er es wagte.

Andy war zu aufgedreht, um zu schlafen, und das Licht, das durch die Fenster fiel, zeigte, daß der Morgen angebrochen war. Er probierte es mit dem Kontakt, den ihm der Dodger genannt hatte, konnte jedoch erst für den nächsten Tag ein Treffen vereinbaren. Er verbrachte einen unruhigen Tag damit, die Daten durchzustöbern, die er dem Telestrian-System entnommen hatte, wobei er nach einem Anhaltspunkt suchte, der es ihm ermöglichen würde zu verstehen, was ihm widerfahren war. Als er entdeckte, daß der auf seine Datei angesetzte Wachhund seine Ergebnisse an einen militärischen Briefkasten liefern sollte, sah er ein, daß es zuviel gab, was er nicht wußte. Er brauchte mehr Daten, aber er war erst bereit, wieder auf die Jagd zu gehen, wenn er sich sicherer fühlte. In dieser Nacht bekam er ein wenig mehr Schlaf, aber nicht viel.

Am Morgen machte er sich auf den Weg zu seinem Treffen, froh, etwas Konkretes anzusteuern. Mit dem Schieber zurechtzukommen erwies sich als nicht sonderlich schwierig, besonders nachdem Andy den Dodger erwähnte. Dennoch hätte ihn die Transaktion mehr gekostet, als er sich hätte leisten können, wenn der Dodger das Geld genommen hätte, das Andy ihm angeboten hatte, aber zu Andys Überraschimg hatte der es nicht angerührt. Die Hilfe des berühmten Deckers war umsonst gewesen. Trotz seiner Proteste hatte sich der Dodger als wahrer Ritter erwiesen.

Andy hatte nach Beendigung des Treffens ein gutes Gefühl hinsichtlich seiner Aussichten. Der Schieber hatte Andys Kredstab genommen und ihm eine Handvoll neue gegeben, beglaubigte, sowie einen weiteren unter einer falschen SIN eingerichtet, seiner neuen Identität. Er konnte wieder Metro fahren, eine viel bessere Art, zu seiner Absteige zurückzukommen, als der stinkende, überfüllte, nicht klimatisierte Bus, mit dem er hergefahren war. Am besten war, daß der Schieber gesagt hatte, er hätte vielleicht eine Arbeit für ihn. Andy sollte sich in ein oder zwei Tagen noch einmal melden.

Nun, da sich die mit dem Treffen verbundene Anspannung gelöst hatte, stellte Andy fest, daß er sehr hungrig war. Er lief ein wenig herum und hielt nach einem Laden Ausschau, in dem er etwas essen konnte. Er kannte die Gegend nicht besonders gut, und die ersten Straßen, die er entlangging, hatten kaum Geschäfte oder Läden, nur Wohnhäuser und ein paar umgebaute Bürogebäude. In der nächsten Straße sah er eine vielversprechende Möglichkeit in einem Mehrzweckgebäude. Das Haus enthielt wohl zum größten Teil Büros, aber im Erdgeschoß befanden sich breite Schaufenster, und es sah groß genug aus, um darin ein Delikatessengeschäft oder zumindest einen Stuffer Shack unterzubringen. Von seinem knurrenden Magen getrieben, steuerte er das Haus direkt an und wäre beinahe mit einem Pinkel zusammengestoßen, der aus einer Gasse kam.

»Drek, Junge! Paß doch auf, wo du hingehst«, sagte der Mann.

Andy setzte zu einer automatischen Entschuldigung an und hielt dann stammelnd inne. Junge? Andys Gedanken überschlugen sich. Er kannte diesen Burschen. Oder nicht? Das Gesicht des Mannes kam ihm nicht bekannt vor, und sein Anzug war nichts Besonderes, nur billige Dutzendware von der Stange. Auch nichts Auffallendes an seinen Accessoires. An seinem Kurzhaarschnitt war ebenfalls nichts Bemerkenswertes, aber das Gesicht war eine schroffe, zerklüftete Landschaft, die man kaum vergessen konnte. Und doch hatte Andy es vergessen.

Es vergessen?

Wieherndes Gelächter hallte durch die Straße und erregte Andys Aufmerksamkeit. Ein paar Blocks entfernt schubsten sich ein paar Orks gegenseitig herum und amüsierten sich dabei offenbar köstlich, während sie sich Andy näherten. Sie waren unwichtig. Andy richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Rätsel vor ihn und stellte fest, daß der Bursche weitergegangen war und gerade das Haus betreten wollte.

»Hey, warten Sie mal«, rief Andy.

Der Mann blieb stehen, die Hand auf der Klinke der Eingangstür. »Kenne ich dich, Junge?«

Junge. Ja. Andy kannte diesen abwertenden Tonfall. Ein Name fiel ihm ein: Marksman. »Ja. Ja, das tun Sie. Telestrian Cyberdyne. Letzte Woche. Wir haben uns in einem sehr kleinen Raum getroffen. Was ist los, Marksman, hast du nicht geglaubt, daß ich mich an dich erinnern würde?«

Der Mann starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an. Andy wußte nicht, ob er mit seiner Bemerkimg ins Schwarze getroffen hatte oder nicht.

»Ich heiße Markowitz, nicht Marksman, und ich habe keine Ahnung, wovon du redest, Junge. Und jetzt schwirr ab. Wenn ich du wäre, würde ich zusehen, daß ich von der Straße komme, bevor es zu ungesund wird.«

Der Mann drehte Andy den Rücken zu und ging in das Gebäude. Andy starrte ihm ratlos hinterher und fragte sich, ob er recht hatte oder ob ihm sein Verstand einen Streich spielte. Er merkte erst, daß er in Schwierigkeiten war, als der erste Ork seinen Arm packte. Er hatte kaum begonnen, sich zu wehren, als sie ihn in die Gasse schleiften.