20

»Erwischt«, krähte Spezialist Wallis. Die Bildübertragung seiner Chrysler-Nissan-Angriffsdrohne vom Typ Swatter zeigte eine Menge Rauch und Staub am Boden. Aufgescheuchte Gestalten hasteten hektisch in Dek-kung. Eine tapfere Seele mit dem Barett der Gewis hielt die Stellung und schoß auf die Drohne. Sie verschwand aus dem Bildbereich, als die Drohne abdrehte.

»Das wird dem Wichser für eine Weile das Maul stopfen«, freute sich Wallis. »Ein Jammer, daß wir keine Befehle hatten, ihn zu erledigen.«

»Ihn und alle seine verdammten blaumützigen Gewis«, stimmte ihm jemand anders in der Leitung zu.

Eine weitere Stimme fügte hinzu: »Wie ich höre, grillen und essen sie unten in den Metro-Tunnels die Jungs von der Bundespolizei.«

»Hey, das ist noch gar nichts«, mischte sich Wallis wieder ein. »Wißt ihr, was die Blaumützen mit den Jimgens machen, die sie gefangennehmen? Sie schneiden ihnen die Eier ab, braten sie und verfüttern sie dann an die Jungs. Ich hab' die Feuer gesehen. Die Wichser benutzen Zauber, die verhindern, daß die Jungens sterben, aber die Schmerzen nicht betäuben. Das ist irgendeine Satanskult-Geschichte. Die Komper sind nichts als ein Haufen Teufelsanbeter...«

Angewidert schaltete Tom ab. Er kannte die Geschichten. Jeder mit einem Funken Verstand würde wissen, daß sie reine Erfindungen waren. Sein mußten. Es gab keinen einzigen Bericht, der besagte, daß die Komper es tatsächlich geschafft hätten, Gefangene zu machen. Alle Verluste der Armee waren geklärt. Aber die Männer erzählten sich die Geschichten gegenseitig und schienen sie zu glauben, und es sah nicht so aus, als würden außer Tom noch andere Offiziere versuchen, die Gerüchte zum Verstummen zu bringen. Selbst er konnte nicht ständig dagegen angehen. Wer hatte nach zehn Stunden pausenlosen Einsatzes auf den Straßen noch Energie für diesen Unsinn?

Was glaubten die Männer eigentlich, von wem sie redeten? Dieselben Greueltaten waren während seiner Dienstzeit in Denver den Spezialeinheiten der Sioux, den Wildcats, und der gesamten Armee des Pueblo Council unterstellt worden. Diese Geschichten waren genau derselbe Drek. Tom konnte es nicht verstehen. Schließlich handelte es sich dort draußen auf der Straße nicht um eine ausländische Armee. Es waren Landsleute, eine Menge davon Bürger der UCAS, und die meisten wehrten sich nicht einmal. Sicher, die Kompensationsarmee verfügte über bewaffnete Einheiten und leistete Widerstand, aber wer hatte sie dazu getrieben?

Tom sah sich die Gefangenen an, die Lieutenant Han-leys Zug vor sich her trieb. Die meisten waren Leute von der Straße und Orks, wenngleich alle Metatypen vertreten waren, darunter auch ein schmuddeliger Elf im alten Drillich der US Army. Dieser letzte war mit Sicherheit ein Komper. Alter Drillich war das, was bei der Kompensationsarmee einer Uniform noch am nächsten kam, wenn man die blauen Barette der Gewi-Fraktion nicht berücksichtigte. Aber waren die anderen in diesem Trupp Komper oder nur Unglückliche, über die Hanley bei seiner Hausdurchsuchungsaktion gestolpert war? Wer konnte das wissen?

»Was soll ich mit dem Haufen hier anfangen, Major?« fragte Hanley.

»Stecken Sie die Leute zu den anderen, Lieutenant. Wir haben immer noch nicht genügend Lastwagen, um sie in die Lager zu bringen.«

»Sehr gut, Sir.«

Hanley war ein guter Mann und wesentlich besser für diesen besonderen Job geeignet als sein kommandierender Offizier Captain Lee. Tom schämte sich dafür, aber er konnte sich einfach nicht des Gedankens erwehren, daß es vielleicht gar nicht so schlecht war, daß ein Heckenschütze Lee erwischt hatte.

»Major, ich habe das HQ in der Leitung«, rief Sergeant Jackson aus dem Kommandofahrzeug. Der Sergeant vergaß schon mal, den taktischen Kanal zu benutzen, wenn er aufgeregt war.

»Legen Sie das Gespräch zu mir«, rief Tom zurück.

Die Verbindung war schlecht - die Komper schienen über Störausrüstimg zu verfügen, die die Funkfrequenzen beeinträchtigte -, aber Tom erkannte Colonel Lessems Stimme. Der Einsatzgruppenkommandeur redete schneller als jeder andere Offizier mit Zugang zum Funknetz.

»Captain Black sitzt in der Klemme«, sagte Lessem. »Die Komper setzen ihm schwer zu. Er meldet Kontakt mit einer ganzen Kompanie Gewis mit schwerer Bewaffnung, darunter auch Sturmkanonen und Panzerabwehrraketen.«

Die Gewis waren ohne Zweifel die am besten bewaffneten Komper, aber Blacks Meldung klang mehr nach überaktiver Einbildungskraft als nach Beobachtung. »Fischers Drohnen wurden zu ihrer Unterstützung abkommandiert.« Das wußte Tom. Er selbst hatte sie erst vor zwei Stunden aus der Verteidigung der Langley-Linie abgezogen, um Blacks Team zu unterstützen.

»Beide abgeschossen«, meldete Lessem. »Sie müssen ihn mit Ihrem Team heraushauen. Sofort.«

»Ich warte auf den Abtransport von einigen Dutzend Gefangenen, Sir. Ich kann erst abrücken, wenn sie versorgt sind.«

»Gutes Argument. Wir können es uns nicht leisten, sie wieder frei herumlaufen zu lassen. Kümmern Sie sich um sie. Danach machen Sie sich auf zum Dupont Circle und hauen Black heraus.«

»Was meinen Sie damit, Colonel?«

»Setzen Sie Ihr Team ein, um Blacks Befürchtungen zu zerstreuen. Es ist mir egal, wie Sie das machen, verstanden? Lassen Sie Furlann die Wichser grillen oder schalten Sie sie mit den Drohnen aus oder schicken Sie die Infanterie. Sie haben Lees Kompanie, das dürfte mehr als genug sein. Nur, tun Sie's.«

Stellte sich Lessem absichtlich begriffsstutzig? »Ich meinte, was soll ich mit den Gefangenen machen, Sir?«

»Ich sagte Ihnen doch, Sie sollen sich darum kümmern«, schnauzte Lessem. »Sie wissen, was ich meine.«

Tom wollte, daß er sich sehr, sehr klar ausdrückte. »Ich kann nicht behaupten, daß ich das tue.«

In der Leitung knisterte es leise. Die Verzögerung verriet Tom, daß Lessem die Situation ebensogut verstand wie er.

»Es ist sehr einfach, Major. Sie befinden sich in einer umkämpften Zone, und Feinde halten Sie davon ab, Ihre Pflicht zu tun. Sie haben die Aufgabe, jede aktive Opposition zu eliminieren. Wollen Sie mir etwa sagen, daß Sie Ihre Befehle nicht befolgen?«

Tom wußte, was er zu hm hatte, aber es ängstigte ihn zu Tode, auch wenn er es nicht bis zum bitteren Ende durchzog. Nicht, wenn er nicht mußte. Die Konsequenzen waren weitreichender, als er sich vorzustellen bereit war. »Ich kann nicht tun, was Sie von mir verlangen, Sir. Hiermit protestiere ich offiziell dagegen, daß mir befohlen wird, Gefangene zu töten, und ersuche Sie um eine Zurücknahme des Befehls.«

Lessem antwortete, ohne zu zögern. »Sie haben keine Gefangenen. Sie haben aktive Feinde in Ihrem Gebiet. Eliminieren Sie sie.«

»Wir haben in der Tat Gefangene, Sir. Die Leute in unserer Gewalt haben sich in der Erwartung einer fairen Behandlung ergeben, wie sie von den Genfer, Berner und Santiagoer Konventionen versprochen wird. Laut Kriegskonventionen handelt es sich um Gefangene, denen auch eine entsprechende Behandlung zusteht.«

Eine Weile war nur das Knistern und Rauschen der Leitung zu hören. »Mir ist schon zu Ohren gekommen, daß Sie ein richtiggehender Kasernenhofanwalt sind.«

Nicht die Bezeichnung, die Tom gewählt hätte, aber er erkannte einen illegalen Befehl, wenn er einen bekam. Außerdem war er sich darüber im klaren, daß seine Karriere beendet war, wenn Lessem nicht nachgab. Drek, sie war wahrscheinlich selbst dann vorbei, wenn Lessem nachgab. Sie wußten beide, was geschehen war, und Lessem würde nicht vergessen, daß Tom das Thema wieder zur Sprache bringen konnte.

Tom tat das Richtige, aber das machte es nicht leichter. Sein ganzes Leben hatte er in den Dienst der militärischen Laufbahn gestellt. Und jetzt hatte er eine Linie überschritten, an der eine Laufbahn zerbrechen konnte. Da er der untergebene Offizier war, würde die Laufbahn, die zerbrach, wahrscheinlich seine sein, und zwar ungeachtet der Tatsache, daß er im Recht war.

Im Recht oder nicht, der Colonel hatte offenbar genug von ihm.

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte Lessem und unterbrach die Verbindung.

Tom ging zum Kommandofahrzeug zurück und lehnte sich dagegen. Der Ranger fühlte sich solide an, unbeweglich. Er wünschte, er hätte dasselbe über den Boden unter seinen Füßen sagen können. Er würde sehr bald einen zweiten Anruf bekommen. Zehn Minuten später streckte Furlann den Kopf aus dem Kommandofahrzeug. »Der General will mit Ihnen reden«, sagte sie, indem sie ihr Kopfset abnahm und es Tom reichte.

Nicht über die offene Frequenz. Nicht weiter überraschend. Tom nahm seinen Helm ab und setzte das Kopfset auf. »Major Rocquette.«

»Major, haben Sie irgendwelche Probleme, Ihren Job zu erledigen?« Trahn klang gelassen, als hätte Tom vielleicht Schwierigkeiten ein Computerprogramm zum Laufen zu bekommen.

»Ich kann keinen illegalen Befehlen gehorchen, Sir. Es ist meine beeidete Pflicht, gegen sie zu protestieren und mich ihnen zu widersetzen.«

»Auf welcher Seite stehen Sie, Rocquette?«

Die Mutmaßungen seines Großvaters über Fraktionenbildung innerhalb der Armee kamen ihm wieder in den Sinn. »Das ist keine Frage der Seiten, Sir.«

»Darin irren Sie sich, mein Sohn. Es ist immer eine Frage der Seiten. Sie werden sich in meinem Hauptquartier melden. Bis dahin sind Sie Ihres Kommandos enthoben. Captain Lee wird Ihren Platz einnehmen.«

»Captain Lee ist zur Sani-Station gebracht worden«, sagte Tom. »Die Sanitäter sagen, daß er wahrscheinlich nicht durchkommt.«

»Dann suchen Sie den höchstrangigen Offizier in Ihrer Umgebimg und geben Sie ihn mir.«

Vielleicht wäre Lee doch keine so schlechte Idee gewesen. »Das wäre Captain Furlann.«

»Ausgezeichnet. Ich ziehe jemanden vor, der seine Pflichten keimt.«

Die Spitze ignorierend, gab Tom Furlann das Kopfset zurück. »Jetzt ist es Ihr Problem, Eisherz.«

Sie lächelte kalt, wie es sich für ihren Spitznamen ziemte. »Was kann ich für Sie tun, General?« sagte sie in das Mikro. Den Rest hörte Tom nicht, weil sie wieder in das Kommandofahrzeug stieg. Dort war jetzt nicht mehr sein Platz. Er war seines Kommandos enthoben worden.

Als Furlann ihren Marschbefehl von Trahn entgegengenommen hatte, stieg sie mit Jackson im Schlepptau aus dem Ranger aus.

»Sergeant Jackson, eskortieren Sie den Major zu den Lastwagen«, befahl sie. »Er fährt zum HQ. Auf General Trahns Befehl habe jetzt ich hier das Kommando.«

»Jawohl, Ma'am«, sagte Jackson ohne Zögern.

Der Sergeant brachte Tom zum Lastwagenpark, wo sie versucht hatten, genügend Transportmittel für die Gefangenen aufzutreiben. Es gab nur drei Fahrzeuge, zu wenig für die vielen Dutzend Leute, die sie zusammengetrieben hatten, aber jeder von ihnen bot mehr als genug Platz, um Tom ins Verderben zu befördern. Es gab nur ein Problem - keinen Fahrer.

»Schon gut, Jackson.« Es hatte keinen Sinn wegzulaufen. Man hatte ihm beigebracht, daß man die Konsequenzen seiner Handlungen zu tragen hatte. Er hatte getan, was hatte getan werden müssen, und jetzt... »Ich gehe nirgendwohin, bis der Fahrer kommt.«

»Trotzdem warte ich besser, Major.«

Um sich abzusichern, wie? Tom verstand das. Er konnte Jackson keinen Verwurf machen, nicht den geringsten. Drek, er wäre besser daran, wenn er wie Sergeant Jackson denken würde. Die Gefangenen waren ihm alle fremd. Was war er ihnen schuldig?

»Wenn Sie ein guter Soldat sein wollen, rufen Sie wohl besser Furlann und sagen ihr, daß sie sich um einen Fahrer kümmern muß.«

»Das werde ich tun, Sir.«

Aber jetzt noch nicht?

Das Knattern von Maschinengewehrschüssen hallte von den Gebäuden in der Umgebung des Lastwagen-parks wider. Jackson drehte sich zum Kommandofahrzeug um. Er fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe und schüttelte zögernd den Kopf. Tom schloß die Augen und wünschte sich, er hätte auch seine Ohren verschließen können.

Was hatte sein Protest genützt? Er hatte niemanden gerettet, sondern es lediglich geschafft, sich tief in den Drek zu reiten.

Andy sah zu, wie die Aufklärungsdrohne ihren Rundflug fortsetzte. Er wartete, bis er sicher war, daß ihre Kameras nicht mehr in ihre Richtung wiesen, bevor er das Zeichen gab, über die Straße zu den Barrikaden zu laufen, die die Komper vor dem Eingang zur Metro-Station Rosslyn errichtet hatten. Andy hoffte nur, daß den Kompern die Finger nicht zu locker am Abzug saßen, weil sie zwar nicht wie reguläre Soldaten, aber auch nicht wie Komper aussahen.

Keiner der Männer und Frauen jenseits der Barrikade eröffnete das Feuer. Und auch die Drohne kam nicht zurück, um nachzusehen, was vorging.

»Gutes Timing«, sagte Cinqueda, als sie sich hinter der Barrikade und damit auf dem Gebiet der Kompensationsarmee befanden. Das waren die ersten Worte, die die Straßensamurai an Andy richtete, seitdem sie einfach aus der Dunkelheit getreten war, als er und Kit sich dem Militärkordon um das Rosslyner Stadtzentrum näherten. Kit hatte gelächelt und die Frau namentlich begrüßt, aber sie waren einander nicht vorgestellt worden. Dazu war keine Zeit gewesen, weil, wie Kit festgestellt hatte, die Patrouillen die Schlinge immer enger zusammenzogen und die drei sehr wenig Zeit hatten, um hindurchzukommen, bevor die Gelegenheit vertan war. Die hochgewachsene, schweigsame Samurai machte Andy nervös, aber da Kit ihr zu trauen schien, tat Andy es auch.

Wie Kit Cinqueda kannte, so kannte diese die beiden Komper, die offenbar das Kommando über die besetzte Metro-Station hatten: eine schlanke Vogelscheuche von einem Schwarzen, der ein zerlumptes -T-Shirt mit der Aufschrift »Gebürtiger Washingtoner« unter einer Feldjacke der US Army trug, und ein glubschäugiger Ork, der das Wetter anders als sein Co-Kommandeur zu heiß für auch nur eine Lage Stoff auf der Brust fand, ganz zu schweigen von zwei. Der Ork trug ein blaues Barett und schnitt beim Anblick der Neuankömmlinge eine Grimasse. Der Norm schien sich jedoch ziemlich zu freuen, Kit zu sehen.

»Hoi«, sagte er. »Du siehst gut aus. Hast du Jimmy D vermißt?«

»Nicht mehr als sonst«, antwortete Kit, »will heißen, nicht im geringsten.«

»Sie ist genauso clever, wie du gesagt hast, Jimmy«, sagte der Ork zu seinem niedergeschlagenen Partner.

»Was weißt du schon von Cleverness, du alter Hauer«, sagte Jimmy. »Jeder weiß, daß Orks keinen Grips haben.«

»Ich muß mich für ihn entschuldigen, Ms. Kit. Man hat bei ihm Projektophilie festgestellt. Er sieht seinen eigenen Zustand ständig bei anderen.«

Andy hatte noch nie von Projektophilie gehört, aber Kits Kichern besagte, daß es ein Scherz war. Jimmy Ds vorgetäuschte Miene der Verachtimg war offenbar Teil des Scherzes. Andy nahm an, daß die Dinge nicht ganz so schlecht für die Komper stehen konnten, wenn sie ihren Sinn für Humor noch besaßen.

Die Miene des Orks wurde ernst. »Scherz beiseite, Ms. Kit, ihr habt es gerade noch geschafft. Wir haben einen Zug, der so gut wie fahrbereit ist. Könnte der letzte sein. Vor zwei Tagen hatten wir zum letztenmal Strom auf den Schienen, und die Batterien sind praktisch am Ende. Es könnte eine Fahrt ohne Rückfahrkarte werden, es sei denn, es macht euch nichts aus, durch den Tunnel zurückzulaufen.«

»Es könnte auf jeden Fall eine Fahrt ohne Rückfahrkarte werden«, sagte Jimmy D genauso ernsthaft. »Uns ist zu Ohren gekommen, daß die Soldaten sich darauf vorbereiten, uns auf den Pelz zu rücken. In einer oder zwei Stunden gibt es vielleicht keine Station mehr, zu der ihr zurückkehren könnt.«

»Wenn alles gut läuft, brauchen wir keine Rückfahrt«, sagte Kit.

»Und auch nicht, wenn es schlecht läüft«, fügte Cin-queda hinzu.

Alle kicherten nervös.

»Also gut. Ihr seid alle ganz herzlich zu einer Fahrt mit dem Freien Untergrundexpreß des Volkes eingeladen.«

Der Ork führte sie die lange, lange Rolltreppe in die Tiefen der Rosslyn-Station hinab. Der Bahnsteig war eine irre Kreuzung zwischen einer Krankenhaus-Not-aufnahme und einer Absteige. Die Luft war zum Schneiden dick vom Gestank nach Blut, Erbrochenem, Müll, menschlichen Exkrementen und zu vielen ungewaschenen Leibern. Überall lagen Menschen herum, von denen die meisten an einer oder mehreren Stellen bandagiert waren und viele vor Schmerzen stöhnten oder schrien. Oben war es schon heiß, aber hier unten, wo es hätte kühler sein sollen, neutralisierte die große Anzahl der Anwesenden die natürliche unterirdische Kühle - und noch mehr. Sogar Kit, die bisher in der heißen Sommernacht so munter gewesen war, schien jetzt zu erschlaffen. Was keine Überraschimg war. Die Metro-Station war, praktisch gesehen, eine Jauchegrube.

Sie bestiegen den Zug, der nur aus einem Wagen bestand. Er war weitaus leerer als der Bahnsteig, aber er stank dennoch. Außer ihnen war nur noch ein Dutzend anderer Leute in dem Wagen, die Zwergenfrau vorne an den Kontrollen mitgerechnet. Wie es schien, waren nicht sehr viele Leute daran interessiert, in die Stadt zu fahren. Als die Türen von bereits zugestiegenen Leuten geschlossen wurden, fragte Andy Kit: »Wie hast du sie dazu gebracht, dem hier zuzustimmen?«

»Gefälligkeiten«, sagte sie nur und weigerte sich, weiter über die Angelegenheit zu reden. Andy wollte nicht wissen, welcher Art diese Gefälligkeiten waren. Jimmy Ds Reaktion auf Kit stand ihm noch zu deutlich vor Augen.

Als sie ihren Zielbahnhof, Farragut West, erreichten, wußte Andy nicht, ob sie nicht einfach im Tunnel kehrtgemacht hatten. Der Bahnhof stank ebenso und war genauso überfüllt wie Rosslyn. Nach einem Augenblick fiel ihm ein Unterschied auf, von dem er sich sofort wünschte, ihn übersehen zu haben. Hier gab es mehr Verwundete und Tote.

Andy wartete nicht, bis Kit vorschlug abzuschwirren. Wären nicht all die Leiber im Weg gewesen, wäre er zum Ausgang gerannt. Wie die Dinge lagen, trat er in seiner Hast auf mehrere Leute und hinterließ ein Kielwasser aus Schreien und Flüchen. Er blieb nicht stehen. Das Erklimmen der stillstehenden Rolltreppe war hart, insbesondere deshalb, weil so wenig Sauerstoff in der Luft war, aber Andy tat es mit Freuden. Als er an der Oberfläche auftauchte, kam ihm die heiße, stinkende Sommerluft der Stadt wunderbar frisch vor.

Kit und Cinqueda waren nicht weit hinter ihm. Sie hatten sich weder auf der Fahrt noch im Bahnhof unterhalten, und sie redeten auch jetzt nicht. Kit zeigte die Richtung an, und Cinqueda übernahm die Führung. Sie unterzog sie einem ständigen Wechsel aus Ducken und Vorwärtseilen, der sie irgendwie durch den Kordon brachte, den die Armee um diesen Bahnhof errichtet hatte. Andy sah von Zeit zu Zeit Soldaten, aber keiner von ihnen schien die Runner durch die Schatten huschen zu sehen.

Sobald die Barrikaden vor der Station ein paar Blocks hinter ihnen lagen, übernahm Kit die Führung. So, wie Andy den Plan verstand, benutzte sie irgendeine raffinierte magische Kunst, um Tom auszumachen. Ab und zu blieb sie stehen und neigte den Kopf, als nehme sie eine Witterung auf. Meistens nickte sie und ging weiter, aber zweimal änderte sie die Richtung. Andy wußte nicht, ob das daran lag, daß Tom sich bewegte oder sie den umherstreifenden Komper-Trupps und den Kampfgruppen der Armee und der Polizei ausweichen wollte. Gelegentlich wurden die düsteren Wolken am Himmel vom plötzlichen Aufleuchten einer Lampe oder dem umherirrenden Strahl eines Scheinwerfers erhellt. Er hörte Schüsse, Schreie, Explosionen und Sirenen, aber sie stießen niemals auf eine Ursache dieser Geräusche.

»Ganz in der Nähe«, sagte Kit, als sie sich auf die breite Kreuzung zwischen der Rhode Island Avenue und der Siebzehnten Straße schlichen. Jemand hatte dort drei Militärlastwagen aufgegeben und stehenlassen.

»Schon da«, sagte Cinqueda.

Andy schaute in die Richtung, in die sie sah, und blinzelte. Die Lastwagen waren nicht aufgegeben. Zwei Soldaten standen bei ihnen. Einer trug keinen Helm. Ein Lichtblitz am Himmel beleuchtete sie. Ja, der eine ohne Helm war Tom!

Der behelmte Soldat schaute nach unten und sagte etwas: »Captain Furlann, hier spricht Jackson. Wir haben hier keinen Fahrer. Wollen Sie jemanden zum Lastwagenpark schicken, Ma'am, so daß ich wieder an die Arbeit gehen kann?« Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er zu Tom: »Sie sagt, der Fahrer ist unterwegs, Major.«

Wenn Tom auf einen Fahrer wartete, würde er bald von hier verschwinden. »Dieser andere Bursche ist ein Problem«, sagte Andy. »Wir müssen alleine mit Tom reden.«

»Auf die Schnelle oder auf die Subtile?« fragte Cinqueda.

»Ich weiß nicht, wieviel Zeit wir haben«, sagte Andy.

»Gute Antwort«, sagte Cinqueda und war einen Augenblick später verschwunden.

»Ich wünschte, wir hätten die Zeit, deinen Bruder zu warnen«, sagte Kit. »Er könnte Cinquedas Aktion mißverstehen, und das wäre bedauerlich.«

»Warum? Was hat sie vor?« fragte Andy.

»Du hast schon klügere Fragen gestellt«, sagte Kit. »Warte ab. Und sieh genau hin.«

Es dauerte nicht lange. Andy sah Cinqueda, ein huschendes Schemen, das den Soldat von hinten angriff. Der Soldat merkte erst etwas, als sie ihn berührte, und da war es zu spät. Cinqueda hatte ihn entwaffnet und wie einen Bogen gespannt. Einer ihrer Arme lag um seinen Hals, und die Finger mit den verchromten Nägeln strichen ihm über das Haar. Ihre andere Hand hielt seine Waffe. Sein Helm lag auf dem Boden und drehte sich träge. Einen Augenblick lang begriff Andy nicht, warum sie ihren Angriff unterbrochen hatte, dann sah er, daß Tom seine Pistole gezogen und auf Cinquedas Kopf gerichtet hatte. Auf diese Entfernung würde er sein Ziel nicht verfehlen. Toms Stimme klang tödlich kalt, als er Cinqueda ansprach.

»Wenn er fällt, folgst du ihm, Samurai.«

»Ein Reaktionstest, Soldat?« fragte Cinqueda. Sie lächelte dünn. »Ihr würdet beide verlieren.«

»Nein!« rief Andy, indem er aufsprang und loslief. Sein Schrei zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Besser das, als wenn jemand getötet wurde. Er blieb keuchend ein paar Schritte vor der erstarrten Szenerie stehen. »Niemandem muß etwas geschehen.«

»Gehört diese Messerklaue zu dir?« fragte Tom.

»Ja. Sozusagen.« Es war nicht so, daß Andy tatsächlich das Kommando oder irgend etwas gehabt hätte. Doch Tom schien das anzunehmen.

»Sag' ihr, sie soll Jackson loslassen. Langsam und vorsichtig.«

Andy nickte, kam jedoch zu dem Schluß, daß eine höfliche Anfrage angebrachter war als ein Befehl. »Cin-queda, würdest du den Soldat wohl loslassen?«

Sie reagierte mit einem kaum wahrnehmbaren Achselzucken und einer schemenhaften Bewegung. Der Soldat, der nicht länger gehalten wurde, stolperte vorwärts. Tom korrigierte sein Ziel, aber Cinqueda legte eine Hand gegen den Pistolenlauf. Sie befand sich außerhalb seiner Schußlinie.

»Wie gesagt«, bemerkte sie.

Zögernd steckte Tom seine Pistole ein. »Alles in Ordnimg, Jackson?«

Der Soldat rieb sich den Nacken und erwiderte mit heiserer Stimme: »War schon schlechter dran.«

Kit ging zu Tom und musterte ihn eindringlich. »Sie standen unter Bewachung.«

»Das stimmt. Könnte es sein, daß Sie die vermißte Kit sind?«

»Nicht vermißt, aber Kit stimmt.«

Tom wandte sich an den Soldaten. »Was passiert jetzt, Jackson?«

»Manche Dinge sieht man besser nicht, Major. Ich schätze, Ihr Fahrer ist gerade eingetroffen, also gehe ich jetzt zurück auf meinen Posten, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Ich habe nichts dagegen, Jackson. Danke.«

»Null Problemo, Major.«

»Viel Glück, Jackson. Passen Sie auf sich auf.«

»Tu ich immer, Major.« Jackson nickte Cinqueda kurz zu, bevor er sich bückte, um seinen Helm aufzuheben. Er setzte ihn sich auf, drehte sich um und ging weg.

»Was war hier eigentlich los?« fragte Andy.

»Das willst du gar nicht wissen«, sagte Tom. Der düstere Ausdruck in seinen Augen bestätigte seine Aussage.

»Wir können nicht hier bleiben«, sagte Kit. »Andere werden kommen.«

Cinqueda hob eine Augenbraue und verschwand wieder in der Dunkelheit, während Tom sagte: »Wenn das hier ein Rettungsversuch sein soll, werde ich nicht mitkommen.«

»Wir wußten nicht, daß du gerettet werden mußt«, sagte Andy.

»Muß ich auch nicht«, sagte Tom schroff. »Was willst du denn nun hier?«

»Ich wollte dir ein paar Informationen zukommen lassen. Ich dachte, du könntest vielleicht etwas damit anfangen.«

»Informationen worüber?«

»Telestrian und die Konföderierten.« Andy stöpselte sich in das Lesegerät ein, das er mitgebracht hatte, und kopierte die belastenden Dateien, so daß Tom sie lesen konnte.

»Also arbeitet Telestrian mit den Konföderierten zusammen, und der Gouverneur von North Virginia ist ebenfalls in die Sache verwickelt. Ein paar Dinge ergeben langsam einen Sinn.« Tom erzählte ihnen von Tele-strians Lieferstop für Nachschub und Ausrüstung, mit der die Konfrontation mit der Kompensationsarmee wesentlich unblutiger verlaufen wäre.

Bei Andy fiel der Groschen. »Alles, was Telestrian getan hat, hat die Spannungen verschlimmert, nicht wahr?«

»Sieht so aus«, stimmte Tom zu. »Und indem sie der Armee den Nachschub verweigern, helfen sie mit, aus der unvermeidlichen Konfrontation mit der Kompensationsarmee eine blutige zu machen. Endergebnis: Die UCAS-Regierung sieht schlecht aus, und das zu einer Zeit, in der die Stimmung in North Virginia hohe Wellen gegen die UCAS schlägt. All das ermöglicht Jeffer-son die Behauptung, North Virginia sei mit den Konföderierten Staaten besser bedient.«

»Das hat er schon in den Nachrichten gesagt«, meldete sich Cinqueda zu Wort. Sie hatte sich ihnen wieder angeschlossen, ohne daß Andy ihre Rückkehr bemerkt hatte. Die anderen schienen nicht einmal bemerkt zu haben, daß sie überhaupt verschwunden war. »Als nächstes wird er CAS-Truppen ins Land holen.«

Tom warf ihr einen Blick zu, der Andy verriet, daß sie ins Schwarze getroffen hatte.

»Eine Grenzüberschreitung bedeutet Krieg, nicht?« sagte Kit.

»Die Konföderierten wollen den Krieg nicht mehr als wir«, sagte Tom.

»Aber angesichts der Probleme in Chicago glauben sie vielleicht, daß dies ein guter Zeitpunkt sei, einfach zuzugreifen«, konterte Cinqueda. »Sie haben sowieso immer behauptet, North Virginia und die Gebiete südlich des Potomac gehörten ihnen. Wenn sie erst einmal in dem Gebiet hocken, könnten sie einen legalen Anspruch ableiten, den man ihnen nur schwer streitig machen könnte.«

»Chicago hin oder her, wir werden kämpfen, wenn sie es versuchen«, sagte Tom. »Und während wir uns die Köpfe einschlagen, greifen sich die Azzies Texas, während ihnen die Konföderierten den Rücken drehen. Der Anspruch der Azzies auf Texas reicht noch weiter zurück als der Konföderiertenanspruch auf das alte Virginia.«

»Steele hat nicht den Mumm für einen Kampf«, sagte Cinqueda. »Besonders dann nicht, wenn North Virginia sagt, daß es zum Süden gehören will.«

Tom sah aus, als befürchte er, daß sie recht haben könne. »Ich wünschte nur, ich wüßte, wie Trahn dort hineinpaßt«, sagte er. »Ich weiß, daß er mit den Konzernen auf gutem Fuß steht. Er hat sich, kurz bevor hier der Drek zu dampfen anfing, mit Osborne von Tele-strian Industries Ost getroffen. Er kann nicht mit den Konföderierten zusammenarbeiten. Er kann nichts gewinnen, wenn wir North Virginia verlieren.«

»Und wenn er einen Krieg will?« fragte Andy. »Wenn die Konföderierten Truppen schicken und es einen Krieg gibt, hat er die Möglichkeit, zum Helden zu werden.«

»Er ist längst ein Held, und ein Krieg würde niemandem etwas bringen. Wahrscheinlich weiß er das besser als jeder andere«, sagte Tom.

»Aber du sagtest, er hat mit Telestrian zu tun«, sagte Andy.

»Er hat mit ihnen zu tun, ja, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er in ein Komplott zur Absplitterung von North Virginia verwickelt ist. In ein Komplott, um den Rest Virginias der Union einzugliedern - das würde ich glauben.«

»Aber er ist nicht unschuldig«, beharrte Andy.

»Nein«, sagte Tom traurig. »Nicht unschuldig.«

»Nun, da hast du es«, sagte Andy. »Was Trahn auch vorhat, im Augenblick glaubt jeder außer uns, daß alles ganz natürlich abläuft. Niemand weiß, daß die Konföderierten auf eine Verschärfung hinarbeiten. Niemand weiß, welches Spiel Trahn spielt. Aber wir wissen, daß einiges in den Schatten läuft. Wenn wir alles aufdecken, werden die Leute aufwachen.« Andy glaubte, daß es großartig sein würde, eine Verschwörung der Konföderierten aufzudecken. Sie würden die Helden sein.

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Tom. »Wem willst du dieses Zeug vorlegen, wer würde es nicht ganz tief begraben?«

»Er hat recht«, sagte Cinqueda. »Zu viele Parteien würden sich verbrennen, und wenn es eines gibt, worin die Leute in dieser Stadt gut sind, dann darin, sich abzusichern.«

Andy konnte nicht glauben, daß die Situation hoffnungslos sei. Jemand mußte ehrlich und unbeteiligt genug sein und trotzdem etwas zu gewinnen haben. »Wer ist überhaupt in der Lage, etwas zu unternehmen?« Plötzlich wußte er, wer. »Laßt es uns dem Präsidenten vorlegen.«

»Da gibt es nur ein Problem«, sagte Tom. »Hast du irgendeine Idee, wie du ihm diese Geschichte vorlegen willst?«

»Du bist ein Armeeoffizier, Tom. Du könntest...«

»Ich käme nicht einmal in seine Nähe. Nicht jetzt. Und du würdest auch nicht in seine Nähe kommen.«

Andy war nicht bereit aufzugeben. »Und wenn wir uns direkt an die Öffentlichkeit wenden? Es allen sagen. Wenn alles ausposaunt wird, gibt es keine Möglichkeit mehr zu verheimlichen, was getan worden ist.

Keine Fraktion wird in der Lage sein, die Wahrheit zu unterdrücken. Dann muß irgendwas getan werden.«

»Wie willst du das anstellen?« fragte Tom.

»Ich weiß es nicht«, gab Andy zu.

»Aber Harry wird es wissen«, sagte Kit.

»Wer?« fragte Tom.

»Markowitz!« Andy grinste. »Kit hat recht. Er wird es wissen.«

Sie mußten nur nach Arlington zurück, und wie sich herausstellte, hatte Tom auch eine Idee, wie sie das schaffen konnten.