6

»Yates hat Schwierigkeiten. Irgendwelches Ice hat ihn am Haken.« Rags klang besorgt.

»Sag' ihm, er soll die Kurve kratzen, wenn es sein muß«, sagte Marksman.

»Ich sagte doch, daß uns dieser Dreksack reingeritten hat«, sagte Shamgar. »Wir sollten selbst die Kurve kratzen.«

»Yates ist noch nicht erledigt«, sagte Marksman.

»Das Ice ist schwarz.« Rags' verdrießliche Miene wurde immer düsterer.

Bei seinen Ausflügen ins Shadownet hatte Andy gehört, daß Telestrian schwarzes Ice einsetzte, die Art, die einen unbefugten Decker umbringen konnte. Bisher hatte er es nicht geglaubt. Vieles von dem, was durch das Netz wanderte, war nur Geschwätz. Aber der Troll schien ganz sicher zu sein. Und wenn er recht hatte...

Andy machte es nichts aus, in seinen Shadowrun-Phantasien mit schwarzem Ice herumzuspielen, aber in der Wirklichkeit ängstigte es ihn nicht nur, es machte ihn auch wütend. Er konnte einfach nicht verstehen, wie ein Konzern - oder auch jeder andere, was das betraf - den Einsatz derart tödlicher Kräfte rechtfertigen konnte, nur weil jemand widerrechtlich sein Cyber-Revier betrat.

Wenn Yates sich in schwarzes Ice verstrickt hatte, konnten seine Synapsen gegrillt werden. Warum standen die Runner also herum und debattierten? Ihr Decker war in der Matrix in Schwierigkeiten. Wußten sie denn nicht, wie schnell die Dinge im Cyberspace abliefen? Vielleicht war Yates bereits gegrillt.

»Wollt ihr ihm denn nicht helfen?«

»Wir können nichts tun, Junge«, sagte Marksman. »Keiner von uns ist ein Decker.«

»Ich bin schon gedeckt«, sagte Andy. Hatte er das tatsächlich gesagt?

»Willst du damit sagen, daß du helfen willst?« Marksman klang ein wenig überrascht und sehr mißtrauisch.

»Er wird sich einstöpseln und uns verpfeifen«, sagte Shamgar. »Wir haben die Konzerncops am Arsch, bevor seiner auch nur den Stuhl angewärmt hat.«

»Nein, werde ich nicht«, sagte Andy Wenigstens nicht, bevor er sicher war, daß das schwarze Ice für Yates keine Gefahr mehr war. Und dann war Andy im Telestrian-Netz, und die Runner würden ihn nicht mehr daran hindern können, die Sicherheit zu alarmieren.

»Yates braucht Hilfe«, sagte Rags.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Marksman.

»Ihr könnt doch nicht einfach zusehen, wie er gegrillt wird«, sagte Andy. »Ich meine, ich habe nicht viel Erfahrung, aber vielleicht kann ich irgendwas hm. Ich könnte es wenigstens versuchen.«

»Und dafür sorgen, daß wir alle gegrillt werden«, sagte Shamgar.

»Was ist mit Yates?« fragte Rags.

»Er kannte das Risiko«, sagte Shamgar.

»Das ist nicht sehr loyal«, warf Andy ein.

»Was weißt du schon von Loyalität, Dreksack«, schnauzte Shamgar.

Andy glaubte schon, der Ork wolle ihn anfallen, aber Rags bewegte sich plötzlich und schirmte Andy mit seiner Körperfülle ab. Der Troll betrachtete etwas hinter Andy.

»Können wir ihm trauen?«

»Vertraut ihm«, sagte die Frau. Andy hatte Kit nicht zurückkommen sehen, aber als er den Kopf drehte, saß sie auf einem der Arbeitstische, die langen, hellhäutigen Beine unter sich verschränkt. Sie lächelte ihn an, aber ihre Augen waren weit weg.

»Bist du sicher, Kit?« fragte Marksman.

»Er trägt das Konzern-Brandzeichen, aber er hat kein Konzern-Herz.« Sie zuckte die Achseln. »Das Leben ist nie völlig sicher. Gehört das nicht zum Reiz des Lebens?«

»Also gut, Junge. Wir geben dir eine Chance«, sagte Marksman. Shamgar knurrte, aber Marksman ignorierte ihn. »Wenn du uns hintergehst, wird Shamgar dich kriegen. Solltest du uns die Konzernsicherheit auf den Hals hetzen, kann sie gar nicht so schnell sein, um Shamgar davon abzuhalten, Hackfleisch aus dir zu machen. Du kommst mir nicht so vor, als wärst du bereit, dein Leben für Telestrian Cyberdyne zu opfern. Du hast noch zuviel vor dir. Oder nicht, Junge?«

Andy nickte, weil es einfacher war zuzustimmen. Er war es langsam leid, daß Marksman ihn immer »Junge« nannte, aber jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, sich deswegen zu beschweren.

»Wenn du glaubst, daß du Yates helfen kannst, dann tu es«, sagte Marksman. »Aber vergiß nicht, daß wir zusehen. Wenn irgendwas schiefgeht, weiß Rags sofort Bescheid. Verstanden?«

Andy wußte nicht genau, ob er das glauben sollte, sagte aber dennoch: »Verstanden.«

Während Rags eine Verbindimg zu seinem schwarzen Kasten herstellte, setzte sich Andy auf den Ruhesessel vor einem der Terminals. Er nahm die Abdeckimg von Tastatur und Eingabesuite. Licht glitzerte kalt und fahl auf dem Stecker des Datenkabels, als er die Verbindung aus dem Gehäuse zog.

Das war jetzt echter Shadowrunner-Kram, keine virtuelle Imitation. Er würde gegen schwarzes Ice decken. Hatte er nicht schon immer davon geträumt, das Leben eines Shadowrunners zu führen?

Nun, nein, nicht immer. Er wußte noch, wann ihn die Vorstellung zum erstenmal fasziniert hatte. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen und war ins Sha-downet gedeckt. Dort hatte er von »berühmten« Run-nern wie Sam Verner aus Seattle gehört, der angeblich der erste seit Howling Coyote war, welcher die Kräfte des Großen Geistertanzes geweckt und beherrscht hatte. Die Freiheit und die Macht, die diese Runner genossen, waren ihm verführerisch vorgekommen.

Als Andy erfuhr, daß Verner ebenfalls als Konzern-Lakai begonnen hatte, war er dadurch nur noch mehr inspiriert worden. Wenn Verner sich aus der Konzernwelt befreit hatte und ein Shadowrunner geworden war, dann, davon war er überzeugt, konnte er das auch. Etwa einen Monat danach hatte er Lederklamotten getragen, mit Fransen daran wie in den Mode-Bilddateien der Westküste, und sich eingehend in den Schamanenkram vertieft. Trance-Trommel-Chips, Fetische, Meditations-Chips, Traumfänger, Chips über indianische Legenden. Er hatte sich sogar eine Narcoject-Pistole gekauft, so eine, wie Verner sie angeblich trug. Es war keine echte Narcoject - er konnte sich die Trageerlaubnis nicht leisten, aber wegen seiner Konzernzugehörigkeit durfte er eine nicht funktionierende Kopie tragen -, doch der Kolben mit dem Logo darauf, der aus einem echten Nagalederhalfter ragte, verlieh ihm einen echt coolen Touch.

Wenn er mit seinen Sachen nicht in der Landover- Promenade oder dem Telestrian Plaza Dome herumstolzierte, verbrachte er Stunden alleine in seinem Zimmer, ließ die Chips durchlaufen und öffnete sich dem Universum, um auf Geistervisionen zu warten. Er hatte nie welche. Das einzige, was er bekommen hatte, war ein Haufen dummer Bemerkungen von seinen älteren Schwestern. Schließlich war ihm die Sache so peinlich geworden, daß er die Suche nach den Visionen aufgegeben und sich wieder seinem Studium gewidmet hatte, aber kaum einen Monat später hatte er mit seinen virtuellen Shadowruns begonnen.

Und jetzt saß er vor dem Cyber-Terminal, das er sich ausgesucht hatte, und spielte kein Spiel mehr.

Es war ein Moment der Magie, wenngleich nicht von der Art, wie sie ein Schamane wie Verner wirkte. Andys Magie war die metaphorische Magie des Tech-nomancers. Seine Testergebnisse bewiesen das. Wenn er ein Totem hatte, mußte es der Geist In Der Maschine sein. Die Magie des Riggers, wo ein Mensch eins mit seiner Maschine wurde, war Andys Pfad zur Erleuchtung. Das Wunder des Deckens, wo alles, was man dachte, real wurde. Jedenfalls in virtueller Hinsicht real.

Fast so real wie der Ork, dessen Atem er im Nacken spürte. Andy stöpselte das Datenkabel in seine Buchse und legte die Hände auf die Eingabeoberfläche. Der Augenblick der Wahrheit. Er drückte die Engage-Taste, durchlief rasch das Identifikationsprotokoll, griff auf seine eigenen Matrix-Management-Dateien zu, startete sein Persona-Programm und...

Ein glänzender Robot in Menschengestalt, in Form und Aussehen identisch mit dem ultimativen Terminator T-2050, stand unter dem Elektronenhimmel. Die Schreckensmaschine trug lediglich eine dunkle Lederjacke, auf deren Rücken ein großes neonrotes »C« und eine kleinere hochgestellte neonblaue »3« leuchteten. Ankommende Datenströme brandeten zart gegen den Chromschädel des Terminators, während seine rotleuchtenden Optik-Einheiten den Cyberspace-Horizont absuchten.

Andy schaltete die unheilvoll klingende Musik ab, die jede Bewegung des Terminators begleitete. Trotz des Aussehens seines Icons war er kein Killer-Decker. Dies war kein vorgeblicher Ausflug in die Matrix. Hier und jetzt kam ihm der Audiokram albern vor. Außerdem verbrauchte er Rechenkapazität, die er vielleicht nötig hatte.

Er spürte einen Zug, den er als Richtungsanweisung verstand, die ihm durch Rags' schwarzen Kasten zugeladen wurde. Andy folgte dem Zug und flog wie ein gepanzerter Süperheld auf den Hammensäulen aus seinen Stiefeldüsen über den Himmel der Matrix. Die Landschaft unter ihm wechselte von der normalen schwarzen Leere mit den vereinzelten Lichtern der durch pulsierende Datenströme verbundenen System-Icons zu einem tiefen Violett. Die Lichter behielten ihre charakteristischen Gestalten, aber die Icons waren blasser, trüber, als seien sie von einem schützenden Schleier umgeben. Buchstaben tauchten vor ihm in der Luft auf und bildeten Worte, die an ihm vorbeizogen: »Ihre Freigabe ist unzureichend. Sie laufen Gefahr, eine gesicherte Matrixzone Telestrian Cyberdynes zu verletzen. Kehren Sie um. Andernfalls wird Ihr Eindringen mit tödlichen Mitteln abgewehrt. Sie wurden gewarnt.«

Andy startete seine ausgefuchsteste Schleicher-Rou-tine und hoffte das Beste. Er war ein User des Tele-strian-Systems, und seine Legitimationscodes gaben ihm einen Vorteil, den ein völlig fremder Decker nicht haben würde. Aber reichte das aus?

Es schien so. Nichts kam, um ihn zu verschlingen.

Dem Zug folgend, konzentrierte sich Andy auf einen Datenspeicher. Das war seine Bestimmungsort. Er schlüpfte durch das Tor und sah, daß ein Kampf tobte. Ein Telestrian-Exec rang mit einer Gestalt in einer gol-denen Rüstung, auf deren Brustplatte das Telestrian-Logo gestanzt war. Aus Rags' Eingabe wußte er, daß der Exec nicht echt, sondern schlicht und einfach Yates' Tarnung war. Bis jetzt hatte Andy noch nie so etwas wie das Ritter-Icon gesehen, das wie etwas aus Die Legende von Excalibur aussah, aber er wußte, daß es sich um eine Telestrian-IC handelte. Sich an derselben Ma-trix-Koordinate mit dem Abwehrprogramm zu befinden reichte aus, um dessen Kraft zu spüren - den vollen Mainframe, nahm er an, was bedeutete, daß eine Menge Computer hinter ihm stand.

Das Ritter-Icon trug einen offenen Helm, und die Visage, die sich in der Öffnung zeigte, sah aus, wie aus dunkelstem Onyx gemeißelt, schwarz wie die Nacht, schwarz wie das schwärzeste Ice. Yates und der Ritter rangen mit bloßen Händen miteinander, und es sah so aus, als würde der Ritter den Decker langsam überwältigen. In der Hoffnung, daß er nicht völlig verblödet war, materialisierte Andy das Multiphasen-Impulsgewehr des Terminators und pumpte den Ritter mit Plasma voll.

Andys Angriffsprogramm brachte das Ritter-Icon nicht einmal zum Flackern, aber es bewirkte, daß der Ritter sein dunkles Gesicht in Andys Richtung drehte. Die haßerfüllten Augen des Ritters verhießen Vernichtimg. Andy kam sich sehr, sehr dumm vor.

Doch offenbar war diese Ablenkung alles, was Yates brauchte. Der Decker warf sich gegen den Ritter und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Dann schlug er zu, mit fließenden Bewegungen, die an asiatische Kampfsportarten erinnerten und sein Icon verschwimmen ließen. Andy sah nicht richtig, was geschah, aber in diesem Augenblick war der Ritter noch eine Gefahr und im nächsten taumelte er zurück, wobei sich seine Rüstung auflöste. Die Einzelteile zerbröselten mit allem, was sie enthalten haben mochten, zu dahintreibenden Ascheflocken. Als letztes verschwand der Kopf des Rit-ters, der noch etwas sagen zu wollen schien, während er sich kräuselte und zu Asche zerfiel.

»Zäher Hund.« Yates wandte sich an Andy und betrachtete ihn von oben bis unten. »Danke, Fremder.«

»Null Schweiß«, log Andy. Der Gedanke, gegen das schwarze Ice anzutreten, hatte ihn ganz gewiß ins Schwitzen gebracht. Nicht, daß er es hier in der Matrix bemerkt oder gespürt hätte.

»Hey, du hast einen Identifikationscode von Tele-strian. Wer, zum Teufel, bist du, und warum hast du mir gegen das Ice geholfen?«

Andy konnte den Blick nicht von den flockigen Überresten des Ritters abwenden. »Der Ritter. Er war wirklich schwarzes Ice, nicht wahr?«

»Schwärzer als das Herz eines Konzern-Rechnungsprüfers. Du hast meine Fragen nicht beantwortet.«

»Tut mir leid. Ich werde C-Kubik genannt.«

Das besagte auch das C3 auf seiner Jacke, aber Andy würde weder diesem Decker oder sonst jemandem erzählen, wofür es stand. Niemand brauchte zu wissen, daß es für Crunchers Cybernetic Cub stand, eine Bezeichnimg, die ihm seine Schwester Asa verpaßt hatte, als sich Andy auf seinen ersten Ausflug in die Matrix vorbereitet hatte. Sie hatte den Namen in sein Terminal eingegeben und mit einem Schloß versehen, und als Andy genug gelernt hatte, um das Schloß knacken zu können, hatte er sich längst an den Namen gewöhnt. Seine Reputation in der Matrix mochte nicht so toll sein, aber er wollte eigentlich nicht noch einmal unter einem anderen Namen ganz neu anfangen.

»Das ist eine Antwort, aber sie klärt nicht das Warum.«

»Deine Freunde schicken mich. Rags hat mir geholfen, dich zu finden.«

»Ja? Tja, dann ist es wohl okay. Danke, C.«

Yates streckte die Hand aus, und Andy ergriff sie automatisch. Er spürte einen Schock bei dem Kontakt, und die Matrix verschwamm für eine Nanosekunde. Andy hatte zuvor noch keinen direkten Kontakt in der Matrix erlebt. Das Summen in seinem Kopf, das von der Empfindimg ausgelöst wurde, überraschte ihn ein wenig. Yates lächelte, während er das Multifunktions-glied des Terminators mit festem Griff auf und ab bewegte.

»Ich konnte mir das, weswegen ich hier bin, noch nicht krallen. Da Rags und die anderen dich geschickt haben, willst du mir wahrscheinlich beim Rumschnüffeln helfen.«

Eigentlich nicht. Jemanden vor schwarzem Ice zu retten, war eine Sache, ihm bei einem Datendiebstahl zu helfen, eine andere. »Ich weiß nicht, wonach du suchst.«

»Tja, das weiß ich auch nicht so genau, aber wenn ich es sehe, erkenne ich es. Aber ich glaube, du könntest die Suche verkürzen. Deine Codes besagen, daß du ein Testfahrer bist, richtig?«

»Ja.«

»Kannst du mir zeigen, von wo du startest?«

»Ich glaube schon.« Andy zeigte es ihm. Er wußte, daß er das eigentlich nicht tun sollte, aber im Augenblick schien es das Richtige sein. Yates war kein übler Bursche, und Andy gefiel es immer, wenn er glänzen konnte. Er öffnete den Bereitschaftsraum für die Testfahrer, wenngleich ihn das altmodische Ambiente der ikonografischen Darstellung ein wenig verlegen machte. Der Ort sollte angeblich so aussehen wie das Hauptquartier eines Jägergeschwaders aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, jedenfalls hatte Russ das gesagt. Die Metaphorik der Aktenschränke war LowTech und konnte einen Spitzendecker wie Yates nicht beeindrucken, aber dafür schienen ihn die Mont-joy-Akten um so mehr zu beeindrucken. Yates ging einige Akten durch und verstaute ein paar davon in einer Aktentasche, die plötzlich an seiner Seite auf-tauchte und neben ihm schwebte. Er kam zu Andys Kontrollakte und sah auf.

»Sag' mal, das warst du, der den anderen Prototyp geflogen hat, nicht wahr?«

Andy wurde plötzlich klar, daß Yates der Fremde gewesen sein mußte, den er während seines Montjoy-Testlaufs gejagt hatte, und er sagte nur: »Ja.«

»Nicht schlecht geflogen, C.«

Das Lob ging Andy runter wie Öl. Und warum auch nicht? Yates war ein richtiger Shadowrunner-Decker, und noch dazu ein guter, und Andy hatte es dennoch geschafft, ihn zu beeindrucken. Das war keine geringe Leistung. Es gelang ihm, »Danke« zu stammeln.

Yates stöberte noch etwas in dem virtuellen Raum herum, wobei er sich alle Datenspeicher ansah. Es dauerte eine Weile, aber er verschwendete auch keine Zeit. Mehr als einmal ließ er Akten in der Tasche verschwinden. Andy wußte, daß er gegen den Diebstahl hätte protestieren müssen. Tatsächlich setzte er auch mehrmals dazu an, aber jedesmal, wenn er es tat, machte ihm sein Persona-Programm Schwierigkeiten, und wenn er es wieder unter Kontrolle hatte, war der Drang zu handeln vergangen.

»Zeit zu gehen«, sagte Yates. »Und mach dir keine Sorgen, C. Ich habe die Spuren verwischt, die deine Zugangscodes hinterlassen haben.«

Und das war der Augenblick, in dem Andy die volle Erkenntnis dessen traf, was vorging. Es waren seine Codes, die sie hineingebracht hatten, seine Codes, die mit dem Datendiebstahl in Verbindung gebracht würden. Telestrian würde ihn als den Dieb betrachten.

Und das war auch der Augenblick, in dem der schwarzgesichtige Ritter in goldener Rüstung aus dem Nichts vor ihnen materialisierte.

Dieser Ritter hatte eine kunstvollere, kompliziertere Rüstung als der erste. Der Ritter streckte eine behandschuhte Hand nach Andy aus, eine scheinbar sinnlose Geste, da er weiter als eine Armeslänge von Andy entfernt war. Doch kaum hatte sich die gepanzerte Faust in Bewegimg gesetzt, als ein flammendes Schwert darin erschien und zur Hals-Rumpf-Verbindung des Terminators hochzuckte. Andy war zu langsam, um auszuweichen.

Doch Yates errichtete einen Schild, von dem das Schwert funkensprühend abprallte. Andy taumelte zurück, und der Ritter stürzte sich auf Yates. Der Schild des Deckers war eine wirksame Abwehrwaffe, und das Schwert spie Flammen, als es erneut gegen den Schild prallte. Doch Andy konnte sehen, daß er nicht ewig halten würde. Die Angriffe des Ritters überzogen das Schild-Icon, das Yates' Abwehr repräsentierte, mit einem Spinnennetz feiner Sprünge.

Andy wußte nicht, was er tun konnte. Sein Angriffsprogramm hatte das andere Ice nicht angekratzt, was sollte es ihm dann gegen dieses nützen?

Yates parierte den nächsten Angriff des Ritters - und warf Andy die Aktentasche zu. Ohne nachzudenken, nahm Andy sie.

»Verschwinde von hier, C.«

»Was ist mit dir?«

Der Ritter kam Yates' Antwort zuvor, indem er sein Schwert mit einer Wut gegen den Schild schmetterte, die jegliche Hoffnung zunichte machte, dem Ansturm standhalten zu können. Zwischen den Hieben des Ritters rief Yates: »Geh! Ich decke dich.«

»Aber was ist mit dir?«

»Ich bleibe keine Sekunde länger, als ich muß. Geh!« Der Ritter landete einen neuen Hieb, der Yates ein Grunzen entlockte. Kleine Stücke lösten sich von Yates' Schild und flogen brennend davon.

»Drek, sei keine Schildkröte.«

Yates entriß Andy die Aktentasche und benutzte sie, um Andy damit einen Schlag gegen den Kopf zu verpassen. Der Schock fühlte sich beinahe körperlich an.

Der Cyberspace blinkte plötzlich wie ein Stroboskop und desorientierte Andy. Er schwankte, während er versuchte, seine Matrixverbindung zu stabilisieren, aber er schien nichts tun zu können. Er war gefangen, seine Matrixpräsenz unfokussiert.

Hilflos sah er mit an, wie der Ritter erneut ausholte und Yates' Schild zu einer Million feuriger Splitter zerschlug. Das Schwert sauste weiter und schnitt glatt durch die Schulter des falschen Telestrian-Execs. Der Arm wurde vom Körper abgetrennt und löste sich auf. Yates schrie, als sich schwarzes Feuer entlang der Wunde entzündete, und die Flammen wuchsen, um ihn zu verschlingen.

Der Ritter drehte sich zu Andy um, trat auf ihn zu, hob das Schwert. Andy konnte nichts tun. Er war erstarrt, während die Matrix um ihn flackerte. Sein Verstand flackerte ebenfalls. Dann war er weg, aber doch nicht weg, wirbelte davon, weg von dem Ritter aus schwarzem Ice, und lag keuchend auf seinem Ruhesessel. Er war draußen und nicht draußen, alles zugleich. Nicht mehr in dem virtuellen Bereitschaftsraum, doch immer noch unter dem Elektronenhimmel. Wurde aus den geheimen Orten heraus und durch den offenen Cyberspace geschleudert, vorbei an Kometen und Sternen aus Daten, und gleichzeitig blinzelten fleischliche Augen das Gesicht eines Trolls und eines Menschen an. Flog aus der Matrix heraus und stürzte zurück in seinen schweißbedeckten, schlaffen Körper, in dem er sich doch längst schon befand, obwohl er gleichzeitig wie erstarrt dastand und zusah, wie der lütter sein flammendes Schwert hob. Die Dualität des Erlebens zerrte an seinem Verstand und überwältigte ihn.

Das nächste, was seine Sinne mitbekamen, war eine Bemerkung des Trolls: »Yates hat es erwischt.«

Andys Bewußtsein kehrte langsam zurück und mit ihm das Begreifen, daß er soeben zum erstenmal in seinem Leben den Auswurf-Schock erlebt hatte. Yates mußte irgendeine Kontrolle über Andys Matrixpräsenz ausgeübt haben. Er hatte nicht gewußt, daß so etwas überhaupt möglich war, aber irgendwie hatte Yates ihn von der Matrix getrennt und sein Persona-Programm abstürzen lassen. Andy begriff zwar nicht, wie, aber er war froh, daß er nicht gegen das schwarze Ice hatte antreten müssen.

»Hat er sich das Zeug gekrallt?« fragte Shamgar.

»Er hat es mir gegeben«, hörte sich Andy sagen.

Das zu sagen, war mehr als dumm, auch wenn es stimmte! Aber angeblich waren das die Folgen des Auswurf-Schocks. Er machte einen begriffsstutzig und langsam. Angeblich sollte er auch wieder vergehen. Andy hoffte es. Er fühlte sich wie Drek.

»Auf dem Deck ist nichts«, sagte Rags.

Shamgar fluchte ausgiebig und unflätig.

»Unser neuer Verbündeter besitzt Headware«, sagte Kit.

»Könnte Yates die Daten dort abgeladen haben?« sagte Marksman.

»Vielleicht. Ich habe hier nicht die Mittel, um es herauszufinden«, sagte Rags.

»Und wir haben auch keine Zeit mehr«, fügte Kit hinzu.

»Dann kommt jemand mit uns«, sagte Marksman. »Er ist zu hinüber, um einigermaßen voranzukommen. Du wirst ihn tragen müssen, Rags.«

Andy versuchte zu widersprechen, als der Troll ihn aus dem Ruhesessel hob. Sein Magen schlug auf die harte, knochige Schulter des Trolls, und der Aufprall preßte ihm die Luft aus den Lungen. Er spürte nicht einmal mehr, wie sie ihn ausstöpselten.