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Zehn Stunden reichten nicht, um seinen Verstand von der Belastung der Feldübung zu klären, aber die Natur ließ sich nicht verleugnen, und Tom wachte auf. Anstatt wieder einzudösen, stellte er fest, daß seine Gedanken um die Ereignisse der vergangenen Woche kreisten, angefangen von dem plötzlichen Versetzungsbefehl über das Manöver bis zu der gräßlichen Abschlußbesprechung. Die ganze Geheimhaltung belastete ihn viel zu sehr, als daß er wieder hätte einschlafen können. Und seine kleine Stube war zu erstickend, nicht nur wegen der Tageshitze. Die Wände waren zu beengend.
In der Küche der Offiziersmesse herrschte gerade Pause zwischen Frühstück und Mittagessen, so daß nur die Selbstbedienungstheke als Nahrungsquelle blieb. Tom wußte, was er zu tun hatte. Er ging geradewegs an den widerlichen Protein-Pick-Ups, Frühstücksburritos, kalten Eiern und klebrig-süßen Gebäckstückchen vorbei zur Getränkeabteilung und füllte sich den größten Becher, den er finden konnte, mit schwarzem Soykaf. Der Becher, den er sich ausgesucht hatte, war nicht hitzebeständig, also weichte er durch, und Tom vermied es gerade noch, sich zu verbrennen. Immer noch halb bewußtlos, stellte er verschlafen fest. Er fand einen anderen, diesmal hitzebeständigen Becher und füllte ihn. Koffein war nicht dafür bekannt, die Nachwirkungen zu vieler Hallo-Wachs zu lindern, aber es hatte ihn eine Menge morgendlicher Kater überstehen lassen.
Die Messe war nicht besonders voll, und er sah niemanden, den er kannte. Um so besser. Bekannte hätten Aufmerksamkeit verlangt. Ihm war auch noch nicht danach, neue Freundschaften zu schließen, also suchte er sich einen Tisch, der so weit wie möglich von den Leuten entfernt war. Er entdeckte einen in der Nähe des leeren Büffets und wählte den Platz, von dem er den besten Blick auf den großen Bildschirm der Messe hatte. Den Wortfetzen nach zu urteilen, die er im Gehen aufgeschnappt hatte, lief gerade ein Nachrichtenprogramm - im Augenblick der Wetterbericht, aber wahrscheinlich würden sie danach zumindest die Schlagzeilen wiederholen. Er hatte mehrere Tage lang nicht mitbekommen, was in der Welt vorging, und hatte einigen Nachholbedarf.
Er versuchte seinen trüben Blick auf den Schirm zu konzentrieren. Die Karte im Hintergrund wurde zum größten Teil von einem Burschen verdeckt, der den üblichen Wetterfrosch-Tanz mit haufenweise Armschwenken, Fingerzeigen und Handwedeln aufführte. Sinnlose Mätzchen, dachte Tom. Das ganze Land befand sich im Würgegriff einer erbarmungslosen Hitzewelle. Man mußte kein Hellseher sein, um mehr Hitze und Feuchtigkeit vorauszusagen.
Tom brauchte länger, als es hätte dauern dürfen, um zu bemerken, daß der Bursche auf dem Bildschirm kein Meteorologe und die Karte keine Wetterkarte war. Der Bursche war Johnny Lessee, der Talkshow-Star, und die Karte zeigte den Bundesdistrikt. Lessee ging wieder seine Kompensationsarmeevorhersage-Routine durch. Tom war verärgert. Der alte, abgenutzte Witz darüber, aus welcher Richtimg der Wind wehte, war schon in der ersten Juliwoche langweilig geworden, als die ersten Marschierer, noch keine Armee, in Washington eingetroffen waren. Aber aus irgendeinem Grund klammerte sich Lessee an den Gag und dehnte die untote Routine bis in den August aus. Tom fragte sich, ob sich Lessees Gag-Schreiber unter den Marschierern befanden und dem Star das Material ausgegangen war.
Immerhin besaß Lessee, oder eher seine Leute, soviel Verstand, die Karten auf dem neusten Stand zu halten. Oder nicht? Jedenfalls sah die Karte anders aus, als Tom sie in Erinnerung hatte, aber konnte es wirklich stimmen, daß die Zeltstadt, die ihren Anfang im Tidal-Basin-Park genommen hatte, wirklich so gewachsen war? Lessees Karte zeigte, daß sich das Lager über den Fluß bis nach Arlington und entlang der Mall ausgebreitet hatte, so daß sie gegen die Zentren der Regierungsmacht brandete wie eine Flutwelle.
Hatte er Colonel Malinovskys Bemerkung gestern nacht falsch interpretiert?
Tom tippte seinen Wunsch in die Tischkonsole ein, auf ein echtes Nachrichtenprogramm umzuschalten. Nichts veränderte sich, also mußte die Mehrheit aller in der Messe anwesenden immer noch Lessee bevorzugen. Da er gelernt hatte zu nehmen, was er kriegen konnte, trank er einen Schluck kochendheißen Kaf und schaltete den Ton für seinen Tisch ein. Lessees Stimme setzte laut und heiser ein.
»Also, das ist die ganze Geschichte, Leute. Um mich nicht zu gewählt auszudrücken, die unbewegten Massen heißer Luft auf dem Capitol haben immer noch keine Auswirkung auf die Situation. Eine kleinere, aber nichtsdestoweniger turbulente Luftmasse, die zwischen der Pennsylvania und der Executive Avenue eingeklemmt ist, hat begonnen, sich im Einklang mit den sie umgebenden Luftströmungen zu drehen. Obwohl das für euch erfahrene Wetterberichtsgucker dort draußen keine Überraschung sein dürfte. Der Wind weht aus...«
Tom schaltete den Ton aus. Er hatte vergessen, wie nervtötend Lessees Stimme war, und er wußte genau, daß er auf die Ansichten des albernen Liberalen verzichten konnte.
»Würde mich nicht überraschen, wenn Steele sich diesen verdammten Marschierern anschlösse. Der Kerl ist ein Weichling.«
Tom drehte sich um und sah Olivetti neben sich stehen. Die Zähne des Riggers glänzten in einem breiten Lächeln. Olivetti grüßte mit der rechten Hand, der fleischlichen.
»Was dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
Tom hatte etwas dagegen. Olivetti gehörte nicht zu der Sorte, mit der er sich gerne abgab. Aber es gab Zeiten, in denen es ratsam war, höflich zu sein. »Dies ist ein freies Land.«
»Nicht alles davon«, erwiderte Olivetti.
»Wir sind nicht der Westen ohne den Westen.« Während Tom die traditionelle Antwort gab, hob er seine Tasse, und Olivetti tat es ihm nach, um mit ihm anzustoßen. Durch die Erschütterung kleckerte etwas von Toms Soykaf auf Olivettis Hand. Die dunkle Flüssigkeit perlte von dem glänzenden Metall ab und lief in dünnen Rinnsälen daran herunter.
»Entschuldigung«, sagte Tom automatisch.
»Spielt keine Rolle, Mann«, sagte Olivetti, indem er sich setzte. »Es sei denn, sie sind dazu übergegangen, den Kaf mit Batteriesäure aufzuschütten.« Er stellte seine Tasse ab und schüttelte dann mit einem raschen Schlenker des Handgelenks die letzten Tropfen ab. »Die Sensoren schalten sich im Schadensfall ab und hinterlassen lediglich digitale Updates, informativ, aber nicht schmerzhaft. Schließlich würde ich es erfahren wollen, wenn ich eine Hand verlöre, oder?«
Toms Ansicht nach war der vollständige Verlust einer Hand einem derart offensichtlich mechanischen Ersatzglied vorzuziehen. Was nicht imbedingt die vorherrschende Meinung in gewissen Kreisen war - Kreisen, in denen sich Olivetti offensichtlich bewegte. Es war nicht klug, wenn der Kommandant der Unterstützungsdrohnen seiner Einheit glaubte, daß man ihn für einen perversen Spinner hielt, auch wenn das stimmte. Tom war längst nicht mehr so sicher wie früher, daß Cyber-Er-satzglieder pervers waren - schließlich gab es medizinische Notwendigkeiten -, aber er fühlte sich immer noch unwohl in Gegenwart von Leuten, die sich freiwillig damit ausrüsteten. Er hatte den Verdacht, daß Olivettis Cyber-Verstärkungen nicht medizinisch notwendig waren, aber solange er es nicht mit Sicherheit wußte, wollte er den Mann auch nicht verurteilen.
»Konnten Sie auch nicht schlafen?« fragte er, in der Hoffnung, ein angenehmeres Thema anzuschneiden.
»Schlaf ist nur was fürs Fleisch«, sagte Olivetti, was keine Hilfe war.
»Tja, nun, was man braucht, das braucht man eben.« Tom deutete mit dem Kopf auf den Bildschirm. »Haben Sie Interesse an einem Programmwechsel?«
Olivetti warf einen Blick auf den Schirm, runzelte die Stirn und sah sich dann in der Messe um. Als sich seine Cyberaugen wieder auf Tom richteten, sagte der Rig-ger: »Kann nicht von allzu vielen gewählt worden sein. Was wollten Sie sehen?«
»NewsNet.«
»Gute Wahl.«
Olivetti winkelte sein Handgelenk an. Ein Datenzapfen fuhr aus einem Hohlraum über den Fingerknöcheln aus. Er schob den Zapfen in das Terminal des Tisches, und das Bild änderte sich. Seine Stimme hatte den Ausschlag gegeben. Das Nachrichtenprogramm berichtete über eine Rede, die Präsident Steele vor dem Unternehmerrat für Wissenschaftsförderung gehalten hatte.
»Steele.« Olivetti schüttelte den Kopf und schnaubte verächtlich. »Er hat nur Glück gehabt, daß Adams den Löffel abgegeben hat. Andernfalls würde unser verehrter Oberkommandierender nicht im Oval Office sitzen und an der großen Konzerntitte saugen. Kein denkendes Wesen hätte dem Arschloch je seine Stimme gegeben.«
»Komisch, ich hätte Sie für einen Technokraten gehalten.«
Die kalten Chromaugen betrachteten ihn lange, bevor Olivetti sagte: »Sie waren zu lange bei der Hokuspokus-Truppe. Ich bin seit seiner Gründung im Jahre '32 eingetragenes Mitglied des Technorepublik-Policlubs.« Olivetti tippte sich mit einem Finger gegen den Augapfel, und Metall klickte gegen Metall. »Dem Chrom gehört die Zukunft. Wer sich nicht verchromt, lebt hinterm Mond, und das ist die Wahrheit. Die Zukunft hat bereits begonnen.«
Tom wollte auch nicht über Techno-Philosophie diskutieren. »In der letzten Meinungsumfrage, die ich gelesen habe, war Steeles Beliebtheitsgrad ziemlich hoch.«
»Meinungsumfragen sind nicht das Papier wert, auf dem man sie druckte, wenn sie nicht auf elektronischem Weg gemacht würden. Außerdem - da Steele ein verdammter Technokrat ist, können die elektronischen Umfragen gar nicht anders, als positive Ergebnisse für ihn erbringen. Was mich betrifft, ich bin ebenso fortschrittlich wie jeder Durchschnittsbürger, aber diese Technokraten-Bande? So sicher, wie es einen Gott in der Maschine gibt, werden sie das Land tiefer in den Drek reiten, denn je. Sie waren schon 'Kraten, lange bevor sie Techno wurden, und wie alle guten 'Kraten würden sie nicht mal ihren Hintern ohne Straßenkarte und Führer finden. Drek, ohne einen Ausschuß können sie ja nicht mal die Entscheidung fällen, kacken zu gehen. Und ich bin nicht der einzige, der so denkt, das kann ich Ihnen sagen.«
Tom brauchte es sich nicht erst von Olivetti sagen zu lassen. Auf der Akademie hatte man ihm die Ohren mit antitechnokratischen Ansichten vollgequatscht, und in Denver war es noch schlimmer gewesen. Das meiste kam von Leuten, von denen man es auch erwartete: Ultrakonservativen, Vertriebenen, Humanis-Sympathisanten, der Hokuspokus-Fraktion, Metamenschen und so ungefähr allen anderen, die nicht verchromt waren. Wenn Anhänger der Cyberrevolution wie Olivetti diese Ansichten vertraten, mußten sie allgegenwärtig sein. Tom war, was die technokratische Doktrin anbelangte, nicht auf dem laufenden, aber er fragte sich, ob der einst rationalste Zweig der Demokratischen Partei nicht vielleicht ein wenig vom Weg abgekommen war, nachdem er sich selbständig gemacht hatte.
Steele mochte ein Technokrat sein und vielleicht sogar so unfähig, wie Olivetti andeutete, aber er war immer noch der Präsident, und das bedeutete Tom noch etwas. Olivettis Phrasendrescherei erinnerte Tom an das Geflüster, das er in Denver gehört hatte, Gerüchte über Fraktionen, die den Präsidenten ungeeignet fanden, Fraktionen, die daran interessiert sein mochten, deswegen etwas zu unternehmen. Waren diese Gerüchte vielleicht mehr als nur heiße Luft?
»Steele ist immer noch unser Oberkommandierender«, sagte Tom, nur um zu sehen, wie Olivetti darauf reagieren würde.
»Ja? Nächstes Jahr kriegen wir einen neuen. Vielleicht sogar noch früher, wenn Steele über diese Penner vor seiner Haustür stolpert.«
Nicht über eine Verschwörung? »Sie meinen die Kompensationsarmee?«
Olivetti nickte. »Ein Haufen gefährlicher Unzufriedener. Man sollte sie wie Ungeziefer aus der Stadt jagen. Wenn sie nicht in Frieden gehen wollen, können sie, was mich betrifft, auch mit den Füßen voran rausgetragen werden. Die Welt wäre ohne diese Bettler besser dran.«
In Toms Ohren klang das nach Endlösung oder auch nach dem ›Humanis-Entwurf für ein besseres stärkeres Amerika«. »Ziemlich hart.«
»Ist 'ne harte Welt«, sagte Olivetti scharf. »Ein Mann arbeitet für seinen Lebensunterhalt. Er geht nicht betteln.« Er hieb mit seiner Chromfaust auf den Tisch. »Was es ihn auch kosten mag, oder?«
»Sie verlangen nur, was man ihnen schuldet.«
»Ja? Das behaupten die. Aber wissen Sie, was? Ich glaube, in diesem Fall gibt es noch eine tiefere Wahrheit. Eine, die sie nicht hören wollen. Sie ist ziemlich offensichtlich, aber Leute, die nur die Hand aufhalten und sagen: ›Gebt mir, gebt mir!‹, sehen nur, ›was man ihnen schuldete Ungeziefer! Wir hätten den Westen immer noch, wenn diese Schlappsäcke nicht gekniffen hätten. Worüber beklagen sie sich? Das, was ihnen einmal gehört hat, haben sie nett und friedlich aufgegeben. Aber, hey, wo sie doch alle so nette kleine Kinder sind, warum streicheln Sie ihnen dann nicht einmal übers Haar und schicken sie nach Hause? Es wäre mal ganz gut, wenn ihnen allen der Kopf etwas zurechtgerückt würde.«
Trotz Olivettis bierernstem Vortrag faßte Tom die Bemerkung als Witz auf. Er mußte, weil er andernfalls erwogen hätte, den Mann anzuspucken. Außerdem... »In nächster Zeit werde ich nicht dorthin kommen. Mein Urlaubsantrag ist gerade abgelehnt worden.«
»Unmöglich. Der Enkel des alten General Rock wird nicht nur rumsitzen und Däumchen drehen«, verkündete Olivetti. »Kann gar nicht sein. Privilegien des Dienstrangs und der ganze Drek.«
Tom wollte Olivetti sagen, er solle das Maul halten, aber er sagte nur: »Alle derartigen Privilegien sind die meines Großvaters, nicht meine.«
»Was soll's, Mann? Erinnern Sie sie einfach ein wenig daran, wer Sie sind. Mehr brauchen Sie gar nicht zu tun. Erwähnen Sie einfach den Namen, mehr ist gar nicht nötig. Sie werden sehen, dann sitzen Sie im nächsten Flugzeug.«
Tom hatte plötzlich Olivettis Drillich in seinen geballten Fäusten. »Ich brauche kein wandelndes Ersatzteillager von einem Mann, der mir sagt, wie ich mich zu verhalten habe. Ich habe mir alles selbst verdient, was ich in dieser Armee erreicht habe.«
»Hat nichts zu bedeuten, Mann.« Olivettis Stimme war um eine Oktave gestiegen. »Hat nichts zu bedeuten. Niemand hat je behauptet, Sie wären nicht cool. Cool, Mann.«
Tom konnte sich nicht erinnern, aufgesprungen zu sein, aber offensichtlich war er das. Er ließ die Uniform des Riggers los und trat einen Schritt zurück. Verlegen zog er seinen Stuhl heran und setzte sich wieder. Er griff nach seinem Soykaf, aber der Becher war nicht mehr da. Olivettis Becher stand noch auf dem Tisch, aber in einer sich rasch ausbreitenden schwarzen Lache.
»Das sind die Hallo-Wachs«, sagte Tom.
»Ja, Mann. Die Hallo-Wachs. Genau.« Er lächelte beschwichtigend. »Sehen wir uns einfach die Nachrichten an.«
»Ja, klar.«
»Ja, Mann. Echt cool.«
Aber Tom fiel auf, daß Olivetti ihm im Verlauf der Nachrichtensendung immer wieder Seitenblicke zuwarf.