19
Mit Andys und Markowitz' Verabschiedung aus der Basis waren Toms Sorgen nicht beendet. Das Problem, welches die beiden in seine Obhut befördert hatte, blieb, und die beiden Probleme, was auf den Brücken geschah und was deswegen nicht unternommen wurde, beunruhigten ihn weiterhin. Die Armee verfügte angeblich über Methoden zur Aufruhrbekämpfung, und zwar über nicht tödliche Methoden. Die Anerkennung der Notwendigkeit solcher Methoden war das Resultat der zivilen Unruhen zu Anfang des Jahrhunderts. Frühe Sonderressourcen-Einheiten hatten Geräte und Techniken für die Bewältigung derartiger Probleme getestet und herausgefunden, welche sich für die Übernahme in das Inventar und die Doktrin der Armee eigneten. Tom war ausgebildet worden, ein breites Spektrum technologischer und magischer Mittel einzusetzen, um zivile Unruhen mit minimalen Verlusten unterdrücken zu können. Und er wußte, daß die Truppen zumindest mit dem einen oder anderen Anti-Aufruhr-Techsystem Erfahrimg hatten.
Warum machte man sich dann aber diese Erfahrung nicht zunutze? Warum verließ Trahn sich auf die alte Methode ›Rohe Gewalt‹? Trahn hatte als Grund dafür angegeben, die Armee habe nicht die Ausrüstung und das Material für die technischen Lösungen, und eine Überprüfung der Depots bestätigte, daß die erforderlichen Materialien nicht vorhanden waren. Die Zulieferer hatten nicht geliefert. Im Grunde war es keine Überraschung, daß die Armee nicht hatte, was sie brauchte. So war es viel zu oft während Toms Dienstzeit gewesen. Die Armee hätte nicht auf diese Weise beschnitten werden dürfen, aber die Politiker handelten nicht. Das taten sie nie.
Die Magie hätte Lösungen anbieten müssen, aber Tom hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, dieses Thema Trahn gegenüber anzusprechen. Weder die magischen Fähigkeiten Furlanns noch die der anderen verfügbaren Magier waren auf Aufruhrbekämpfung ausgerichtet. Angeblich konnten sich alle Mitglieder des Thaumaturgischen Korps im Feld anpassen, aber Tom kannte die Zuverlässigkeit magischer Feldadaption -was nichts anderes bedeutete, als daß es nicht ratsam war, auf die Magier zurückzugreifen.
Was konnte man also unternehmen?
Als Sonderressourcen-Offizier war Toms Aufgabenbeschreibung wesentlich weiter und lockerer gefaßt als die der meisten militärischen Spezialeinheiten. In mancherlei Hinsicht hatte er mehr Freiheiten als der militärische Nachrichtendienst. Sein Job zielte darauf ab, die Entwicklung neuer Technologien sowohl im natürlichen als auch im arkanen Bereich zu verfolgen und diese Technologien in konventionellen wie unkonventionellen Umfeldern einzusetzen. Kreativität und Innovation waren die Schlagwörter in SR-Einheiten.
Die Situation in Washington war auf gar keinen Fall konventionell. Und Aufruhrbekämpfung war auch kein konventionelles Einsatzgebiet für die Armee. War es also weit hergeholt zu glauben, daß die Aufgabe, etwas gegen die Schweinerei in der Innenstadt zu unternehmen, einem SR-Offizier zufallen könnte? Wenn der kommandierende Offizier die SR-Einheiten nicht aufforderte, eine Lösung auszuarbeiten, war es das mit Sicherheit. Ob weit hergeholt oder nicht, eine derartige Rechtfertigung mochte ausreichen, wenn die Person, die sich rechtfertigen mußte, Erfolg hatte. Die Armee verlangte nur selten, Erfolge zu rechtfertigen.
In Toms Augen waren es die Vorgänge auf den Straßen, die der Rechtfertigimg bedurften.
Das andere, was der Rechtfertigung bedurfte, war seine Unterlassung, alles zu tun, was ihm einfiel, um die Situation zu verbessern. Unglücklicherweise lag das einzige, was ihm einfiel, außerhalb des Dienstwegs.
Gute Soldaten übergingen den Dienstweg nicht. Nun, es war nicht so, daß er den ganzen Tag lang ein Modellsoldat war.
Unter Benutzung der Funkeinheit in seinem Kommandofahrzeug, schaltete er sich in das lokale Telekommunikationsgitter ein. »Hier spricht Major Roc-quette aus General Trahns Hauptquartier«, sagte er der synthetischen Sekretärin, die seinen Anruf entgegennahm.
Ohne Warnung löste sich das Bild auf dem Schirm auf und wurde von einem Warte-Bild von Telestrian Industries ersetzt. Angenehme Musik unterlegte die schwüle, weibliche Stimme, die sich in den Vorzügen und Tugenden von Telestrian Industries erging. Nach weniger als einer Minute zeigte der Schirm wieder ein echtes Bild: einen feudalen Konzernoffizier mit einem Schreibtisch so groß wie Toms Kommandofahrzeug. Der Exec hinter dem Schreibtisch war der Elf, der gekommen war, um mit dem General zu reden. Zu Toms Überraschung identifizierte die ID-Anzeige den Elf als Stephen Osborne. War das nicht der verdammte Direktor von Telestrian Industries Ost?
»Ja, Major Rocquette«, sagte dgr Elf. »Was kann ich für Sie tun?«
Tom war verunsichert. Er vergaß seine geplante Einleitungsfloskel und improvisierte. »Ich wollte mit jemandem über Telestrians Unterlassimg reden, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen.«
»Ist etwas vorgefallen, von dem ich nichts weiß?« fragte Osborne. Er klang wachsam.
»Ich verstehe Ihre Frage nicht, Mr. Osborne.«
»Was genau ist der Zweck Ihres Anrufs, Major - Rocquette, nicht wahr?«
»Tom Rocquette, Sir, Kommandant des Provisorischen Sonderressourcen-Bataillons 7711. Meine Unterlagen weisen eine Anomalie in unseren Nachschubdepots auf. Ich kann in den Akten keine Empfangsbestätigung für die Lieferung folgender Ausrüstungs- und Nachschubanforderungen finden.« Er zählte eine ganze Reihe von Auftragsnummern auf.
»Telestrian erfüllt immer seine Verpflichtungen, Major. Einen Augenblick, bitte, ich prüfe die Angelegenheit nach.« Osborne zog einen in seinen Schreibtisch eingebauten Computer zu Rate. »Sie haben recht. Wir haben diese Dinge nicht geliefert. Das Material wird zurückgehalten. Ich fürchte, die Regierung ist mit der Bezahlung ihrer Rechnungen zu stark in Rückstand geraten.«
Wie bitte? »Wir befinden uns mitten in einem Notfall! Dieses Material könnte Leben retten!«
»Ich bin mir der Situation bewußt«, sagte Osborne kühl. »Wenn Sie mir Einzelheiten in bezug auf das Interesse an diesem Material nennen könnten, wäre ich vermutlich eine größere Hilfe.«
Nim war es Tom, der vorsichtig war. »Sagen wir, der General zieht alle Möglichkeiten in Betracht. Wir brauchen diese Ausrüstung, Mr. Osborne.«
»Ist der General abkömmlich?«
»Im Augenblick nicht.«
»Ich verstehe. Nun, ich fürchte, ich habe nicht die Befugnis, gegenwärtig Ausrüstung auszuhändigen.«
»Warum nicht? Sie sind doch der Direktor der Gesellschaft, oder nicht?«
»Von Telestrian Industries Ost«, sagte Osborne. »Das macht mich zwar zum hochrangigsten Angestellten Telestrians in Washington, gibt mir aber keine freie Hand. Alle finanziellen Fragen in bezug auf ihr Material werden von Telestrian Industries, unserer Muttergesellschaft, abgewickelt, und der Lieferstop wurde vom Hauptquartier ausgesprochen. Damit steht die Angelegenheit außerhalb meiner Kontrolle. Sie sehen also, daß ich nicht die Befugnisse habe, irgend etwas von dem freizugeben, was Sie anfordern.«
Tom konnte nicht glauben, was er hörte. »Sie behaupten also, daß der aufrechte Konzern Telestrian auf diesem Zeug sitzt, während Leute sterben, denen dieses Schicksal erspart bliebe, wenn Sie lieferten, was wir benötigen.«
Osborne schien nicht im geringsten aus der Fassung zu sein. »Ich fürchte, ich habe mich nicht klar genug ausgedrückt. Telestrian ist sehr besorgt über die Situation in Washington. Aber wie Sie bin ich Regeln unterworfen. Ich bin zwar der Direktor von Telestrian Ost und der hochrangigste Vertreter meines Konzerns in dieser Region, aber ich habe nicht die Befugnis, Anordnungen zu widerrufen, die vom Hauptquartier getroffen werden. Bildlich gesprochen, sind mir die Hände gebunden. Wenn ich nichts Gegenteiliges vom Hauptquartier höre, wird nichts von diesem Material ausgeliefert.«
Tom war damit vertraut, den Schwarzen Peter weiterzureichen. Osborne schien ein Meister in dieser Technik zu sein, aber vielleicht hatte er Tom einen Punkt geliefert, an dem er einhaken konnte. »Sie sagten, sie seien sehr besorgt über die Situation in Washington?«
»Tief besorgt.«
»Und daß Sie etwas tun würden, wenn Sie könnten?«
»Wir sind aufrechte Konzernbürger, Major.«
»Nim, vielleicht müssen Sie das Material gar nicht freigeben, um etwas zu tun.«
Osborne musterte ihn abschätzend. »Was schlagen Sie vor, Major?«
»Ich schlage folgendes vor«, sagte Tom, der Mühe hatte, seine Gedanken so zu ordnen, daß sein Plan ausführbar klingen würde. »Bei zivilen Notfällen können Sicherheitskräfte von Konzernen rekrutiert werden, um die Behörden zu unterstützen. Richtig?«
»Das ist ein Teil der normalen Exterritorialitätsabkommens.«
»Nim, nehmen wir an, Telestrians Sicherheit wird rekrutiert. Und nehmen Sie an, daß das Material, was sich gegenwärtig in den hiesigen Telestrian-Depots befindet, an sie ausgegeben wird. Dann könnte die Tele-strian-Sicherheit dieses Material einsetzen - natürlich mit der Unterstützimg und unter dem Schutz unserer Einheiten. Das würde bedeuten, daß man den Aufrührern mit überwältigenden, aber nicht tödlichen Mitteln begegnen könnte. Wir könnten diese Schlacht gewinnen, und es wäre nicht nötig, den Lieferstop aufzuheben, da das Material in den Händen Telestrians bliebe.«
»Eine faszinierende Beugung der Regeln, Major. Bedauerlicherweise sind unsere Sicherheitskräfte vollkommen damit ausgelastet, die Belange meines Konzerns zu schützen. Ihr Plan würde es unumgänglich machen, unsere Sicherheit auf ein unannehmbar geringes Niveau zu reduzieren.«
»Wenn es keinen Aufruhr gäbe, brauchten Sie kein erhöhtes Maß an Sicherheit. Wichtig ist doch, daß der Aufruhr niederschlagen wird, oder nicht? Damit wäre allen gedient.«
»Telestrian hat natürlich vollstes Verständnis für die Situation.« Osborne sah eher verärgert, denn verständnisvoll aus. »Ich werde die Möglichkeit überprüfen, Ihre Idee in die Tat umzusetzen. Grüßen Sie General Trahn von mir.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Nun, er hatte ins Blaue geschossen. Tom wußte nicht, was er anderes tun sollte, als abzuwarten, ob die Granate einschlug.
Der Bursche, der aus dem hinteren Büro von Eskimo-Neil kam, war der größte Norm, den Andy je gesehen hatte. Es gab Trolle, die kleiner waren. Er stapfte auf sie zu, wobei sein zotteliger Kopf beinahe die Rohre und Leitungen streifte, die einen Teil des Industrie-Looks der Bar ausmachten. Markowitz streckte die Hand aus, und der Mann nahm sie in eine seiner riesigen Pranken.
»Wie geht's, Kumpel?« fragte der Riese mit einer für einen Mann seiner Größe überraschend hohen Stimme. »Muß irgendwas im Busch sein, wenn du bei mir hereinschneist. Ich hörte, dein Büro ist ausgeräumt worden.«
»Stimmt«, gab Markowitz zu. »Aber ich bin noch nicht aus dem Geschäft.«
»Freut mich zu hören. Warst du auf Besichtigungstour?«
Markowitz gab ihm eine rasche Schilderung dessen, was sie von den Lagern der Kompensationsarmee und dem Aufruhr gesehen hatten. Andy hatte das Gefühl, daß dem großen Mann nichts davon neu war, bis Markowitz zu ihrer Begegnimg mit Colonel Jordan kam.
»Dieser Jemal«, sagte der große Mann, indem er den Kopf schüttelte wie eine Mutter, die über ein Kind verzweifelt, das auf die schiefe Bahn geraten ist. »Das kommt davon, wenn man sich in schlechter Gesellschaft bewegt. Wo wir gerade von Gesellschaft reden...«
Markowitz verstand den Wink. »Charlie, das ist der verstorbene Andy Walker. Wir müssen ihm eine Identität verpassen, die er mit etwas Glück diesmal nicht verliert. Außerdem brauchen wir Zugang zu einem Deck und einem Telekom.«
Der Riese kratzte sich den Bart, wobei er Andy mit seinen kühlen grauen Augen musterte. Er warf einen Seitenblick auf Markowitz, der eine Liste von Spezifikationen für die Geräte herunterrasselte, zu denen er Zugang haben wollte. Als Markowitz schließlich die Ansprüche, Wünsche und Forderungen ausgingen, hob der Riese eine Augenbraue. »Ist das Crunchers Junge?«
»Mein Vater hieß Matthew Walker«, meldete sich Andy zu Wort. Es schien ihm eine gute Idee zu sein, diesen Mann weder zu hintergehen noch zu belügen. »Nur seine Freunde nannten ihn Cruncher.«
Der große Mann nickte Markowitz mit seinem zotteligen Kopf zu. »Linda wird sich um euch kümmern. Normale Tarife.« Er schlurfte wieder in sein Büro zurück.
Linda war eine flotte Blondine, die sie durch die Bar führte, wobei sie ihnen die jüngsten Neuigkeiten aus dem Regierungsbezirk erzählte und sich über die Ursprünge des Namens der Bar ausließ. Die Gäste ignorierten sie. Sie hätte eine Hosteß sein können, die sie zu ihrem Tisch führte, doch sie brachte sie nicht zu einem Tisch, sondern führte sie durch eine Tür und eine Treppe hinunter in einen gekachelten Gang mit schlichten grünen Türen. Sie öffnete eine davon, griff hinter die Tür, um einen Lichtschalter zu betätigen und machte ihnen mit fordernd ausgestreckter Hand Platz. Markowitz gab ihr einen Kredstab. Obwohl sie ein Lesegerät am Gürtel hängen hatte, steckte sie den Kredstab ein und ging. Markowitz sagte kein Wort. Er legte Andy lediglich eine Hand auf den Rücken und schob ihn in das kleine Zimmer. Es war nicht viel mehr als eine Zelle mit einem Etagenbett, neben das ein Plastiktisch mit zwei nicht zueinander passenden Stühlen gezwängt war. Eine Toilette und ein Waschbecken füllten den größten Teil des übrigen Platzes aus.
Andy hatte andere Dinge im Kopf. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, flüsterte er: »War das Mr. Cr ick?«
Markowitz lächelte. »Der unvergleichliche, einzigartige Mr. Crick. Schon von ihm gehört?«
Welcher Washingtoner Möchtegern-Runner hatte noch nicht von Mr. Crick und Eskimo Nell gehört? Drek, er hatte den Laden bei seinen virtuellen Shadow-run-Spielen als Operationsbasis benutzt. Der Laden wurde in den Runner-Netzen als einer der primären Treffpunkte für alle diejenigen angepriesen, die im Geschäft waren. Andy hatte sich die Kundschaft angesehen, als sie durch die Bar und das Restaurant gegangen waren, und dabei mit Erstaunen die Mengen an Chrom, Leder und auf kunstvolle Weise eher halbverborgenen Handwaffen zur Kenntnis genommen. Fast jede Person dort hatte wie ein Runner ausgesehen und eine Aura ausgestrahlt, die eindeutig besagte, daß es sich nicht um Möchtegerns handelte. Da war sogar ein Ork, der ein wenig wie Andys virtueller Straßensamurai-Partner Buckhead ausgesehen hatte. Es war unglaublich. Und am unglaublichsten war die Tatsache, daß Andy hier und im Schattengeschäft tätig war. Trotz der Tatsache, daß er in der Cyberspace-Entsprechung von Eskimo Nell dem Dodger begegnet war, hatte er nicht ganz glauben können, daß der echte Laden tatsächlich das war, was man über ihn munkelte. Aber es stimmte. Und er war hier. Es war eindrucksvoll!
Aber irgend etwas an dem Laden störte ihn. Abgesehen, natürlich, von dem Qualm oben, der ihn husten ließ. Wenn er den Laden kannte, dann kannten ihn mit Sicherheit auch eine Menge anderer Leute. Das sagte er auch zu Markowitz.
»Hast du jemals von einem Laden im Wilden Westen gehört, der Das Loch in der Wand hieß?« fragte Markowitz.
»Nein.«
»Der Laden wurde von Runnern und anderen Gesetzlosen des neunzehnten Jahrhunderts als Versteck benutzt. Ein Haufen Leute wußte darüber Bescheid, wenigstens allgemein, aber die Gesetzeshüter haben ihn nie auseinandergenommen - weil es zuviel Ärger gemacht hätte. Der mögliche Gewinn war es nicht wert, und das Gesetz mag es nicht, wenn es sich den Arsch umsonst aufreißt. Schlimmer, das Gesetz mag es nicht, wenn ihm der Arsch für das aufgerissen wird, was es tut.
Tja, damals im Jahre '44, kurz nachdem Nell geöffnet hatte, wollte man Mr. Crick aus dem Verkehr ziehen. Aber das Gesetz stieß in ein Hornissennest und konnte nicht viel machen, weil es einen Stich in den Hintern bekam, wenn es sich in die eine Richtung drehte, und wenn es sich wieder umdrehte, war der Störenfried längst wieder verschwunden. Das Gesetz mag es nicht, wenn sein Leben ungemütlich ist. Es hat seine Lektion gelernt und ist wieder zu Doughnuts und Soykaf zurückgekehrt, sieht in die andere Richtung und lebt und läßt leben. Es schadet auch nicht, daß Mr. Crick hin und wieder ein Dutzend Doughnuts spendiert. Dieser Laden ist das Loch in der Wand der Gesellschaft, Junge. Sei dankbar, daß es uns hier zum Hindurchspringen zur Verfügung steht.«
»Das bin ich.«
»Gut«, sagte Markowitz abwesend, während er die Geräte untersuchte, die auf dem Tisch in der Mitte des kleinen Zimmers standen. Andy hatte nur Augen für das Cyberdeck. Es hatte ein Fuchi-Cyber-6-Gehäuse, aber ob es mit der Kapazität und Software ausgerüstet war, die Markowitz verlangt hatte, mußte noch überprüft werden. Andy kümmerte sich darum, während Markowitz das Telekom benutzte.
Das Cyberdeck war ausgefallener als alles, was Andy je benutzt hatte, viel anspruchsvoller als sein Deck, das von den Soldaten konfisziert worden war. Die Modifikationen, die er sich hatte leisten und zusammenschustern können, sahen neben diesem hochgezüchteten Beispiel technologischer Raffinesse primitiv aus. Die Kraft der Utilities war beeindruckend. Und das Master-Persona-Kontrollprogramm - ein Traum! »Mit diesem Gerät könnte man bei Renraku oder sogar bei Fuchi einbrechen.«
»Das steht heute nicht auf der Liste, Junge. Tu nur das, was wir besprochen haben, und fang mit der Arbeit an diesen Dateien an.«
Es war ein Schande, diese Sahne-Hardware nicht dazu zu benutzen, in der Matrix zu surfen, aber Andy begriff die Notwendigkeit dessen, sich zuerst um die Angelegenheiten zu Hause zu kümmern. Er stöpselte sich ein und kopierte die Dateien aus seiner Headware in den Speicher des Cyberdecks. Mit Kopien zu arbeiten schützte die Originale, falls etwas mit den Daten geschah, während er sie zu knacken versuchte. Nachdem er die Dateien aus seiner Headware ausgelagert hatte, fühlte er sich, als habe er eine Grippe überstanden und sei endlich wieder in der Lage, frei zu atmen. Er wußte, daß sich der Platz in seinem Schädel nicht verändert hatte, aber es fühlte sich so an. Die Icons der Dateien funkelten vor seinen virtuellen Augen und ließen ihm die Wahl zwischen den Dateien, die er selbst aus der Telestrian-Matrix geholt hatte, und den Kopien jener Dateien, die Yates in Andys Headware gestopft hatte. Sie waren alle verschlüsselt, und keine schien leichter zugänglich zu sein als die anderen. Er suchte aufs Geratewohl eine aus, startete seine Entschlüsselungssoftware und machte sich an den Versuch, die Schutzhüllen der Dateien zu knacken.
Als Andy sich ausstöpselte, um eine Pause zu machen, sah er, daß Markowitz auf seinem Stuhl zusammengesunken war und den leeren Telekomschirm über die Finger seiner verschränkten Hände hinweg anstarrte. Er sah aus, als habe gerade jemand seinen Schoßhund verprügelt.
»Was'n los?« fragte Andy.
»Beatty hat's erwischt.«
Andy kam sich wie Drek vor, weil er derart frivole Dinge über Markowitz' Miene gedacht hatte. »Wie?«
»Auf dieselbe Art, wie es Shamgar fast erwischt hätte. Ich schätze, irgendwie ist das 'ne Reklame für Cyber-Verstärkungen. Shamgar hat sich die beiden Muskelmänner vorgenommen, die ihn verfolgt haben. Die beiden liegen als tinidentifizierte Personen im Fair-fax-Krarikenhaus, aber unser verchromter Freund erfreut sich bester Gesundheit. Wenn es nach ihm geht, wird sich daran auch nichts ändern. Anscheinend schiebt er einen Urlaub ein, um einen Cousin in Seattle zu besuchen.«
Die beiden Orks waren bei Markowitz' Run gegen Telestrian für die Muskelarbeit zuständig gewesen. Jemand nahm mehr aufs Korn als nur Markowitz, was bedeutete, daß sie alle in Gefahr waren. »Irgendeine Nachricht von Kit?«
»Mit Kit ist alles okay, jedenfalls war es das noch vor zwei Stunden. Ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen, daß sie herkommen soll.«
Das war gut, oder nicht? Aber zwei Stunden waren eine lange Zeit, in der viel passieren konnte.
»Mit Rags ist auch alles okay«, sagte Markowitz, was Andy daran erinnerte, daß das Runner-Team noch ein Mitglied hatte. Andy kam sich schon wieder mies vor. Irgendwie mochte er den Troll. Es kam ihm nicht richtig vor, daß er ihn vergessen hatte, auch wenn er sich Sorgen um Kit machte. »Er ist schon im Urlaub und hat die Stadt verlassen, bevor der Drek zu dampfen anfing. Ich habe ihm eine Nachricht zukommen lassen, daß er sich bedeckt halten soll, bis das hier vorbei ist.«
»Also sind wir auf uns allein gestellt?«
Markowitz nickte. »Das ist die schlechte Nachricht.«
Sie drei - vorausgesetzt, Kit schaffte es - gegen den Konföderierten Geheimdienst. Das war in der Tat eine schlechte Nachricht. »Gibt es auch eine gute Nachricht?«
»Das hängt davon ab, wie man die Sache betrachtet. So, wie ich es sehe, wissen die bösen Jimgens nicht über uns Bescheid. Sie mögen Namen und Zahlen haben, aber sie wissen nichts Genaues. Wäre es anders, hätten sie mehr Leute auf Shamgar angesetzt. Was bedeutet, daß wir sie immer noch überraschen können. Wenigstens könnten wir das, wenn wir wüßten, wen es zu überraschen gilt.«
»Das ist die gute Nachricht?«
»In diesem Geschäft nimmt man, was man kriegen kann.« Markowitz zuckte die Achseln. »Wo wir gerade dabei sind. Hast du schon irgendwas aus den Daten herausgeholt, das wir benutzen können?«
Er hatte nicht, was der Grund dafür war, daß er sich für eine Weile ausgestöpselt hatte. »Das Entschlüsselungsprogramm hält sich immer noch ran. Es ist gut, aber derjenige, der die Daten verschlüsselt hat, ist es auch.«
Markowitz hieb mit der Faust auf den Tisch. »Verdammt noch mal, ich hasse es, wenn ich nur Nebelfetzen habe, mit denen ich arbeiten kann! Wo ist der Zusammenhang?«
»Wissen wir überhaupt, daß alles zusammenhängt?«
»Du machst Witze, oder?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Paß auf, Junge. So kompliziert manche dieser Schattenkomplotte auch sind, es ist tatsächlich viel einfacher, wenn es einen Zusammenhang gibt. Natürlich gibt es Zufälle, aber sie als Erklärung herzunehmen bringt einen früh ins Grab wie Beatty. Wenn ich früher dahintergekommen wäre, würde er vielleicht noch leben. Es gibt mehr als einen Grund dafür, daß wir auf dem Me-dikamenten-Run soviel Ärger hatten, und es gab auch mehr als einen Grund dafür, Sammy Locksley zu gee-ken. Es ist nicht so, als hätte sich keiner von uns Feinde gemacht. Aber es gibt einen Zusammenhang. Wenn ich das früher erkannt hätte...«
Andy sah nicht, wie Markowitz sich die Schuld dafür geben konnte, was Beatty und der Riggerin zugestoßen war. »Woher hättest du es wissen sollen?«
»Spielt das eine Rolle? Jetzt ist es offensichtlich. Beatty hat es ungefähr zu dem Zeitpunkt erwischt, als Shamgar unter Druck geriet. Gleichzeitig ist mein Büro verwüstet worden. Das war ein koordiniertes Unternehmen. Sammy war nur der erste Streich. Das sind echt böse Jungens, die hinter uns her sind.«
»Schade, daß wir nicht wissen, wer es ist. Dann könnten wir vielleicht einen Handel abschließen.«
»Manchmal kann man handeln, aber dann braucht man etwas, womit man handeln kann. Wir stochern immer noch im Nebel herum.«
»Ja.« Das war echt schauerlich. Virtuelle Runs waren viel sauberer. Und vor allem viel sicherer. Andy kam zu dem Schluß, daß es ihm nicht gefiel, wenn Leute hinter ihm her waren, die ihn umbringen wollten. »Wir wissen nicht mal, wer hinter uns her ist.«
»Wir haben ein paar Anhaltspunkte und brauchen ihnen nur zu folgen. Unter Berücksichtigung dessen, was Kit uns über die Kerle erzählt hat, die in meinem Büro waren, würde ich sagen, wir haben es mit einer Geheimdiensteinheit der Konföderierten zu tun. Ferrets von der Marine oder vielleicht auch Agenten der SIA wären genau richtig für so ein Stoßtruppunternehmen, aber der Stil erinnert mehr an die Spionageläden.«
»Ein kombiniertes Unternehmen?« schlug Andy vor.
»Sie haben mehr oder weniger dieselben Bosse, aber zusammenarbeiten? Eher würden Katzen und Hunde zusammen auf die Jagd gehen.« Markowitz schüttelte den Kopf, um dann plötzlich innezuhalten. Seine Miene wurde nachdenklich. »Aber, weißt du, vielleicht ist der Gedanke gar nicht so dumm. Der Zeitplan für die Anschläge war echt straff. Ein wenig zu straff für einen von beiden Vereinen, insbesondere für ein Auslandsunternehmen.«
»Aber wenn sie diejenigen waren, die Sammy Lock-ley erwischt haben, warum haben sie sich da nicht gleich das ganze Team vorgenommen?«
»Gute Frage.« Markowitz runzelte die Stirn. »Es muß eine Schattenverbindung geben. Telestrian muß irgendein Interesse daran haben - abgesehen von den üblichen Besitzerüberlegungen in bezug auf gestohlene Daten.«
So etwas von Telestrian anzunehmen, kam Andy ein wenig paranoid vor. »Wie kommst du darauf?«
»Gar nicht. Es ist eine meiner Eingebungen, okay? Tu mir einen Gefallen und bearbeite diese Dateien mit ›CAS‹ und ›Konföderierte‹ als Suchcodes. Versuch es auch mit ›Richmond‹ und ›Atlanta‹.«
Suchcodes boten der Entschlüsselungssoftware Festbegriffe, mit denen sie mögliche Datenkombinationen vergleichen konnten. Eine ausreichende Anzahl derartiger Schlüsselbegriffe konnte den Hebel liefern, der nötig war, um eine Verschlüsselung zu knacken. Andy war es immer merkwürdig vorgekommen, daß man wissen mußte, worum sich etwas drehte, um herauszufinden, worum sich dieses Etwas drehte, aber die Benutzung von Suchcodes konnte die Entschlüsselungszeiten auf Bruchteile dessen reduzieren, was sie sonst waren.
Andy versuchte es, und als er sah, daß Markowitz' Vorschläge zu etwas zu führen schienen, wechselte er von vollem Matrix-Interface auf User-Interface, um einen besseren Kontakt zu seiner Umgebung zu haben. Er zeigte auf Daten, die über den Schirm des Cyberdecks huschten. Es handelte sich um eine der Montjoy-Dateien, die Yates gestohlen hatte. »Sieh mal. Da und da. Das sind finanzielle Transaktionen, Geldüberweisungen, aber sie durchlaufen eine Menge unnötiger Stationen, als habe jemand versucht, Geld zu waschen. Wenn man die Überweisungen zurückverfolgt, hat es den Anschein, als stamme ein wesentlicher Teil der Finanzierimg für das Montjoy-Projekt aus CAS-Verträ-gen.«
»Ja, ich verstehe. Vielleicht ist das der Grund, warum sich die Armee dafür interessiert hat.«
Eine weitere Datei enthielt einen Vertrag mit einem nicht näher benannten »Vertragspartner« hinsichtlich des kybernetischen Steuersystems für den Montjoy. Der Vertrag enthielt eine Klausel, die Vertraulichkeit unter Androhung enormer finanzieller Einbußen zur Bedingung machte. »Den Konföderierten würde es nicht gefallen, wenn man ihnen ihre Geheimnisse stiehlt, aber wenn Telestrian die Geheimhaltungsklausel nicht einhalten kann, verliert der Konzern einen Haufen Geld. Also war es vielleicht gar nicht die Armee, die hinter euch her war, vielleicht waren es nicht einmal die Konföderierten. Es könnte auch Telestrian gewesen sein. Wäre es nicht logisch, wenn sie versuchen würden, jedem auf die Finger zu klopfen, der ihnen das Mont-joy-Projekt stiehlt?«
Markowitz schüttelte den Kopf. »Datendiebstähle kommen andauernd vor. Man geekt nicht jeden, der einem die Brieftasche klaut. Drek, selbst die Azzies sind nicht so verrückt aufs Geeken. Geschäft ist Geschäft, und diese Nichteinhaltungsklauseln können normalerweise ohnehin nicht gerichtlich durchgesetzt werden. Weil es nie die Schuld des kompromittierten Konzerns ist, das ist doch klar. Es muß so sein, sonst gäbe es keine Geschäfte.«
»Also glaubst du immer noch, daß die Armee hinter uns her war?«
»Hinter mir und dem Team«, korrigierte Markowitz.
»Was ist mit den Orks, die mich zusammengeschlagen haben? Irgend jemand hat sie mir auf den Hals gehetzt. Irgend jemand ist auch hinter mir her.« Andy schüttelte das Armband, das Markowitz ihm vor ihrem Run in der Concordia umgelegt hatte. »Du glaubtest, es sei nur ein Vorwand, um mir dein Vertrauen zu erschleichen.«
»Dafür warst du zu schlimm zugerichtet«, sagte Markowitz.
»Das ist aber nicht das, was du...«
»Ich weiß, was ich gesagt habe«, schnauzte Markowitz. »So ein Job ist keine ganz unübliche Konzernreaktion auf einen Ausreißer, der zuviel weiß. Manchmal wollen sie dem Ausreißer Angst einjagen, damit er wieder in den Schoß der Konzernfamilie zurückkehrt, manchmal wollen sie auch einfach nur die Akte schließen. Da du ›tot‹ warst, war es vermutlich letzteres. Wenn diese Sache mit den anderen in direktem Zusammenhang gestanden hätte, hätte man mich bei der Gelegenheit auch angegriffen.«
Markowitz schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. »Vielleicht wärst du als nächster dran gewesen, und die Soldaten haben sie nur vorher verjagt.«
»Orks von der Straße und Killerkommandos der Konföderierten, die zusammenarbeiten? Glaube ich nicht. Jemand bei Telestrian wollte, daß du dich endgültig verabschiedest, das ist alles.«
»Wenn du das die ganze Zeit geglaubt hast, warum hast du mir dann den Sprengstoff umgehängt?« Andy hielt den Arm mit dem Armreif hoch.
»Es gibt keinen Sprengstoff.«
»Aber du sagtest doch...«
»Ich weiß, was ich gesagt habe. Es wird dir nicht weh tun, okay? Also vergiß es einfach.«
»Aber...«
Markowitz ergriff seinen Arm und riß den Armreif ab. Andy zuckte zusammen, doch nichts geschah. Keine Explosion. Markowitz warf den Armreif auf den Boden.
»Da. Siehst du? Kein Sprengstoff.« Markowitz seufzte. »Schalt deinen Verstand wieder ein, Junge. Wir haben andere, wichtigere Probleme.«
Andy starrte den Armreif an. Kein Sprengstoff?
»Die Armee hatte mich auf ihrer Fahndungsliste«, überlegte Markowitz. »Aber das ergibt keinen Sinn.«
Andy sah nicht ganz, warum. »Du hast mich davon überzeugt, daß sie uns mit dem Yellowjacket gezielt aufgelauert haben. Falls du recht hast mit deiner Theorie von den simplen Verschwörungen, müssen sie diejenigen gewesen sein, die dein Büro ausgeräumt haben, Beatty und Sammy erwischt haben und Shamgar an den Kragen wollten.«
»Du vergißt, was Kit uns über sie erzählt hat: daß sie Ausländer waren und auch wieder nicht.«
»Das verwirrt mich langsam.«
»Ohne Drek, Junge. Es ist eine verwirrende Situation.«
»Augenblick mal. Wenn die Armee deinen Tod will, warum hat dich Colonel Jordan dann gehen lassen? Wenn er über den Datendiebstahl Bescheid wüßte, hätte er allen Grund gehabt, dich festzuhalten. Toms Argument hinsichtlich deines Verhörs wäre nicht stichhaltig gewesen.«
»Ja, das ist mir auch sofort aufgefallen. Der Run gegen Telestrian hat uns in viel mehr verwickelt als nur das Montjoy-Projekt.«
»Wie zum Beispiel?«
»Sehe ich wie Sherlock Holmes aus? Ich blicke noch nicht durch. Laß uns noch einen Blick auf deine Dateien werfen. Wir haben noch nicht alle entschlüsselt.«
Andy sah sich die letzten Ergebnisse an. Sie hatten weitere Fragmente, die aber immer noch kein sinnvolles Ganzes ergaben.
»Gib noch ein paar Suchcodes ein«, sagte Markowitz.
»Wie es aussieht, sind die Grenzen meines aktiven Speichers erreicht.«
»Dann aktiviere zusätzlichen Speicher. Mr. Crick wird die Ressourcen vorstrecken. Tu es einfach.«
»Okay.« Andy tat es. Es waren nicht seine Kreds, die hier durch den Schornstein gejagt wurden. »Welche Codes?«
»›North Virginia‹ und ›Fredericksburg‹.« Markowitz nickte feierlich, als die Entschlüsselungssoftware in sich hinein kicherte, während das Deck die neuen Eingaben durchkaute. »Der String da. Versuch es mit ›Jefferson‹«, schlug Markowitz vor.
Wie die anderen Wörter, die Markowitz vorgeschlagen hatte, war Jefferson ein Name, der schon seit langem mit Virginia assoziiert wurde, aber Andy sah keinen Zusammenhang. Alles drehte sich um Virginia, aber warum? Und wie würde ihnen das helfen? Er gab den Namen ein.
Die Software verdaute die neue Anweisung und spie praktisch augenblicklich einen neuen, umfassenderen Text aus. Dreißig Prozent der Datei, in denen es hauptsächlich um finanzielle Dinge ging, waren noch verschlüsselt, aber für die Textteile war die Software mittlerweile bei einer Übereinstimmungswahrscheinlichkeit von neunzig Prozent angelangt. Das bedeutete, daß Hunderte von Seiten theoretisch entschlüsselter Information darauf warteten, gelesen und interpretiert zu werden. Andy überspielte für Markowitz eine Kopie auf das Telekom und stöpselte sich ein, um seine eigenen Nachforschungen zu betreiben. Schließlich drang ein Rütteln an seinem physischen Körper in sein Bewußtsein. Er zog sich aus der Matrix zurück und stöpselte sich aus.
Mittlerweile hatte sich Kit zu ihnen gesellt, deren Erlebnisse ihrem Aussehen in keiner Weise geschadet hatten. Andy war froh, sie bei ihnen und in Sicherheit zu sehen. Er war außerdem froh, das Essen auf dem Tisch zu sehen: ein Teller mit Käse und Salat und eine Schüssel mit fritierten, panierten Bällchen mit irgendwas, die von kleineren Schälchen mit Soßen umgeben war. Sein Magen knurrte.
»Iß, dann reden wir«, sagte Markowitz mit vollem Mund. Er wartete jedoch nicht, sondern wiederholte für Kit ihre Spekulationen, während er in sich hineinschaufelte. Sie knabberte an einem der panierten Bällchen, während sie ihm mit einer Miene gespannter Aufmerksamkeit zuhörte.
»In einigen dieser Datein geht es um Erpressung«, schloß Markowitz. »Fein säuberliche Aufzeichnungen über Geldtransfers und eine erlesene Auswahl von ›Geschenken‹ an Gouverneur Jefferson von Anhängern. Normale Schmiergelder, bis man ein wenig tiefer blickt. Es scheint so, als hätten alle außer einem seiner großzügigsten Anhänger - unsere guten Freunde bei Telestrian - ihre Heimatadresse in den Konföderierten Staaten. Was die Vermutimg nahelegt, daß der ehrenwerte Mr. Jefferson nach der Pfeife des Südens tanzt, womit auch seine jüngsten Stellungnahmen erklärt wären.«
»Aber warum speichert Telestrian diese Informationen über Jefferson?« fragte Kit.
»Ja.« Der Zusammenhang leuchtete Andy auch nicht ein. »Für Telestrian kann es nichts mit Patriotismus zu tun haben. Ihre Hauptniederlassung befindet sich nicht in den Konföderierten Staaten, sondern in Tir Tairngire. Was springt für sie dabei heraus?«
»Geld.« Markowitz zuckte die Achseln. »Das ist die normale Antwort, wenn man es mit einem Konzern zu tun hat. Elfen unterscheiden sich nicht von Norms, wenn es um die Gier nach dem allmächtigen Nuyen geht.«
Andy war immer noch ein wenig durcheinander. »Also haben Telestrian und die Konföderierten Verbindungen zu Gouverneur Jefferson und ziehen das Mont-joy-Projekt gemeinsam durch. Welche Verbindung gibt es zwischen einem gekauften Politiker und einem neuen kybernetischen Kontrollsystem?«
»Daran knacke ich noch, aber es muß irgendein gemeinsames Interesse geben.«
»Weil du nicht an einen Zufall glauben willst.«
»Genau.«
»Wie paßt die Armee da hinein?«
»Daran knacke ich auch noch. Aber es war ihr verdammter Yellowjacket, der uns geeken wollte. Dessen bin ich mir sicher.«
»Richtig«, sagte Andy mit nur einem Hauch von Skepsis.
»Ich habe das Wrack von einem Freund untersuchen lassen«, sagte Markowitz ein wenig rechtfertigend. »Er war tatsächlich aus den Beständen der Armee und nicht gestohlen. Er wird im Moment als verloren geführt, Absturz bei einem Übungsflug am Tag des Angriffs, Ursache imbekannt. Das einzige, was mich daran überrascht, ist, daß sie den Absturz nicht der Kompensationsarmee in die Schuhe schieben. Wenn man die Situation zu diesem Zeitpunkt bedenkt, wäre das die einfachste Erklärung gewesen.«
»Wir müssen Tom davon erzählen«, sagte Andy.
»Was sollen wir ihm denn erzählen? Wir haben nichts in der Hand.«
»Wir haben die Erpressungsdateien über den Gouverneur und seine Verbindungen zu den Konföderierten. Wir haben die Verbindung zwischen Telestrian und den Konföderierten. Er sagte, er braucht Beweise.«
»Nichts von alledem hat irgend etwas mit General Trahn oder dem Aufruhr zu tun. Was interessiert ihn Jefferson oder Telestrian? Er kann mit den Informationen nichts anfangen. Aber wenn wir Kontakt mit Roc-quette aufnehmen, müssen wir ins MilNet, und das würde Jemal die Möglichkeit geben, uns aufzuspüren. Dieser Bursche ist ziemlich nachtragend. Und überhaupt, was bringt dich auf den Gedanken, die Tatsache, daß sich Rocquette für uns eingesetzt hat, war mehr als die Guter-Cop-böser-Cop-Masche?«
»Aber die Verbindungen mit Telestrian könnten wichtig sein«, sagte Andy, der nicht verstand, warum Markowitz sich so sehr dagegen sträubte. »Die Rückmeldungen des Wachhunds, der auf meine Personalakte in der Telestrian-Matrix angesetzt war, gingen auch an eine Militäradresse.«
Markowitz sah ihn plötzlich scharf an. »Was erzählst du da?«
»Habe ich dir noch nicht gesagt, daß ich das herausgefunden habe?«
»Nein. Sonst noch was, das du mir nicht erzählt hast? Wie zum Beispiel, wessen Adresse es ist?«
»Das weiß ich nicht.«
»Also hast du nicht mehr als ein paar Nebelfetzen.«
»Aber es muß doch irgendwas zu bedeuten haben! Beweist das nicht, daß die Armee in die Sache verwickelt ist? Es könnte bedeuten, daß Trahn etwas damit zu tun hat. Er könnte mit den Konföderierten zusammenarbeiten.«
»Trahn? General UCAS-über-Alles? Glaube ich nicht. Was sollte er damit bezwecken wollen?«
»Ich weiß es nicht!«
»Laß die Sache einstweilen ruhen, Junge. Wir müssen noch ein wenig nachdenken, bevor wir ins kalte Wasser springen, und unsere Batterien sind ziemlich erschöpft. Ich schlage ein Nickerchen vor. Jedenfalls habe ich das für mich fest eingeplant.«
Markowitz ließ seinen Worten Taten folgen, indem er seinen Stuhl zurückschob, aufstand und sich auf das untere Bett legte. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis er tief und fest schlief.
Andy funkelte ihn an. Er wollte die Sache nicht einstweilen ruhen lassen. Der Glaube, daß Tom aus gutem Willen gehandelt hatte, weil er und Andy miteinander verwandt waren, gab Andy etwas, woran er sich festhalten konnte. Er wollte etwas tun, um Toms Hilfe zu erwidern. Er beschloß, Tom trotz Markowitz' Befürchtungen alles zu erzählen. Er würde Tom entscheiden lassen, ob die Informationen nützlich waren.
Er mußte persönlich gehen. Markowitz irrte sich zwar in bezug auf Tom, aber in einem Punkt hatte er recht: Andy konnte auf keinen Fall die Matrix benutzen, um die Dateien zu übertragen. In das MilNet einzudringen, war zu gefährlich.
»Du kannst nicht allein gehen«, sagte Kit.
Andy schrak zusammen. Woher wußte sie, woran er dachte? Sie war eine Magierin, aber auch Magierinnen konnten keine Gedanken lesen.
»Ich konnte es in deinen Augen sehen«, sagte sie. »Du hast sehr ausdrucksvolle Augen.« »Das ist mein Problem. Ich kann dich nicht mit hineinziehen.«
»Warum nicht? Eine kleine Rangelei wäre doch lustig. Jedenfalls lustiger, als hier herumzusitzen. Laß uns gehen.«