22

Die Runner saßen in dem Lieferwagen in der Falle und waren gezwungen, Deckimg vor dem Beschuß der Soldaten zu suchen, in deren Hinterhalt sie geraten waren. Markowitz erwiderte das Feuer ebenso wie jemand anders, der sich tiefer im Innern des Lieferwagens befand. Andy hielt den Kopf unten. Da er ziemlich nah bei den hinteren Türen lag, lief er Gefahr, von beiden Seiten beschossen zu werden, wenn er sich bewegte.

Darüber hinaus konnte er kaum etwas tun. Er hatte keine Waffe, nicht einmal seine Nachbildung der Nar-coject. Die hatte er an die Ork-Gang verloren, und unter dem Druck der Ereignisse war er nicht dazu gekommen, sie durch etwas Nützlicheres zu ersetzen. Selbst wenn er eine Kanone gehabt hätte, würde er nicht gewußt haben, was er mehr tun sollte, als sie auf eine Stelle zu richten, abzudrücken und dann zu hoffen, daß er irgend etwas traf. Er hatte keinerlei Übung mit Schußwaffen, hatte sie nie gebraucht.

Er war nicht der einzige, der nicht auf die Soldaten schoß. Cinqueda duckte sich hinter der Barriere aus umgestürzten Geräten ITRUs. Sie hatte den Kopf gesenkt und sah aus, als würde sie meditieren. Oder beten. Eine ihrer Hände war über den Kopf gestreckt, die Fingerspitzen ragten gerade über die Barriere hinaus, als wende sie sich in flehentlicher Bitte an Wesen dort oben.

Andy sah eine kleine schwarze Röhre, kaum länger als zwei Zentimeter zwischen Zeige- und Mittelfinger. Ein dünner Draht verlief von der Röhre zu einer Öffnung in ihrem Handgelenk. Er hatte von solchen Dingen gelesen. Sie benutzte eine winzige Kamera, um die Szenerie zu betrachten, ohne sich zu exponieren. Die Kamera mußte ein Bild der Szenerie im Heck des Lieferwagens direkt in ihr Blickfeld übertragen. Andy fragte sich, ob die Übertragung ihr Blickfeld überlagerte, oder ob das Bild als Fenster in ihrem normalen Blickfeld erschien. Wie die Kamera auch funktionierte, er wünschte, er hätte ebenfalls eine gehabt, um zu sehen, was vorging.

In einer Bewegung, die so geschmeidig war wie fließendes Quecksilber streckte sich Cinqueda. Ihr Arm peitschte vorwärts, und das große Messer flog. Dann ließ sie sich hinter ihre Deckimg zurücksinken und ging wieder in die Hocke. Alles ging so schnell, daß Andy sich fragte, ob er sich ihre Bewegung nur eingebildet hatte, aber ihre Waffe war eindeutig verschwunden. Jemand außerhalb des Lieferwagens schrie auf. Andy riskierte einen Blick und sah einen der Soldaten taumeln, aus dessen Brust der Messergriff ragte. Ballistische Kleidung bot Schutz vor Kugeln, aber nicht vor langsam fliegenden Klingenwaffen.

Eine Kugel summte an Andys Kopf vorbei, und er duckte sich wieder tiefer. Als er die Augen wieder öffnete, bemerkte er, daß Cinqueda ihn ansah. »Nicht deine Party, Junge. Bleib unten.«

Ein guter Rat. Er nickte.

»Granate unterwegs«, bemerkte sie beiläufig. »Feuer einstellen, Marksman.«

Sie sprang auf und über die Barriere. Ihre Hand zuckte schemenhaft vor und beschrieb eine Kurve in Richtimg Lieferwagen. Die Bewegung erinnerte in ihrer Geschmeidigkeit an eine Aktion, die man sonst bei einem Null-G-Handballspiel sah. Der Gegenstand, die Granate, änderte die Flugrichtung, Cinqueda dagegen nicht. Sie landete und duckte sich neben die Trümmer der hinteren Lieferwagentür.

Draußen reagierten die Soldaten auf die plötzliche Veränderung der Lage und suchten nach Deckung. Schneller, als Andy es gekonnt hätte. Sie mußten aufge-peppte Reflexe haben, um sich so schnell bewegen zu können. Andy konnte nur zusehen.

Cinqueda bewegte sich noch schneller als die Soldaten. Anstatt sich zu Boden zu werfen, sprang sie hoch und packte die Dachkante des Lieferwagens. Eleganter als ein Kunstturner schwang sie sich hinauf, schob sich über die Kante, preßte sich flach auf das Dach und verschwand außer Sicht.

Die Granate explodierte mit einem Blitz und einem Knall. Rauch quoll auf die Straße. Andy kam mit einer dünnen Rauchfahne in Berührung, die ihm in der Nase brannte und in den Augen stach.

»Wir sind zu eingeengt hier drinnen. Raus mit euch, solange wir noch Deckung haben«, befahl Markowitz. »Der Rauch wird sich nicht lange halten.«

Etwas Weißes und Pelziges von der Größe eines kleinen Hundes schoß an Andy vorbei und aus dem Lieferwagen hinaus. Andy folgte ihm, als Markowitz vorwärts kroch und ihm einen Stoß versetzte. Er landete schlecht und fiel, und durch seinen Knöchel schoß ein schmerzhafter Stich. Sein Bein umklammernd, wälzte er sich herum und spürte etwas Feuchtes und Warmes unter sich. Blut. Er lag direkt neben dem Soldaten, den Cinquedas Messer erledigt hatte. Das Visier des Mannes war halb geöffnet, und Andy hörte den Mann keuchen. Der Gestank nach Erbrochenem war überwältigend. Andy fing selbst an zu würgen.

»Negative Fangoption«, stöhnte der verwundete Soldat. »Ausführen.«

»Scheiße«, sagte Markowitz. Er sprang zurück in den Lieferwagen. »Alles raus! Alles raus aus der Karre!«

Er verschwand kurz im Innern und kam mit Cheese im Schlepptau zurück, drängte ihn zur Eile. Wortlos jammernd, widersetzte sich der Nachrichtenmann, als Markowitz ihn aus dem Lieferwagen schieben wollte. Markowitz steckte seine Pistole ins Halfter und packte Cheese mit beiden Händen. Er schwang den übergewichtigen Nachrichtenmann, als sei er ein olympischer Hammerwerfer, und schleuderte ihn aus dem Lieferwagen.

»Im Anflug!« schrie Cinqueda.

Markowitz sprang dem Nachrichtenmann hinterher.

Irgend etwas blitzte am Rande von Andys Gesichtsfeld auf und hielt auf den Lieferwagen zu. Instinktiv drückte er sich platt auf den Boden und bedeckte den Kopf. Die Explosion überschüttete ihn mit Hitze und brennenden, stechenden Trümmerstücken, hob ihn hoch und schleuderte ihn ein Stück weit die Straße hinunter.

Andy lag auf dem Rücken und starrte in den bewölkten Himmel. Neuer Rauch erhob sich in die Lüfte. Er versuchte zu fragen, was passiert war, hatte aber solches Ohrensausen, daß er seine eigene Stimme kaum verstand. Markowitz, der sich neben ihm benommen erhob, hatte ihn offenbar nicht gehört. Andy drehte sich zu den Überresten des Lieferwagens um. Er sah einen brennenden, zerfetzten Schrotthaufen.

Trotz seiner Benommenheit fiel ihm eine neue Bewegimg ins Auge. Einer der Soldaten rannte weg. Der Mann bog in eine Gasse. Andy glaubte, er sei entkommen, doch dann kam er wieder zurück, schneller, als er hineingelaufen war. Andy erhaschte einen Blick auf etwas Großes, Graues mit spitzen, funkelnden Zähnen und rotglühenden Augen, das den Soldat verfolgte. Doch was es auch war, es blieb in der Gassenmündung, als der Soldat zurück auf die Straße rannte.

Markowitz erhob sich auf die Knie, zielte und durchlöcherte den Mann, bevor er zehn Meter weit gekommen war. Eine zerlumpte Gestalt schlurfte aus den Schatten und trat den gefallenen Soldat. Markowitz zielte auf die Gasseneinmündung, doch anstatt zu schießen, senkte er seine Waffe. »ZauberMann?«

Der kleine Schamane näherte sich ihm. Seine Augenbrauen wackelten, als er mehrmals rasch hintereinander die Nase rümpfte. »Ins Schwarze, Marksman.«

Cinqueda tauchte wieder auf. »Ich hab' den Burschen mit der Rakete erwischt«, sagte sie, indem sie die Steyr-Automatik zu Boden warf, die sie offenbar einem der Soldaten abgenommen hatte. Das Feuer des brennenden Lieferwagens spiegelte sich in ihren Cyberaugen. »Gefahrensituation ist jetzt negativ.«

Das war der Augenblick, als Andy plötzlich auffiel, daß nicht mehr geschossen wurde. Er sah sich um und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er sah, daß Kit aus dem Lieferwagen entkommen war. Sie untersuchte Markowitz, begutachtete mit sorgenvoller Miene die unbedeutenden Wunden, die er sich zugezogen hatte, ohne Andy, der auf der Erde saß und sich den Knöchel hielt, eines Blickes zu würdigen. Cheese kniete mitten auf der Straße und starrte das rauchende Wrack seines Lieferwagens an. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter und zogen Furchen durch den Dreck und Ruß darauf, aber er gab keinen Laut von sich. Von der Riggerin Mausie und Jung Tech Eng war nichts zu sehen. Vier Gestalten in Tarnanzügen lagen an verschiedenen Stellen in ihrer näheren Umgebung. Keine rührte sich, nicht einmal diejenige, die Cinqueda mit dem Messer erwischt hatte. Der Mann blieb völlig still liegen, als sie die Klinge aus seiner Brust zog und an seiner Uniform abwischte.

»Wer waren diese Burschen?« fragte Andy, während er Markowitz beobachtete, der von Leiche zu Leiche ging und sie untersuchte. »Das sind keine Uniformen der Armee. Das Tarnmuster stimmt nicht.«

»Fremde in ihrem eigenen Land«, sagte Kit rätselhaft.

»Ich habe eine ziemlich gute Vorstellung.« Cinqueda beugte sich über den Mann, den sie mit dem Messer getötet hatte. Ihre Chrom-Fingernägel blitzten, als sie die Uniform an der Schulter auftrennte. Der Ärmel fiel ab und enthüllte eine nackte Schulter, auf die das Sternenbanner der CAS tätowiert war.

»Konföderierte Marine-Ferrets.« Markowitz' Miene hatte einen Ausdruck angenommen, als habe er soeben etwas Widerliches gekostet. »Gott, wie ich es manchmal hasse, wenn ich recht habe.«

»Wir hassen es alle manchmal, wenn du recht hast«, sagte Cinqueda. »Wenn du die Identität der Opposition gekannt hast, hättest du es mir sagen müssen. Ich habe einen Bruder bei den Ferrets.«

Mit Bestürzung erinnerte sich Andy, wie sie über die in ihren Helmen und Uniformen anonymen Marines hergefallen war. »Er ist keiner von...«

»Von denen hier? Nein.« Cinqueda richtete ihren Chrom-Blick auf Kit. »Ihr hättet es mir sagen müssen.«

Kit sah verlegen weg. Ihre Stimme klang dünn. »Ich hätte dir gesagt, wenn dein Bruder unter ihnen gewesen wäre.«

»Ihr kriegt die Rechnung«, sagte Cinqueda und kehrte ihr den Rücken.

Sie verschwand in der Nacht, aus der sie gekommen war. Niemand protestierte oder machte Anstalten, sie aufzuhalten. Markowitz nahm der nächsten Leiche den Gürtel ab und untersuchte ihn. ZauberMann schnappte sich einen, den Markowitz achtlos fallengelassen hatte, und sah sich verstohlen um, ob ihn jemand beobachtete, als er ihn sich umschnallte. Als sein Blick dem Andys begegnete, grinste er, nahm den Gürtel jedoch nicht ab. Andy sah weg. Auf seinen virtuellen Sha-dowruns hatte er auch schon Leichen ausgeplündert, aber das hier war etwas anderes. Es war - er wußte es nicht - irgendwie respektlos.

»Können diese Burschen tatsächlich Marines der Konföderierten sein?« fragte Andy. »Sie haben mich erkannt und redeten über Osborne, als sie hereinstürmten. Die Marines arbeiten nicht für Telestrian.«

»Wo ist für dich das Problem?« sagte Markowitz, ohne in seiner Suche innezuhalten. »Wir wissen längst, daß Telestrian mit den Konföderierten unter einer Decke steckt und uns an den Kragen will. Jemand muß diese Burschen und ihre Ausrüstung über die Grenze geschafft haben, und ein Multi kann das besser als ein ausländisches Militär.« Markowitz warf den Gürtel weg, dessen Taschen er durchsucht hatte. »Ein Jammer, daß keiner mehr übrig ist, dem wir die Einzelheiten aus der Nase ziehen können. Vielleicht wäre es besser, wenn Cinquedas Bruder doch dabei gewesen wäre.«

»Nein«, sagte Kit. Sie erklärte ihren Kommentar nicht näher.

Markowitz hatte recht. Es gab zu viele unbeantwortete Fragen. »Woher haben sie gewußt, wo wir waren?«

»Du hast nicht auf die Wände geachtet! Sie haben Augen, sie haben Ohren, aber nicht alle gehören den bösen Jungs. Du Glücklicher!« ZauberMann grinste. »Sie haben es gehört, ich habe es gehört. Sie sind gekommen, ich bin gekommen. Du Glücklicher!«

»Mir ist schon klar, daß du ihnen gefolgt bist, aber woher haben sie gewußt, wo wir waren?«

»Die alten Schlupfwinkel sind die guten Schlupfwin-kel, aber nicht zu allen Zeiten. Die Ferrets haben Marksman gejagt. Sie haben Marksmans alte Schlupfwinkel durchsucht und ihre winzigen Techno-Spione zurückgelassen. Zu viele, um alle zu beobachten, zu viele. Also haben sie abgewartet, und ich habe abgewartet. Sie haben gelauscht und von deinem Plan gehört zu senden. Sie sagten es einem Pinkel, und der Pinkel sagte zu ihnen, sie sollten sich bereithalten. »Haltet Ausschau nach Walker‹, sagte der Pinkel. »Wenn er da ist, bringt mir seinen Kopf.‹ Als ihr geredet habt, sagte ihnen der Pinkel, wo sie euch finden konnten. Die Ferrets hatten sich verteilt, und diejenigen, die euch am nächsten waren, eilten hierher. Ich flüsterte mit der Stadt und ging dorthin, wohin sie gingen, aber schneller. Ich bereitete mich vor. Dann folgten große Heldentaten. Der Rest ist, wie es so schön heißt, Doku-drama.« ZauberMann warf sich in die Brust, wobei er imaginäre Staubkörnchen von seiner schmutzigen Jacke schnippte.

»Der Pinkel war Osborne?« Andy mußte es wissen.

»Keine Namen, nur eine Melodie. Fröhliche Musik. »Wir treten hinaus und nehmen unseren Platz ein‹«, sang ZauberMann.

Andys Kehle war wie ausgedörrt. Er kannte das Lied. Er hatte es selbst gesungen. Das Abenteuer der Zukunft. »Telestrian Cyberdyne.« Und sie hatten seinen Tod befohlen. Für sie hatte er keinen Platz in der Zukunft.

»Das ist nichts Neues«, stellte Markowitz fest.

Alle Überlegungen, daß Telestrian vielleicht unschuldig mit den furchtbaren Ereignissen der letzten Tage in Verbindimg stand, waren hinfällig. Er hatte glauben wollen, daß ihre Beteiligung ein Fehler war, daß sie von der Regierung der Konföderierten hereingelegt worden waren. Doch Betrogene boten nicht so leichtfertig ihre Dienste an, und Betrogene verlangten auch nicht den Tod jener, die vor ihrer Beteiligung noch zu ihnen gehört hatten. Er hatte den Konzern nie für perfekt gehalten, aber im wesentlichen für gut oder doch wenigstens für entschlossen, sich um die Seinen zu kümmern. Aber er war einer von den Seinen gewesen, und der Konzern hatte Männer ausgeschickt, um ihn unverzüglich zu töten.

Ein schwerer Lastwagen in den Farben der Armee rumpelte einen Block weiter über die Kreuzimg.

Andy spürte Kits Hand auf seinem Arm. Er drehte sich zu ihr um und sah, daß sie auf die Stelle starrte, die der Lastwagen soeben passiert hatte. »Was ist los?«

»Dein Blut ist in Gefahr.«

Die MPs und die Männer vom Secret Service überschlugen sich förmlich, als sie sich auf Tom stürzten. Er wehrte sich nicht, als sie ihn packten, hoffte, sie würden erkennen, daß er nicht in feindseliger Absicht hier war. Das bewahrte ihn jedoch nicht davor, daß ihm die Arme schmerzhaft auf den Rücken gedreht wurden. Der Zuständigkeitsstreit endete, sobald er in Gewahrsam war, da sich beide Sicherheitsteams darauf einigten, ihn aus der TOZ zu zerren.

»Halt! Lassen Sie ihn«, befahl Trahn. »Major Roc-quette, was soll das?«

Trahn hatte sich durch Toms Verkleidung nicht einen Moment lang täuschen lassen. Doch wenn er wußte, wer Tom war, warum wollte er ihn dann reden lassen? Es spielte keine Rolle - wahrscheinlich war dies die einzige Chance, die er bekommen würde. »Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden, Mr. President. Es ist wichtig.«

Steele musterte Tom von oben bis unten und wandte sich dann an Trahn. »Was wird hier gespielt, General?«

»Lassen Sie uns hören, was er zu sagen hat, Mr. President. Wenn es wichtig ist, spielt die Quelle keine so große Rolle, nicht wahr?« Trahn durchbohrte Tom mit einem Blick aus seinen kalten dunklen Augen. »Und was haben Sie dem Präsidenten zu sagen, Major Roc-quette?«

»Es geht um eine Frage der nationalen Sicherheit«, sagte Tom. Er führte in allen Einzelheiten aus, was Andy über die an Gouverneur Jefferson von den CAS gezahlten Bestechungsgelder, die Verbindimg zwischen Telestrian und den CAS und über die Bemühungen der CAS-Agenten, die Runner zu eliminieren, die all das aufgedeckt hatten, in Erfahrung gebracht hatte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, wo er sich befand, hatte er keine Hemmungen, darauf hinzuweisen, daß der militärische Nachrichtendienst beträchtliche Mengen von CAS-Waffen in den Reihen der Kompensationsarmee entdeckt hatte. Er äußerte die Vermutung, der Aufruhr der Kompensationsarmee könne sehr wohl von CAS-Aktivisten angezettelt worden sein, und zeigte auf, wie der Aufruhr die separatistische Stimmung in North Virginia anheizte. Wenngleich er sich hütete, Trahns Namen zu nennen, ließ er doch durchblicken, daß das UCAS-Militär das Feuer der Separatisten schürte, weil seine brutale Reaktion die Komper zum Weiterkämpfen ermutigte. Er erinnerte noch einmal an die Streitkräfte der CAS, die sich in der Nähe der Grenze zwischen Virginia und North Virginia sammelten, und kehrte dann zum politischen Blickwinkel zurück. Er hoffte, daß Steele, der kaum militärischen Scharfsinn gezeigt hatte, wenigstens die Gefahren erkannte, die aus jener Ecke drohten.

»Im Licht der kürzlichen Gesetzesanträge in North Virginia, der Stellungnahmen und Aussagen des Gouverneurs und seiner zunehmend stärker werdenden Pro-Unabhängigkeits-Haltung, bin ich der Ansicht, alle Beweise deuten daraufhin, daß hier nicht eine repräsentative Regierung am Werk ist, sondern vielmehr persönliche und eigensüchtige Interessen gefördert werden. Welche Interessen hier auch im Spiel sein mögen, sie drängen uns an den Rand eines Konflikts, den wir nicht brauchen und, wie ich bei Gott hoffe, auch nicht wollen. Wir nähern uns dem zweihundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Bürgerkriegs. Wir brauchen keinen zweiten.«

Tom war außer Atem, als er verstummte, und verblüfft, daß ihn niemand unterbrochen hatte. In das aufflackernde Gesprächsgemurmel hinein, das seinen Ausführungen folgte, wandte sich Steele an einen seiner Begleiter, einen kleinen, dunkelhaarigen Mann mit drei Datenbuchsen in der Schläfe, und sagte: »In North Virginia darf ein Gouverneur nur für eine Wahlperiode im Amt bleiben, nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Jefferson scheidet also wann aus?«

»Die Wahlen sind im November, Sir. Die Amtseinführung des Nachfolgers findet im Januar statt.«

»Das bedeutet also...« Steele starrte einen Moment lang gedankenversunken ins Leere. »Wissen Sie, ich kann mich nicht erinnern, seinen Namen sehr oft bei den Demokraten gehört zu haben.«

»Gerüchten zufolge ist er bei seiner Partei in Ungnade gefallen, Sir.« Der Assistent unterlegte »Gerüchten« mit einer seltsamen Betonung, was vermuten ließ, daß er eine andere Quelle meinte, die zu nennen er in der gegenwärtigen, mehr oder weniger öffentlichen Gesellschaft nicht gewillt war.

Steele schien die Feststellung seines Assistenten viel bereitwilliger zu akzeptieren als Toms Informationen. »Also wird er nicht auf die Erfolgsspur schwenken und Hahn oder Wilkie in den Kongreß folgen. Unser Mr. Jefferson könnte durchaus ein hungriger Mann sein.«

»Oder ein verbitterter«, sagte ein blonder Assistent in einem schicken Sarmani-Anzug. »Oder ein sehr ehrgeiziger. Ich schätze, er würde sich als Gouverneur für ein wiedervereinigtes Virginia zur Verfügung stellen, und Virginia hatte schon immer etwas für Helden als Kandidaten übrig. Jedes dieser Motive könnte den Mann empfänglich für Zuwendungen von außerhalb machen.«

Steele nickte. »Wenn das stimmt, was Major Roc-quette behauptet, ist die Lage sehr ernst.«

Vielen Dank, Mr. President, daß Sie das Offensichtliche feststellen.

Der Präsident wandte sich an Trahn. »Wie steht es damit, daß unser Militär in dieses Komplott verwickelt ist? Stimmt das?«

»Mr. President, ich bin bereit, hier und jetzt und vor jedem Gericht, das Sie benennen, zu beeiden, daß weder ich selbst noch mein Stab auf irgendeine Weise darin verwickelt sind, irgend jemandem einen Teil dieses Landes zu verkaufen. Keiner von uns hat sich dem Militär aus einem anderen Grund angeschlossen als dem, daß wir Patrioten sind.

Persönlich habe ich nichts für Verräter übrig, die ihr Land verkaufen würden, und sei es auch nur einen kleinen Teil davon, Mr. President«, sagte Trahn mit Nachdruck. »In fünfzehn Minuten können Truppen vor Gouverneur Jeffersons Türschwelle stehen, wenn Sie das anordnen. Vielleicht wäre es das Beste, wenn wir Gouverneur Jefferson dort hätten, wo er ein paar Fragen beantworten kann.«

War Trahn aufrichtig, oder warf er nur einen Konföderierten den Wölfen zum Fraß vor? Die erste Möglichkeit kam Tom wahrscheinlicher vor. Wenn Jefferson tatsächlich Fragen beantworten mußte, würde er mit Sicherheit die Namen seiner Mitverschwörer nennen. Das hatten Verräter so an sich: Sie wollten andere mit sich reißen, wenn sie fielen. Aber wenn Trahn nicht an der Verschwörung beteiligt war, welcher Art war dann seine Verbindimg mit Telestrian?

Trahn redete immer noch. »Aber vielleicht überreagieren wir. Major Rocquettes Behauptungen scheinen in erster Linie aus Spekulationen und Unterstellungen zu bestehen. Er hat uns nicht einen einzigen Beweis geliefert.«

Aller Augen richteten sich auf Tom. »Ich hatte ein Lesegerät mit sachdienlichen Dateien«, sagte er. »Es wurde von Colonel Jordans MPs konfisziert, als ich... festgenommen wurde.«

»Wir haben weder ein Lesegerät konfisziert, noch ist ein Lesegerät im Festnahmeprotokoll verzeichnet«, sagte Jordan, ohne zu warten, bis er gefragt wurde. Er drehte sich um und drückte ein paar Tasten an seiner Konsole. Der Schirm veränderte sich und zeigte ein Festnahmeprotokoll: das von Tom. »Sehen Sie selbst, Mr. President. Im Protokoll ist verzeichnet, daß lediglich eine Dienstwaffe und verschiedene Ausrüstungsgegenstände von Major Rocquette konfisziert wurden, als er, wie er sagt, verhaftet wurde. Ach ja, und natürlich ein Lastwagen, den er ohne Befehl requiriert und hierher gefahren hat.«

»Ich habe mich gemeldet, wie befohlen«, sagte Tom.

»Und Sie haben Ihre Meldung abgegeben«, sagte Trahn, bevor Tom noch mehr sagen konnte. »Sie haben dem Präsidenten mehr als genug zum Nachdenken gegeben, Major. Und da er eine Menge wichtiger Entscheidungen zu treffen hat, sobald sein Stab Ihre Anschuldigungen erhärtet hat, schlage ich vor, daß wir wieder an die Arbeit gehen und ihn der seinen überlassen.«

»Ein ausgezeichneter Vorschlag, General«, sagte der blonde Assistent des Präsidenten. »Der Präsident steht in der Tat unter Zeitdruck.«

Der Helfer gab dem Stab Anweisungen, um den Abmarsch vorzubereiten. Trahn gab seinerseits Befehle, und plötzlich barst die TOZ vor hektischer Aktivität.

Tom realisierte, was geschehen war. Seine Verhaftimg und der Grund dafür waren einfach beiseite geschoben worden. Er war aus dem Scheinwerferlicht heraus, vergessen. Aber nicht von allen. Jordan tauchte neben ihm auf und befahl den MPs, ihn in den Wohnwagen des Generals zu bringen. Tom wurde abgeführt.

Fünfzehn Minuten später gesellte sich Trahn zu ihm. »Stehen Sie bequem, Rocquette.«

Das war Tom kaum möglich, aber er versuchte wenigstens so auszusehen. Trahn ließ sich in den abgenutzten Ledersessel fallen, der in dem Wohnwagen-Büro das einzige Zugeständnis an Luxus war.

»Ich bin enttäuscht von Ihnen, Major. Ihre Motive waren gut, aber es tut mir leid, daß Ihr Urteilsvermögen nicht mithalten konnte. Man hat Sie glauben gemacht, ich hätte etwas mit dieser Verschwörimg zu tun. Sie hätten Ihre Fakten überprüfen sollen. Wenn Sie damit zu mir gekommen wären, hätte ich Ihnen vielleicht den Kopf zurechtrücken können, ohne diese Zivilisten hineinzuziehen. Einige aus dem Stab des Präsidenten sind dem Militär nicht wohlgesonnen, und ich fürchte, Sie haben ihren Zwangsvorstellungen über uns neue Nahrung gegeben. Und Sie haben sich selbst in eine peinliche Lage gebracht. So hätte es nicht sein müssen. Ich hoffe, Sie haben etwas daraus gelernt.«

Trahn erwähnte den Befehl, die Gefangenen zu töten, mit keinem Wort. »Oh, das habe ich, Sir.«

»Gut. Sie hätten wissen müssen, daß ich mich niemals an einem Komplott zur Schwächung der Union beteiligen würde.«

Aber er war an anderen Dingen beteiligt. »Das habe ich auch nicht von Ihnen geglaubt, Sir.«

Trahn lächelte mitfühlend. »Mißverständnisse können sehr schnell auftreten, was Sie gewiß ebenfalls bestätigen können. Wir alle haben in letzter Zeit Dinge mißverstanden.«

Kamen sie nun auf den Punkt der illegalen Befehle zu sprechen? Tom hatte die Absicht, auf jeden Fall dafür zu sorgen. Er war die Mißverständnisse leid. »Wie zum Beispiel die Sache mit den Gefangenen?«

»Laut Ihrer eigenen Aussage waren sie vermutlich Aufwiegler und Rebellen.« In Trahns Stimme lag kontrollierte Wut, aber sonderbarerweise hatte Tom nicht das Gefühl, daß sie gegen ihn gerichtet war. »Was sie auch waren, spielt jetzt keine Rolle mehr. Wir haben einen Job zu erledigen. Wir können Mißverständnisse ausräumen, wenn wir einen Job zu erledigen haben, nicht wahr, Major?«

»Manchmal, General.«

»Dies sollte besser eines dieser Male sein«, sagte Trahn in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. »Wenn Sie mit Ihrer Verschwörung recht haben, ist dieser Aufruhr eine unerträgliche Bedrohung für unser Land und muß mit aller Kraft niedergeschlagen werden, so daß wir unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge richten können. Wir brauchen jeden Soldaten, den wir haben, auf der Straße, damit er dort seinen Job erledigt. Also schicke ich Sie wieder dort hinaus. Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, Ihre Aggressionen abzuarbeiten. Ich biete Ihnen noch eine Chance an, eine Chance zu beweisen, daß Sie ein Mannschaftsspieler sind. Wollen Sie sie ergreifen?«

Tom schluckte und dachte nach. Diese Unterredimg verlief ganz und gar nicht so, wie er es erwartet hatte. Doch der General, ob in etwas verwickelt oder nicht, hatte in einem Punkt recht: Wenn der von den Konföderierten angezettelte Aufruhr nicht niedergeschlagen wurde, war das Land in Schwierigkeiten. Wenn man Tom ins Militärgefängnis sperrte, würde er nichts daran ändern können. »Ich habe mich immer als Mannschaftsspieler betrachtet, Sir. Aber ich mußte immer auch den Spielstand wissen. Nun, da ich einen Blick darauf werfen konnte, glaube ich, daß ich wieder in bester Form bin, Sir. Ich will der siegreichen Mannschaft angehören, Sir.«

»Sehr gut. Sie kehren in Furlanns Mannschaft zurück, aber nicht als Kommandeur. Sie unterstehen ihrem Befehl, bis diese Sache vorbei ist. Ich will mich lieber nicht mit dem Theater abgeben, das eine offizielle Degradierung mit sich bringt, und sei es auch nur eine vorübergehende, aber ich verlange von Ihnen, daß Sie ihr keinen Ärger machen. Verstanden?«

Die Straßenkämpfe boten reichlich Gelegenheit, Tom, den Dorn im Auge des Generals, loszuwerden. Tom verstand ganz genau. Er verstand, daß sein Tod die Probleme des Generals erheblich vereinfachen würde. »Jawohl, Sir. Ich habe verstanden.«

Trahn erhob sich aus seinem Sessel und ging zur Tür. »Jemal, sorgen Sie für den Abtransport von Major Roc-quette. Er geht wieder an die Arbeit.«