21

Tom schlug vor, einen der Lastwagen zu nehmen, da sie damit schneller vorankommen würden als zu Fuß. Andy wies darauf hin, daß es nicht ihr Lastwagen sei. Zu Andys Überraschung sagte Tom, er könne fahren.

»Ich dachte, du könntest uns nicht helfen«, sagte Andy.

»Ihr wollt über den Potomac, stimmt's? An den Sperrketten vorbei?«

»Ja.«

»Ich auch«, sagte Tom. »Da mein Fahrer nicht aufgetaucht ist, kann ich ebensogut selbst fahren, und da ich ohnehin in die Richtung fahre...«

»Können wir ebensogut mitfahren.« Andy sah Cin-queda und Kit an. »Aber wir sehen nicht unbedingt so aus, als gehörten wir in einen Armeelastwagen.«

»Höchstens als Gefangene«, sagte Cinqueda. »Und einen Major kann man nicht gerade als Eskorte bezeichnen.«

»Das kann ich regeln. Es gibt da einen Trick, den ich anwenden kann, solange ich mich nicht bewegen muß«, sagte Kit. Sie nahm Toms Helm, der an seinem Gürtel hing, und setzte ihn Andy auf. »Wir werden Soldaten sein.«

Einen Augenblick später verwandelte sie sich. Andy schüttelte den Kopf und blinzelte, denn an Kits Stelle war eine untersetzte farbige Soldatin getreten - die genauso kicherte wie Kit.

»Sieh dich selbst an«, sagte die Soldatin mit Kits Stimme.

Er schaute an sich herab. Seine Hände waren derber, und seine Kleidung bestand jetzt aus einer grauschwarzen Uniform. Um seine Hüfte hing ein Netzgürtel mit mehreren Beuteln. Andy betrachtete die anderen. Tom war immer noch Tom, und auch Cinqueda sah noch so aus wie zuvor.

»Ich kann wenig für sie tun, weil sie soviel von sich aufgegeben hat. Sie kann unsere Gefangene sein.«

Kits Illusion verblaßte, als sie in den Lastwagen stieg, aber sie erneuerte sie, sobald alle an Bord waren. Tom öffnete die Trennwand zwischen der Fahrerkabine und dem Laderaum, so daß sie sich unterhalten konnten. Daher hörte Andy Tom den Posten an jedem Kontrollpunkt, auf den sie stießen, sagen: »Gefangener unterwegs nach Belvoir.«

Zu Andys Erleichterung klappte ihr Plan.

Sie hatten den Fluß überquert und waren irgendwo in Arlington, als Tom den Lastwagen von der Straße und hinter ein Einkaufszentrum fuhr. Dort war es dunkler, als es hätte sein dürfen, da nur eine einzige nicht zerschmetterte Laterne am Ende des Gebäudes ein einsames Licht warf. Der bewölkte Himmel hatte nur den Widerschein des Sprawls und des dunkelroten Glühens der Feuer auf der anderen Seite des Flusses zu bieten. Andy konnte kaum seinen eigenen Schatten sehen, als er aus dem Lastwagen sprang. Er wäre fast mit Tom zusammengestoßen, als dieser um den Lastwagen herumging. Cinquedas Hand, die plötzlich auf seiner Schulter lag und ihn zurückhielt, verhinderte gerade noch einen Zusammenstoß.

»Ich halte es für das beste, wenn ich euch hier absetze«, sagte Tom an Kit und Cinqueda gewandt. Er schien Andy ganz bewußt nicht anzusehen. »Von hier aus müßtet ihr eigentlich ohne Schwierigkeiten zu Markowitz gelangen. Diese Seite des Gebäudes ist dunkel, aber auf der änderen Seite hat noch ein Laden auf. Dort gibt es auch ein Telekom. Okay?«

»Könnte nicht besser sein«, sagte Cinqueda.

Andy machte sich Sorgen darum, was Tom als nächstes tun würde. »Bringt dich das nicht in Schwierigkeiten, wenn du uns hier absetzt? Ich meine, du hast gelogen, als du sagtest, du brächtest Cinqueda als Gefangene nach Belvoir.«

»Ich habe nicht gelogen«, sagte Tom.

Andy war verwirrt. »Aber Cinqueda ist keine Gefangene.«

»Sie habe ich auch nicht gemeint.«

»Du denkst daran, mich wieder mitzunehmen?«

»Nein.«

Andy wurde immer verwirrter. »Das verstehe ich nicht.«

»Das brauchst du auch nicht. Ich muß los.«

Andy reichte ihm den Helm. Tom nahm ihn mit einem dünnen Lächeln und wandte sich ab, um wieder in den Lastwagen zu steigen. Der Motor heulte auf, und das Fahrzeug ruckte los. Dunkelrote Rücklichter funkelten Andy wie ein gereizter Dämon an, bis ihr Licht verschluckt wurde, als der Lastwagen durch die Lichtinsel der einsamen Laterne fuhr. Der Lastwagen bog um die Ecke und war verschwunden.

Andy kam sich wie ein Kind vor, als Cinqueda und Kit ihn durch die abgrundtiefe Finsternis führten. Hier war es dunkler als in der Innenstadt. Während er so gut wie blind war, schienen sie überhaupt keine Schwierigkeiten zu haben. Er wünschte, er hätte die für ihn vor-gesehenen Implantate noch bekommen, bevor er Tele-strian verlassen hatte, oder auch nur den Militärhelm mit seinem Lichtverstärker-Visier noch gehabt. Es gefiel ihm nicht, sich so hilflos zu fühlen, und Cinquedas kalte Chrom-Berührimg ließ ihn frösteln. Andererseits war Kits Berührung warm und auch nicht unbedingt mütterlich. Andy gab sich Mühe, näher bei ihr als bei der anderen Frau zu bleiben.

Als sie das Telekom erreichten, beschwerte sich Cin-queda zwar, zückte jedoch einen Kredstab, da weder Andy noch Kit einen hatten. Sobald das System geöffnet war, wandte Andy einen Trick an, von dem er im Netz gelesen hatte, und änderte die Rufnummer des Telekoms, um etwaige Versuche zu vereiteln, den Anruf zurückzuverfolgen. Sie nahmen Verbindung zu Markowitz auf, der glücklicherweise immer noch bei Neil war. Es gefiel ihm nicht, geweckt zu werden, jedenfalls sagte er das. Er klang nicht schläfrig, als er mit Kit zu sprechen verlangte, und reagierte auch nicht sonderlich langsam, als Andy ihm die Situation erklären wollte und Markowitz ihm sofort ins Wort fiel.

»Nicht über diese Leitung. Sie ist nicht sicher«, sagte Markowitz, was er auch sofort bewies, indem er ihnen sagte, woher sie anriefen. »Kit, geht dorthin, wo wir Yates kennengelernt haben. Ich treffe mich dort mit euch.«

Andy wußte nicht, wovon Markowitz redete, aber Kit schon. Es handelte sich um einen durchgehend geöffneten Denny's in der verfallenen Vorstadt in der Nähe der großen Kreuzung Beltway und 95ste Süd. Markowitz erwartete sie bereits. Andy erzählte ihm eiligst von der Verbindung, die Tom zwischen General Trahn und Telestrian hergestellt hatte.

»Das ist kein Beweis, Junge, aber es ist ein Verbindungsglied. Wichtig ist, daß die Öffentlichkeit die Geschichte glauben wird, und die schlechte Wer-bung könnte reichen, um uns die Artillerie vom Hals zu halten. Konzerne werden echt schüchtern, wenn ein Scheinwerfer auf sie gerichtet ist, besonders dann, wenn sie mit Regierungen herummachen.«

»Ich dachte, Regierungen wären ihnen längst egal.«

»Sind sie ihnen nicht, aber es ist in erster Linie eine PR-Sache. Wenn sie tatsächlich keine Verwendung mehr für Regierungen hätten, glaubst du, wir hätten dann noch welche?«

Andy war nicht sicher. Darüber hatte er nie nachgedacht, als er noch im Schöße Telestrians in Sicherheit gewesen war. Er schob den Gedanken einstweilen beiseite. »Kit sagte, du hättest vielleicht eine Idee, wie wir die Information an den Mann bringen können.«

»Ich kenne ein paar Leute.«

»Cheese?« fragte Cinqueda, bot jedoch keinen Käse an.

Andy kam das ein wenig seltsam vor, aber unter Sha-dowrunnern hieß es, daß Straßensamurai alle ein wenig seltsam waren. In der Absicht, höflich zu sein, sagte er: »Nein, danke.«

Kit kicherte.

»Cheese ist ein Pirat«, sagte Cinqueda.

»Was soll uns ein Softwaredieb bei dieser Sache nützen?« fragte Andy.

»Ein Nachrichtenpirat«, sagte Markowitz. »Er betreibt ITRU Independent News. Er hat eine Verbindung zu den Übertragungssatelliten und ziemlich gute Einschaltmöglichkeiten ins Kabelnetz. Er ist unsere beste Wette, um die Nachricht zu verbreiten. Cheese steht auf Enthüllungen, die etwas mit der Regierung zu tun haben, und noch mehr darauf, den Konföderierten eins auszuwischen. Er behauptet, das liege ihm im Blut. Diese Geschichte wird ihm gefallen.«

Kit wirkte ein wenig unsicher. »Glaubst du, er erinnert sich noch an das letzte Mal, als du ihn gebeten hast, etwas über das Netz zu schicken?«

»Ich bin sicher, er hat das alles längst vergessen«, sagte Markowitz nicht sehr überzeugend.

»Nimm Geld mit«, riet ihm Cinqueda. »Nur für alle Fälle.«

Die ITRU-Sendestation war ein Chrysler-Nissan-Me-trohauler, ein Lieferwagen mit verlängertem Radstand. Der Wagen war nicht neu. Kleine Flecke in verschiedenen Farben gingen im Meer der großen Flächen roter Rostschutzfarbe unter, so daß sich unmöglich sagen ließ, wie einmal die ursprüngliche Lackierung ausgesehen haben mochte. Zwei Parabolantennen auf dem Dach und ein primitives, handgemaltes ITRU-Logo auf den Seiten waren die einzigen Hinweise darauf, daß der Lieferwagen mehr als ein Wrack war, das darauf wartete, verschrottet zu werden. Der Jugendliche mit den blutunterlaufenen Augen, der auf Markowitz' Klopfen die hintere Tür öffnete, war so gekleidet, als sei derjenige, der den Lieferwagen bemalt hatte, sein Modeberater. Der Junge - er sah nicht so aus, als könne er älter als dreizehn sein - hatte ein ITRU-Logo auf seiner Baseballkappe über der Aufschrift »Tech Eng«.

»Was wollt ihr?«

»Wir müssen mit Cheese reden«, sagte Markowitz.

»Hey, ich kenn' dich, Mann. Cheese will dich nich' sehn.«

»Ist mir egal.« Markowitz hielt die Tür fest, die der Junge hatte zuschlagen wollen. »Sag' ihm nur, daß ich hier bin.«

»Laß die Tür los, Mann.«

»Sag' Cheese Bescheid.«

Der Junge überließ Markowitz die Tür und verschwand im rot beleuchteten Innern des Lieferwagens. Markowitz folgte ihm und mit der Bemerkimg: »Kommt.«

Andy sah Kit fragend an, aber sie erklomm bereits die kurze Leiter des großen Lieferwagens. Als Andy eingestiegen war, hatte Markowitz sich bereits durch die Geräte nach vorn gearbeitet, mit denen der Wagen vollgestopft war, und stand einem kleinen, übergewichtigen Schwarzen gegenüber, den Andy für einen Zwerg gehalten hätte, wären seine Schultern breiter und sein Bart voller gewesen. Der Mann fauchte Markowitz an und zeigte dabei kräftig aussehende Zähne von der Farbe alten Cheddars. Seine ITRU-Kappe trug die Aufschrift »Der Große«. Er mußte Cheese sein. Jung Tech Eng war in den dunklen Tiefen des Lieferwagens verschwunden.

Cheese' Stimme war ein heiseres Krächzen, das sich eher für einen Urban-Brawl-Reporter eignete als für einen unabhängigen Nachrichtenmann, aber die Stimme hatte Volumen. Was zwischen den beiden auch vorgefallen sein mochte, es beschäftigte ihn immer noch, und das Wettschreien zwischen ihm und Markowitz war spektakulär, wenn auch knapp an Details. Kit mischte sich ein, indem sie beiden Männern Honig um den Bart schmierte und sie ein wenig beruhigte. Sie richtete den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit auf Cheese, der sich auch etwas abkühlte, aber letzten Endes war es der Kredstab, den Markowitz schließlich zückte, der den Streit beendete.

Cheese schob den Kredstab in ein kommerzielles Lesegerät, an dessen Gehäuse ganz offensichtlich herumgepfuscht worden war. Das Ergebnis schien ihn zu befriedigen. »Dieser Schwindel, der is' echt, ja? Echt echt?«

»Alles, was wir ausgegraben haben, sieht gut aus«, sagte Markowitz.

»Genau das hast du beim letztenmal auch gesagt«, bemerkte Cheese blinzelnd.

Andy war die ständigen Verdächtigungen leid. »Ja? Nun, ich weiß nicht, was beim letztenmal vorgefallen ist, aber diesmal ist alles echt. Die Sache ist wichtig, und wir müssen Leute davon in Kenntnis setzen.«

Cheese' strahlende Augen richteten sich auf Andy.

Sie musterten ihn von oben bis unten und blieben dann auf seiner Datenbuchse haften. Der Nachrichtenmann strich abwesend über seine eigene Buchse, während er Andy einzuschätzen versuchte. Seine Lippen teilten sich zu einem breiten Grinsen, und seine gelben Zähne blitzten. »Hey, Mann, du gefällst mir, bist echt positiv! Wie es so schön heißt, du hast was Überzeugendes. Vielleicht hau' ich die Story ja doch raus.«

»Ich denke, das solltest du tun«, sagte Kit leise.

»Die Lady, die weiß Bescheid, was?« Cheese warf sich auf seinen Stuhl und ließ die Finger über Schalter fliegen und auf der Kontrolltastatur tanzen. Ohne einen offensichtlichen Rhythmuswechsel warf er Andy ein Datenkabel zu. »Was hältst du davon, wenn du die Daten überträgst? Der Cheese hier, der heizt sie an und sieht nach, ob sie singen. Und wenn wir 'ne gute Melodie gefunden haben, gehen wir auf Sendimg.« Lauter: »Hey, Mausie, fahr los und such uns 'ne Satellitenverbindung.«

»Roger«, antwortete eine weibliche Stimme von weiter vorne.

Andy blinzelte in diese Richtung und glaubte eine Couch mit einer darauf liegenden Gestalt zu sehen. Eine Riggerin? Der Lieferwagen setzte sich in Bewegung. Die Gestalt rührte sich nicht. Eindeutig eine Riggerin.

Er war neugierig auf das Interface, das sie benutzte, aber er hatte einen Job zu erledigen. Er stöpselte sich ein und kopierte die entschlüsselten Daten aus seiner Headware auf Cheese' Bord. Cheese teilte seine Aufmerksamkeit zwischen der Lektüre von Andys Kopien und der Ausführung einer Unmenge technischer Operationen, um die Satellitenschüsseln auszurichten, Frequenzen anzupassen und die Sperren im Kabelnetz zu umgehen.

»Cheese?« Das war die Riggerin. »Wir haben...«

»Keine Zeit, keine Zeit. Wir gehen auf Sendung.«

Musik erfüllte das Innere des Lieferwagens, ein Engelschor der von der bevorstehenden ITRU-Wahrheitssen-dung kündete. Cheese sprach in sein Mikrofon und verblüffte Andy. Sein Straßendialekt war ebenso wie das Krächzen verschwunden, und er hatte plötzlich eine kultivierte, tiefe, volltönende Stimme, die einem Shakespeare-Darsteller gut zu Gesicht gestanden hätte.

Wenn er so sprechen konnte, warum hatte er es dann mit ihnen nicht getan? Kit bemerkte Andys Verblüffung.

»Er hat einen Stimmenmodulator«, sagte sie.

Das hatte er sich gedacht. »Warum redet er nicht immer so?«

»Schlechte Hardware«, sagte Cinqueda. »Reizt die Stimmbänder nach einer Weile. Wird sie ihm eines Tages zerreißen, wenn er...«

Cinquedas Kopf wirbelte zur Tür herum.

Draußen ertönte ein Knall. Ein lautes Plop. Der Lieferwagen neigte sich zur Seite, und unter ihnen quietschten die Reifen. Alle außer Cinqueda verloren den Halt. Geräte, Werkzeuge, Batterien und Computer glitten in einem Funkenregen und mit splitterndem Krachen aus ihren labilen Halterungen. Die rote Innenbeleuchtung erlosch. Die Front des Lieferwagens prallte gegen irgend etwas. Das Heck schleuderte herum und versuchte die Front zu überholen, krachte dann jedoch ebenfalls gegen etwas. Der Motor hustete und starb ab. Abgesehen von einem Chor verschiedener Warnsirenen war in dem Lieferwagen alles still.

Andy versuchte sich aus dem Stapel von Kram her-auszuwinden, unter dem er begraben lag. Neben ihm war Cinqueda in die Hocke gegangen. In der linken Hand hielt sie ein großes Messer mit breiter Klinge, von dem Andy wußte, daß sie es bei sich trug. Die gerippte Klinge schmiegte sich an ihren Unterarm. Ihr Kopf neigte sich kaum merklich, als versuche sie ein Geräusch auszumachen.

»Vier Personen in Kontakt mit dem Wagen«, flüsterte sie.

»Keine aktive Magie«, ertönte Kits Stimme aus der Dunkelheit.

»Helmfunkgeräte«, sagte Cinqueda. »Sie wollen...«

Die hinteren Türen des Lieferwagens flogen mit einem blendenden Blitz davon.

Als Andy wieder sehen konnte, standen vier Männer in Tarnanzügen im hinteren Teil des Lieferwagens. Ihre Gesichter waren unter Visierhelmen verborgen. Sie trugen keine Abzeichen. Jeder Mann hielt eine mattschwarze Steyr Automatik in den Händen.

»Walker.« Der Sprecher drehte den Kopf ein wenig zu einem der anderen. »Du kaufst das Bier, Joe.«

Andy spürte, wie es ihn kalt überlief, als der Mann den Blick wieder auf ihn richtete.

»Müslifresser Osborne wird sich freuen zu hören, daß er recht hatte. Er wird sich noch mehr freuen zu hören, daß er sich wegen eines unloyalen kleinen Wichsers wie dir keine Sorgen mehr zu machen braucht.«

Cinqueda bewegte sich. Mündungen ruckten hoch. Andy versuchte sich durch den Boden des Lieferwagens zu pressen, als die Schießerei losging.

Andys Idee, sich mit den Informationen hinsichtlich der Verschwörung an die Öffentlichkeit zu wenden, war so ungefähr der einzige Weg, den Tom sah, ein wenig Wasser der Vernunft in die Flammen des Wahnsinns zu gießen, die Washington verzehrten. Die Möglichkeit, diese Chance zu nutzen, hatte ihm die Entscheidimg leicht gemacht, einen der Lastwagen zu requirieren und Andy und seine Freunde durch die Sperrketten zu schleusen. Tom ging jedoch nicht mit ihnen, um sich mit Markowitz zu treffen. Dort war nicht sein Platz. Er hatte immer noch Befehl, sich bei General Trahn zu melden. Was machte es schon aus, wenn er sich ein wenig verspätete? Was wollte sein Kommandeur tun - ihn unehrenhaft entlassen? Das würde er ohnehin tun.

Die Fahrt gab ihm Zeit und Gelegenheit, über das Vorgefallene nachzudenken. Er hatte getan, was er hatte tun müssen, und jetzt blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als weiterzumachen. Wenn Großvater recht hatte und sich im Oberkommando eine Intrige zusam-mensponn, war Tom erledigt. Vielleicht war er sogar erledigt, wenn das nicht der Fall war. Seit dem Vasquez-Vorfall lange vor dem Zusammenbruch der Vereinigten Staaten war niemand mit der Verweigerung eines illegalen Befehls durchgekommen. Bis jetzt hatte er nicht viel darüber nachgedacht. Früher hatte man von einem Soldaten erwartet, daß er den Unterschied zwischen Recht und Unrecht kannte und für das Recht eintrat. Und jetzt? Nim, im Laufe der Jahre hatten viele Leute Tom erzählt, das sich mehr als nur die Grenzen verändert hatten, als die alten USA zusammengebrochen waren. Er hatte es nicht geglaubt. Jetzt würde Tom vermutlich am eigenen Leib erfahren, wie hohl einige Absätze der Verfassung geworden waren.

Ein Konvoi von einem Dutzend lufttransportfähiger McAuliffe-Infanteriekampfwagen rumpelte an ihm vorbei in Richtung Zentrumsbezirke. Sie würden einige Lektionen erteilen. Tom fragte sich, ob die Lektion, die man ihm erteilen würde, weniger rauh ausfallen würde.

Aber er mußte an seine Ehre denken.

Er passierte die Pferdefarm und die Auffahrt zur nach Süden führenden Umgehungsstraße für den Durchgangsverkehr auf der Route 1. Er hatte es nicht mehr weit. Er bremste den Lastwagen ab, als er sich dem Tor von Fort Belvoir näherte, und hielt vor der Wachstube. Heraus kam eine einfache Soldatin, eine junge Orkfrau, die zu flott aussah, um die Uniform schon lange tragen zu können. Sie würde ihre eigenen Lektionen lernen.

»Major Rocquette mit Befehl, sich bei General Trahn zu melden«, sagte Tom, indem er ihr seine Ausweismarke gab.

Die Soldatin schob die Marke in ihr Lesegerät. Ihre Stirn runzelte sich, als sich der Schirm erhellte. Vermutlich wurden jetzt Anweisungen in ihren Helmlautsprecher geflüstert. Sie sah verwirrt aus. »Was ist mit Ihrem Fahrer passiert, Major?«

»Er ist nicht aufgetaucht. Ich wollte nicht länger warten. Lassen Sie mich jetzt durch oder nicht?«

Die Wache wich einen Schritt zurück und hielt ihre Waffe ein wenig aggressiver. Sie richtete sie jedoch nicht auf Tom, nicht ganz. »Ich fürchte, ich muß Sie bitten auszusteigen, Major.«

Tom stellte den Motor nicht ab. Um das zu tun, hätte er die Hände aus dem Blickfeld der Wache nehmen müssen. Er wollte diesen eindeutig nervösen Grünschnabel nicht erschrecken. Tom stieg langsam aus. Die Frau tat nur ihren Job.

Sie hatte Angst. Das entnahm er ihren unglaublich geweiteten Pupillen. Er nahm an, daß man nicht jeden Tag von ihr verlangte, einen Offizier festzunehmen. Er versuchte es ihr leichter zu machen, indem er sich so wenig bedrohlich wie möglich gab.

»Wie heißen Sie, Mädchen?«

»Ich soll nicht mit Ihnen reden, Sir.«

»Drek, Mädchen, Sie können sogar dem Feind Ihren Namen nennen.«

Sie nahm sich etwas Zeit, um darüber nachzudenken. Orks wurden früh erwachsen, waren aber selten klug. Drek, wäre sie klug gewesen, hätte sie keine Uniform getragen. Nach allem, was er wußte, war die Armee schon hart genug gegen männliche Orks. Er hatte seinen Teil dazu beigetragen. Doch nun, wo er die Muskeln der Bestie zu spüren bekam, empfand er eine ihm bislang imbekannte Sympathie für sie. Schließlich sagte sie: »Booker, Sir. Harriet Booker.«

»Tun Sie sich einen Gefallen, Harriet, und treten Sie aus der Armee aus. Suchen Sie sich einen anderen Job.«

Die Vorstellung schien sie zu bestürzen. »Ich soll nicht mit Ihnen reden, Sir«, wiederholte sie.

Er beließ es dabei.

Sie warteten schweigend. Die MPs, die zu ihnen kamen, trugen die Abzeichen des 3412. Bataillons der Militärpolizei. Jordans Jungs. Sie gehörten eigentlich nicht zur Sicherheit der Basis. Die Tatsache, daß er sie hatte kommen lassen, um ihn in Gewahrsam zu nehmen, anstatt Belvoirs reguläre MPs, bedeutete, daß Trahn die Affäre im engsten Familienkreis bereinigen wollte. Toms Hoffnung auf Publizität seines persönlichen Problems sank auf null.

Und zur Flucht war es zu spät.

Ohne ihn offiziell unter Arrest zu stellen, nahmen sie ihm seine Dienstpistole ab - soviel zu militärischen Höflichkeitsbezeugungen - und brachten ihn in das Gebäude, in dem Jordan Andy und Markowitz festgehalten hatte. Er hielt es nicht für einen Zufall, daß sie ihn in denselben Raum brachten, in dem Furlann ihre Vorbereitungen getroffen hatte, um Markowitz' Rechte und seine Person zu verletzen. Die Ratten und die thaumaturgischen Gegenstände waren verschwunden -letztere waren Furlanns persönliches Eigentum und immer in ihrer Nähe -, aber der falsche Zahnarztstuhl war immer noch da. Diesmal sah Tom, daß er mit Haltegurten bestückt war. Jordan mußte anderswo beschäftigt sein: Der Raum war leer. Die MPs verließen den Raum und schlossen die Tür, und Tom hörte das Schloß einschnappen.

Er wartete, wobei er sich fragte, wie Andy und Markowitz und ihr verrücktes Team von Shadowrunnern wohl zurechtkamen. Nun, da er Zeit zum Nachdenken hatte, sah er, daß der Junge und seine Freunde gegen Windmühlenflügel antraten. Er mußte sie ein wenig bewundern. Was sie sonst auch sein mochten, sie waren mutig. Aber was würden sie zustande bringen? Was konnten sie zustande bringen?

Bedauerlicherweise würde es höchstwahrscheinlich zu wenig sein. Für einige war es mit Sicherheit bereits zu spät.

Zeit verging.

Er hörte Schritte im Flur. Jordan? Nein, nur eine Wache, die die Runde machte und stehenblieb, um sich mit dem Posten an der Tür zu unterhalten. Der Vertrautheit ihrer Begrüßung nach zu urteilen, waren sie alte Freunde.

»Schon gehört, daß Steele in der Basis ist?« fragte die Wache.

»Ohne Drek?« sagte der Posten.

Tom glaubte es auch nicht.

»Ohne Drek«, sagte die Wache ernsthaft. »Auf den Frequenzen wird über nichts anderes mehr geredet. Hast du deinen Helmfunk wieder auf Musik umgestellt?«

»Würdest du auch tun, wenn du wüßtest, wie das geht«, sagte der Posten rechtfertigend.

»Ein Wachposten muß immer wachsam sein.«

»Spar dir den Drek für den Sarge.« Frotzeleien waren in Ordnung, aber der Posten war weiterhin an dem Gerücht interessiert. »Was will Steele denn hier? Ich dachte, er versteckt sich im Keller des Weißen Hauses, bis alles vorbei ist.«

Tom stellte sich das Schulterzucken der Wache vor. »Muß wohl zu , dem Schluß gekommen sein, daß ihm die Sache in seinem Hinterhof zu heiß wird. Ich hörte, er verpißt sich nach Camp David und überläßt es uns, seine Schweinerei aufzuräumen. Deshalb ist er wohl auch in der TOZ und redet mit Trahn. Der Präsident ist auf dem Weg in ein angenehmeres Klima und will sich vergewissern, daß die Müllabfuhr mit der Säuberung vorankommt. Dem Mann gefällt es nicht, aus seinem schicken Heim zu fliehen. Sieht nicht gut aus, wo in weniger als einem Jahr der Nominierungskonvent stattfindet. Diese Stadt hat ein Gedächtnis. Tja, unser rückgratloser Steele muß so lange nicht mehr warten, nach allem was ich höre«, sagte die Wache.

Der Posten hakte nach. »Warum nicht?«

Tom wollte es ebenfalls wissen.

»Trahn hat den Angriffszeitpunkt gegen die Metro-Stationen auf Mitternacht festgesetzt. Sobald die Eingänge in unserer Hand sind, pumpen die Pioniere Gas hinein. Das wird den Burschen den Kampfgeist austreiben.«

»Gas ist illegal.«

»Ich nehme an, Trahn räumt dieses kleine Hindernis bei seinem Gespräch mit Steele gerade aus dem Weg.«

Sie unterhielten sich noch weiter, aber die Wache erwähnte mit keinem Wort eine Piratensendung, welche die Konföderierten-Connection aufgedeckt oder Trahn mit irgend etwas in Verbindung gebracht hatte. Markowitz war ganz offensichtlich nicht durchgekommen. Andys Plan war gescheitert, aber er schien eine Chance gehabt zu haben. Doch bei diesem Gedanken erinnerte er sich an Andys ersten Vorschlag, den Tom als unsinnig abgetan hatte. Er hatte gesagt, sie sollten ihre Geschichte dem Präsidenten vortragen - und nun war der Präsident ganz in Toms Nähe, kaum hundert Meter entfernt.

Wie konnte er da nur herumsitzen und die Dinge einfach laufen lassen?

Wegen einer verschlossenen Tür und eines Postens davor, lautete die Antwort.

Es war eine lausige Antwort, und er wollte eine bessere. Er sah sich in dem Raum um in der Hoffnung auf eine Inspiration. Er fand sie im Verhörstuhl. Nach ein wenig Suchen und einiger Mühe hielt er das nötige Werkzeug in der Hand. Jordans Jungs hätten das Zimmer gründlicher aufräumen sollen. Tom schwang den gelösten Haltegurt, wobei er das Gewicht der Schnalle am Ende einzuschätzen versuchte. Es würde reichen.

Er ging zur Tür.

»Wache«, rief er. »Ich muß mit Colonel Jordan reden. Ich habe ihm etwas Wichtiges zu sagen.«

Der Trick war nicht neu. Aber manche Tricks ließen sich einfach nicht ignorieren - ganz einfach deshalb nicht, weil sie vielleicht keine Tricks waren.

»Das kann warten«, sagte die Wache.

»Nein, kann es nicht.« Er sah auf die Uhr. »Es ist nach 2300 Uhr. Der Colonel wird Ihnen die Eier abreißen, wenn er nicht vor Mitternacht hört, was ich ihm zu sagen habe. Ich hätte ja nichts dagegen, aber Sie vielleicht schon.«

Jordans Jungs hatten den Leuten so viel Angst eingejagt, daß diese ohne Erlaubnis keinen Pups mehr ließen. Daraus folgte, daß Jordan dieselbe Wirkung auf seine Jimgens haben mußte. Paranoia beginnt zu Hause.

»Treten Sie von der Tür zurück, Major.«

Tom lächelte. Er hatte auf den richtigen Knopf gedrückt. Er trat zurück, wie geheißen, und wartete gespannt, während der Posten die Tür aufschloß.

»Also schön, Major. Jetzt öffnen Sie die Tür und treten dabei langsam zurück.« Der Posten hatte beide Hände an seiner Waffe und war auf der Hut.

Tom befolgte den Befehl des Postens, aber bevor sich die Tür ganz geöffnet hatte, ließ er den Gurt durch den breiter werdenden Spalt schnellen. Der Posten reagierte, indem er die Waffe hochriß, um den unerwarteten Angriff abzuwehren, wie Tom gehofft hatte. Während das Gewicht der Schnalle den Gurt um die Waffe wickelte, riß Tom die Tür vollständig auf und versetzte dem Mann einen Tritt in den ungeschützten Bauch. Der Posten krümmte sich, während die Luft pfeifend aus seinen Lungen entwich. Solch ein Tritt hatte unvermeidliche Konsequenzen, und Tom war bei dem Posten, bevor er sich fertig übergeben hatte. Tom wartete, bis der Mann ausgespien hatte, was er auszu-speien hatte, bevor er Druck auf die richtigen Stellen ausübte. Er wollte nicht, daß der Posten an seinem Erbrochenen erstickte.

Ein leerer Flur würde weniger verdächtig sein als ein Soldat, der einen anderen entkleidete. Tom schleppte den Posten in das Verhörzimmer und schloß die Tür, nachdem er sich versichert hatte, daß das Schloß nicht zuschnappen konnte. Er nahm dem Posten seinen weißen Helm und Gürtel sowie die MP-Binde und die Dienstpistole ab. Die Handschuhe ließ er ihm. Er hatte die verdammten Dinger noch nie gemocht. Das Gewehr nahm er ebenfalls nicht. Ein Major der Militärpolizei trug kein Gewehr.

Als er seine gestohlenen Ausrüstungsgegenstände anlegte, wurde ihm plötzlich klar, daß er jetzt die Regeln brach. Sei's drum. Die Situation zwang ihn dazu, und er sah keinen anderen Weg zu tun, was getan werden mußte. Ohne irgendeine Verkleidung würde er nicht einmal in die Nähe der TOZ kommen. Er hatte gesehen, wie andere in der Basis auf Jordans weißbehandschuhte Hunde reagierten. Wenn er sich damit, daß er einer zu sein vortäuschte, in die TOZ bluffen konnte, hatte er auch die Absicht, es zu tun. Anschließend würde er die Strafe akzeptieren, die das Kriegsgericht dafür vorsah. Recht blieb Recht. Aber Recht war nicht das, was die armen Kerle auf den Straßen bekamen.

Als i-Tüpfelchen nahm Tom das Vielzweckmesser des Postens und trennte das Abzeichen seiner Einheit von der MP-Uniform. Mit Klebstoff aus der Notausrüstimg des MPs klebte er sich das Abzeichen auf die linke Schulter. Es sah ein wenig schlampig aus und würde keiner Inspektion standhalten, aber er rechnete nicht damit, einer solchen unterzogen zu werden. Schließlich drehte er seine Rangabzeichen von ihrer mattschwarzen Feldseite auf die goldfarbene Reserveseite und war fertig.

Obgleich er es mit einigem Unbehagen zur Kenntnis nahm, öffnete ihm seine Maskerade Türen und brachte ihn an allen Wachstationen vorbei, ohne daß ihm eine einzige Frage gestellt wurde. Wo ihm der weiße Helm und der Gürtel die Fragen nicht ersparten, taten es seine Rangabzeichen, und wo diese nicht reichten, sprang das Abzeichen des 3412. in die Bresche.

Als er den Rand der Plane erreichte, die die TOZ bedeckte, erhoben sich Trahn und der Präsident eben von ihren Stühlen im Herzen der Kommandozentrale. Die Secret-Service-Posten ließen sich ebenfalls von seiner MP-Erscheinung beeindrucken und hielten Tom nicht auf, als dieser die TOZ betrat. Als Tom die innere, mit statischem Rauschen gegen Abhörversuche gesicherte Barriere durchschritt, schüttelten sich Trahn und der Präsident gerade die Hände, als besiegelten sie ein Abkommen. Trahn sagte etwas.

»Ich bin froh, daß Sie sich endlich besonnen haben, Mr. President. Es gibt einfach keine andere gangbare Alternative.«

Das war die Gelegenheit. Jetzt oder nie. Tom hob die Hand, um auf Trahn zu zeigen, um ihn vor dem Präsidenten anzuklagen.