Der Andersgrüne
Ein Nachwort von Michael Miersch
Mit diesem Mann wird jeder Spaziergang zur Expedition. Erstens entdeckt Josef H. Reichholf überall Tiere, und zweitens kann er es nicht lassen, sie zu fangen. Nicht nur Spinnen oder Ringelnattern hält er nach blitzschnellem Zugreifen plötzlich in der Hand. Es kann vorkommen, dass er einen Schwan packt, den empört fauchenden Vogel so geschickt festhält, dass der sich nicht wehren kann, und seinem Begleiter in aller Ruhe erklärt, warum Höckerschwäne einen Höcker am Schnabel tragen. Womit wir bei einer weiteren typischen Eigenschaft Reichholfs wären: Wenn man sich von ihm verabschiedet, hat man immer etwas gelernt.
Weshalb wächst überall Löwenzahn? Warum haben Vögel Federn? Reichholf hat für alles eine natürliche Erklärung, kann evolutionäre Prozesse und ökologische Wechselwirkungen so anschaulich erklären wie kein Zweiter im deutschen Sprachraum. Ein großer Popularisierer zu sein, ist jedoch nicht sein einziges Talent. Immer steckt ein origineller Denkansatz hinter seinen Fragen, die wie im Krimi die Auflösung vorantreiben. Den Vögeln wuchsen keine Federn, weil eine Göttin der Evolution das Fliegen voraussah.
Federn waren zunächst Deponien für körpereigenen Sondermüll, durch die Reptilien überschüssige Eiweißstoffe loswurden. Zwei seiner Bücher tragen den Untertitel »Ökologische Überraschungen«. Der würde aber auch zu allen anderen seiner vielen Bücher passen, die inzwischen mehrere Regale füllen. Reichholf hat stets eine ökologische Überraschung in petto.
Seine Fähigkeit, Biologie verständlich zu vermitteln, machte ihn zu einem der bekanntesten Naturforscher Deutschlands. Mit dem Sigmund-Freud-Preis ehrte die Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung seine Qualität als Literat. Der Verband Deutscher Biologen verlieh ihm die Treviranus-Medaille für seine Leistungen als Naturwissenschaftler.
Leider gibt es auf Deutsch kein gutes Wort für das, was die Engländer »naturalist« nennen: ein Mensch, der die Natur kennt, liebt und unentwegt zu ergründen versucht. Es würde gut auf Reichholf passen. Wie die Gelehrten des 19. Jahrhunderts verengt er seinen Blick nicht auf ein kleines Spezialgebiet, sondern öffnet ihn weit, um das große Ganze zu sehen, die Partitur der Evolution.
Als Kind streifte Reichholf barfuß durch die Auen am unteren Inn und schrieb seine Beobachtungen über Wasservögel in ein Heft. Diese Heimat hat er nie wirklich verlassen. In München, wo er an der Zoologischen Staatssammlung forschte und an der Technischen Universität lehrte, hatte er lange Zeit nur eine Arbeitswohnung und fuhr am Wochenende zurück nach Niederbayern.
Dorthin, wo er aufgewachsen war und mit seinem Hund und einer gezähmten Krähe die Nachmittage am Innstausee verbrachte, zog es ihn immer wieder zurück. Die Insekten und Wasservögel dieser Landschaft waren seine ersten Studienobjekte. Seine Doktorarbeit verfasste er später über Wasserschmetterlinge. Nach der Emeritierung im Jahr 2010 zog es ihn wieder zurück in seine alte Heimat. Den leichten niederbayerischen Akzent hat er immer beibehalten.
Nach dem Studium der Biologie, Chemie, Geografie und Tropenmedizin ermöglichte ihm ein Stipendium einen einjährigen Aufenthalt in Brasilien, wo er die tropische Artenvielfalt erkundet. Gemeinsam mit Ernst Josef Fittkau, dem früheren Leiter der Zoologischen Staatssammlung, geht er auf weiteren Brasilien-Expeditionen der Frage nach, warum gerade der tropische Regenwald eine so große Formenfülle hervorbringt. Die Antwort enthält eine der ersten ökologischen Überraschungen, auf die er stößt: Nicht etwa ein Überfluss an Nährstoffen führt zur Artenvielfalt, sondern der Mangel.
Weil die Böden im Amazonas-Regenwald so karg sind, müssen sich Pflanzen und Tieren hoch spezialisieren, um jede noch so geringe Ressource auszunutzen. In Brasilien wird er auch Zeuge der Zerstörung und des Raubbaus, die bis heute weitergehen und ihm große Sorge bereiten. Um Flächen für die Landwirtschaft zu gewinnen, wird der Regenwald angezündet. Auf der Asche bauen Farmer Soja an, das nach Europa verschifft wird, um hierzulande Stalltiere zu mästen. »Unsere Schweine und Rinder fressen den Regenwald«, sagt Reichholf, »ein ökologisches Desaster.«
Weil ihm dieser und viele andere Brennpunkte blinder Naturzerstörung keine Ruhe lassen, engagiert er sich für den Naturschutz, lange bevor grüne Themen in Mode kommen. Zusammen mit Bernhard Grzimek, Horst Stern und Hubert Weinzierl gründet er in München die »Gruppe Ökologie«. Sie wird zur Keimzelle des späteren Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und bringt in den frühen 1970er Jahren die deutsche Umweltschutzbewegung auf den Weg. Viele Jahre engagiert er sich als Präsidiumsmitglied für den World Wide Fund for Nature (WWF).
Als Naturschützer treibt ihn die Frage um, wie man die Vielfalt am besten bewahren kann. Und was die Ursachen des Artensterbens sind. Als einer der Ersten erkennt er, dass die meisten Verluste nicht auf das Konto der viel gescholtenen Industrie gehen, die in Europa und Nordamerika seit über dreißig Jahren immer sauberer wird. »Die Landwirtschaft ist mit Abstand die wichtigste Ursache für den Artenrückgang«, sagt Reichholf bereits in den frühen 1990er Jahren, als diese Diagnose noch völlig abseitig klingt. Die Umweltverbände sind da weiterhin ganz auf rauchende Schlote und Giftbrühe aus Abwasserrohren fixiert. Doch die klassische Umweltverschmutzung wird immer geringer, und gleichwohl geht es vielen Pflanzen- und Tierarten nicht besser. Die Ursache, erklärt Reichholf, liegt in der Überdüngung der Böden. Mit Nährstoffreichtum kommen nur wenige Arten zurecht, weil die Evolution sich auf Mangel eingestellt hat. So blüht nur noch der Löwenzahn auf den Wiesen, die bunte Blumenvielfalt geht verloren und mit ihr Schmetterlinge und Vögel. Heute ist das ein ökologischer Gemeinplatz, damals war es eine Provokation.
Zu einem Anhänger des Biolandbaus wird er jedoch nicht, sondern betrachtet die alternative Landwirtschaft genauso kritisch wie die konventionelle. Die altertümlichen Bio-Methoden sind seiner Ansicht nach oftmals sogar schlechter. »Der im Biolandbau verbotene Kunstdünger ist ökologisch vorteilhaft«, sagt Reichholf. »Mineralischer Dünger kann besser dosiert werden als Tierfäkalien – egal ob sie ›bio‹ sind oder nicht. Mit den heutigen technischen Methoden kann der Landwirt die Düngemittel sehr präzise applizieren und exakt zur richtigen Zeit ausbringen, damit die Pflanzen die Nährstoffe optimal aufnehmen können. Dadurch verbleibt weniger Stickstoff im Boden, und es gibt weniger Auswaschung in die Bäche und ins Grundwasser.«
Dass auch der offizielle Naturschutz heute kritisch auf die Landwirtschaft blickt, ist zu einem großen Teil dem Forscher aus Niederbayern zu verdanken. Ebenso die Erkenntnis, dass die Städte inzwischen mehr Artenvielfalt beherbergen als das Land. Auch dies wird Reichholf anfangs als Ketzerei ausgelegt. Wie kann ein Biologe Großstädte loben, die doch nichts als Betonwüsten sind? Doch die Fakten geben ihm recht. In Berlin nisten mehr Vogelarten als irgendwo sonst in Deutschland.
Boshafte Anfeindungen von Umweltverbandsfunktionären halten ihn nicht davon ab, weiterhin mit Biss und einer Portion Schalk populäre Irrtümer über die Ökologie zu korrigieren. Sein großes Thema ist der Wandel. »Das statische Naturbild vieler Naturschützer, die einen momentanen Zustand konservieren wollen, steht im Widerspruch zur Evolution«, sagt er. Immer wieder stößt er mit seinen Büchern und Vorträgen Debatten über das Naturbild der Gesellschaft an. Romantische Naturtümelei kann dieser heimliche Romantiker trefflich demontieren und mit guten Argumenten die apokalyptischen Prognosen grüner Ideologen parieren. Ihn stören die düsteren Szenarien, die Zukunftsängste schüren und den jungen Leuten ihren Optimismus nehmen, auch den Optimismus, die Dinge besser zu machen und die Probleme lösen zu können.
Während in Amerika etliche prominente Grüne für eine neue, pragmatische, entideologisierte Umweltpolitik eintreten, zählt Reicholf in Deutschland zu einer winzigen Minderheit von Autoren, die die oftmals pseudo-ökologischen Fehlurteile grüner Politiker und Verbandsfunktionäre kritisch beleuchten. »Wir können«, sagt er, »viel besser als Außenstehende beurteilen, was abgelaufen ist. Wir erlebten mit, wie sich die guten und gut gemeinten Anfänge zur Ideologie veränderten. Wir sahen, wie es zunehmend schwieriger wurde, einmal festgelegte Positionen aufgrund von besseren Daten und neuen Einsichten zu ändern. Mich stört diese Ideologisierung des Natur- und Umweltschutzes, die sich mit wissenschaftlicher Redlichkeit vielfach nicht vereinbaren lässt.« Die grüne Weltsicht sei eine Ersatzreligion geworden, findet er. Unerschütterlicher Glaube rückte vielfach an die Stelle des besseren Arguments.
»Die schärfsten Kritiker der Elche, waren früher selber welche«, reimte der Dichter Robert Gernhardt. Jede Bewegung bringt ihre Zweifler hervor. Meist waren es solche Abtrünnigen, die die inneren Widersprüche von Religionen und Weltanschauungen offenlegten. Grünes Renegatentum ist in vielerlei Hinsicht das historische Spiegelbild der Sozialismus-Kritik. Auch diese wurde am überzeugendsten von linken Intellektuellen entwickelt. Anders als die Ketzer früherer Ideologien müssen Abweichler vom grünen Konsens nicht um ihr Leben fürchten. Jedoch um ihren Ruf. Reichholf wurde von den Hütern der reinen Lehre beschimpft und als Verharmloser dargestellt, der Umweltverschmutzung, Klimakatastrophe und Naturplünderung kleinredet. Doch es gelingt ihm immer wieder, Nachdenklichkeit auszulösen. »Häufig begegnet mir im Gespräch mit Verbandsfunktionären große Zustimmung«, sagt er, »wenngleich hinter der vorgehaltenen Hand. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass die notwendigen Änderungen und Anpassungen möglich sind und kommen werden. Man braucht einfach Zeit und Geduld.«
Eine besonders hitzige Debatte löste sein Bestseller »Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends« aus. Dort argumentierte er, dass Warmzeiten in der Vergangenheit gut für Mensch und Natur waren und deshalb eine Klimaerwärmung keine Katastrophe wäre. Die warmen Phasen der Vergangenheit brachten hohe Artenvielfalt hervor. Sie bescherten reiche Ernten und kulturelle Blüte. Daraufhin gingen die Propheten einer kommenden Klimakatastrophe wütend auf ihn los. Aggressiv erlebt man Reichholf in solchen Auseinandersetzungen nie. Manchmal blitzt jedoch der niederbayerische Lausbub auf. Dann schmunzelt er und nimmt seinen Gegnern spielerisch mit einer Anekdote den Wind aus den Segeln.
Viele, die sich über seine Häresien aufregen, kennen ihn nur als Kritiker der Klimapolitik. Doch dies ist lediglich eine Seite dieses Multitalents. Jede einzelne würde normal begabten Menschen als Vollbeschäftigung reichen. Er forscht und schreibt über die Entstehungsgeschichte des Menschen und den »Ursprung der Schönheit« (2011), verfasst ein poetisches Waldbuch mit seiner aus Japan stammenden Frau Miki Sakamoto und war bis zum Jahr 2010 im Hauptberuf Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung München. Dass dieser gelehrte, weltläufige und jung gebliebene Anwalt des Wandels künftig nur noch Blumen gießt, ist unwahrscheinlich.
Michael Miersch leitet das Ressort Forschung, Technik und Medizin bei FOCUS. Er schrieb – meist gemeinsam mit Dirk Maxeiner – Bücher über Wissenschaft und Politik, darunter den Bestseller »Lexikon der Öko-Irrtümer«. Außerdem ist er Autor von Tierfilmen. Seine Filme, Bücher, Reportagen und Kolumnen wurden in viele Sprachen übersetzt und erhielten Auszeichnungen im In- und Ausland. Die Idee zu dem vorliegenden Buch entstand bei TV-Interviews, die Miersch mit Josef H. Reichholf für WELT-Online führte. Mehr über Michael Miersch unter www.maxeiner-miersch.de und www.achgut.com.