Der Schmutz liebende Kuckuck

Warum ist dieser bekannte Vogel so selten geworden?

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Den Ruf des Kuckucks kennt jedes Kind. Zu hören und zu sehen bekommt man ihn immer seltener. Dabei gehört sein Ruf zum Frühling wie das Erblühen der Natur. Dennoch ist sein »Ruf« schlecht, weil er als Brutparasit die armen kleinen Singvögel ausnützt. Mit »Kuckuckskindern« bezeichnet man keineswegs nur Jungkuckucke, sondern die Ergebnisse von heimlichen Seitensprüngen, bei denen ein »Kuckucksei« in den Schoß der untreuen Frauen gelegt wurde. Aus moralischer Sicht sollte das Verschwinden des Kuckucks eigentlich begrüßt werden. Doch ausgerechnet bei diesem Vogel machen wir eine Ausnahme.

Der Kuckuck galt lange als Glücksbringer. Auf dem Land hieß es, man sollte die ersten Kuckucksrufe, die man hört, genau zählen, weil sie verraten, wie der Lohn ausfallen wird. Das war eine geniale Idee der Bauern, ihre Knechte und Mägde zu besonders frühem Aufstehen anzuregen, weil es in der Zeit der Rückkehr des Kuckucks aus dem afrikanischen Winterquartier Mitte bis Ende April so viel Arbeit auf den Feldern gab.

In den frühen Morgenstunden rufen aber die Kuckucke nicht nur am häufigsten, sondern auch am längsten. Später, wenn der Lohn allzu leichtfertig verpfändet worden war, »holte ihn der Kuckuck«. Und das mit den Kuckuckskindern in fremden Nestern nahm man in jenen Zeiten gar nicht so übel, weil es unter Menschen eine weit verbreitete Praxis war. Sie kam der genetischen Durchmischung der noch wenig mobilen Landbevölkerung insgesamt zugute.

Erstaunlich ist, wie viel man früher schon über das Leben des Kuckucks wusste. Schilderungen zufolge muss der Kuckuck früher erheblich häufiger gewesen und nahezu flächendeckend vorgekommen sein. Sogar in die Dörfer und Städte kam er, sodass die Vorstellung entstand, er würde sich im Herbst in Sperber verwandeln und die eigenen Zieheltern jagen. Den durchaus passenden Vergleich mit dem Sperber kann nur machen, wer den Kuckuck kennt. Und dass er die Eier oder die noch kleinen Jungen der Wirtseltern aus dem Nest wirft, gleich nachdem er selbst aus dem Ei geschlüpft ist, sieht man nicht so nebenbei. Warum aber ist der Kuckuck so selten geworden? Die Antwort darauf wird vielen Naturfreunden nicht gefallen. Unsere Natur ist inzwischen zu sauber!

Eine solche Feststellung sollte gut begründet sein. Sonst wird man »zum Kuckuck« geschickt. Gehen wir also ganz »mathematisch« vor, wie man es in der Schule lernt. Das geschieht in drei Schritten: Die Voraussetzungen sind zu klären, die Behauptung wird aufgestellt und dann muss der Beweis geführt werden.

Was sind die Voraussetzungen im Falle des Kuckucks? Singvogelnester natürlich, und zwar solche im passenden Zustand. Das Kuckuckweibchen muss genau beobachten, wann das Legen der Eier bei der ausgewählten Wirtsvogelart beginnt. Das können vor allem Rotkehlchen oder Heckenbraunellen, Bachstelzen oder Rohrsänger sein. Das Kuckucksweibchen ist auf die Wirtsvogelart geprägt, bei der es selbst aufwuchs. Sagen wir, dass es sich um einen »Rohrsängerkuckuck« handelt. Dann beobachtet das Kuckucksweibchen, wie sich das Brutgeschäft bei den Rohrsängern im Schilf entwickelt. Dabei muss es sehr vorsichtig vorgehen. Denn sobald die Wirtsvögel einen Kuckuck entdecken, »hassen« sie auf ihn, um ihn zu vertreiben. Das geschieht jedoch häufiger bei Kuckucksmännchen, sodass es sich dabei vielleicht sogar um ein Ablenkungsmanöver handelt.

Die Kuckucksweibchen können sich dann ungesehen den Nestern nähern, wenn deren Besitzer gerade dabei sind, ein Kuckucksmännchen zu vertreiben. Am besten klappt es mit dem Einschmuggeln des Eis, wenn schon zwei oder drei Eier im Nest sind. Eines frisst die Kuckucksfrau, ein eigenes legt sie hinein. Wäre das Nest dagegen noch leer, würde das fremde Ei sofort erkannt. Kommt es zu spät, schlüpfen die Wirtsvogeljungen zu früh und können den später kommenden Jungkuckuck unterdrücken. Schiefgehen kann es dennoch, weil die Wirtseltern etwas merken oder ein anderer Nesträuber beides holt, die Wirtsvogeleier und das Kuckucksei. Parasiten haben es nicht leicht.

Die Abwehr versucht überall zuzuschlagen. Deshalb reicht ein Nest bei Weitem nicht aus, dem Kuckuck Erfolg zu garantieren. Das Weibchen legt bis zu 15 Eier in kurzer Zeit, die sie alle in einem geeigneten Nest unterbringen sollte. Was bedeutet, dass die Wirtsvogelart häufig genug sein muss. 15 fremde Nester unter Beobachtung zu halten, fällt einem Kuckucksweibchen noch schwerer als einem Vogelkundler, weil der Eiräuber weder über ein Fernglas noch über Techniken wie Nestmarkierungen verfügt.

Wer versucht, ein volles Dutzend Rotkehlchennester ausfindig zu machen, wird viel Zeit dazu brauchen, Geduld und Glück, aber vor allem muss der Rotkehlchenbestand in der Gegend groß genug sein. Bei den Rohrsängern geht es leichter, weil sich diese einfach den Schilfgürtel am Ufer eines Gewässers Revier an Revier aufteilen. Da reicht unter Umständen schon ein Kilometer Ufer, um die benötigte Mindestzahl von Rohrsängerrevieren zusammenzubekommen.

Rohrsänger waren und sind daher die begehrtesten Wirte des Kuckucks. Sie haben einen weiteren Vorteil. Ihr Lebensraum, das Röhricht, ist ganz einfach strukturiert. Die zwischen die Schilfhalme eingeflochtenen Nester werden meistens in ein- bis eineinhalb Metern Höhe über dem Wasserspiegel gebaut. Sie sind leicht zu finden. Gleichzeitig fällt es nicht schwer, sich im dichten Rohrwald zu verstecken. Und noch ein Vorteil ist mit den Rohrsängern verbunden, der bedeutendste überhaupt. Ihnen wird bei schlechtem Wetter die Nahrung nicht knapp, denn bei Regenwetter schlüpfen die Wasserinsekten geradezu massenhaft. Es sind alles gut schmeckende, ungiftige Insekten. Genau solche, die der Jungkuckuck braucht, denn seine eigentlichen Eltern fressen haarige, giftige Raupen. Damit könnten sie ihren Nachwuchs nicht füttern. Der Kuckuck ist zum Parasitieren von Singvogelbruten gezwungen. Sie liefern die Nahrung, die für seine Jungen passt.

Das Schlüpfen der Wasserinsekten setzt je nach Art der Gewässer und der Wassertemperaturen von Ende Mai bis Mitte Juni ein. Die Mitte bis Ende April aus dem Winterquartier zurückgekehrten Kuckucke haben genug Zeit, sich auf Nestbau und Eiablage der Wirtsvögel einzustellen. Bei den Rotkehlchen ist die erste Brut schon voll in Gang gekommen, wenn der Kuckuck eintrifft. Da passt die zweite besser.

So, das reicht zur Erläuterung der Voraussetzungen für die Behauptung, unsere Natur sei zu sauber und deswegen der Kuckuck viel seltener geworden als früher. Wie sieht nun der »mathematische« Beweis aus?

Das Röhricht ermöglicht(e) deswegen sehr hohe Bestände von Rohrsängern, weil, wie schon ausgeführt, die Insektennahrung aus dem Wasser kommt. Die weitaus größte Masse liefern kleine Mücken, die nicht stechen, aber Stechmücken ähnlich sehen. Zuckmücken heißen sie zoologisch, wissenschaftlich Chironomiden. Sie gelten als Anzeiger für das Ausmaß der Gewässerverschmutzung. Ihre Larven leben nämlich in den obersten Schichten des Bodenschlamms der Gewässer von organischen Abfall- und Reststoffen. Wo das Gewässer sehr stark belastet ist, zeichnen sich bestimmte Zuckmückenarten dadurch aus, dass sie als fertige Insekten sehr groß (also sehr ergiebig aus der Sicht der Vögel) werden und als Larven einen roten Blutfarbstoff in sich tragen. Er ähnelt stark unserem eigenen roten Blutfarbstoff, dem Hämoglobin, und seine Funktion besteht darin, in sauerstoffarmer Umgebung den Körper mit dem notwendigen Atemgas zu versorgen.

Mit organischen Reststoffen stark verschmutze Gewässer sind hoch produktiv an Roten Mückenlarven und danach an schwärmenden Insekten dieser Zuckmücken. Wie Rauchsäulen steigen sie zu ihren Tänzen in Wassernähe auf, in denen der Sirrton der Flügel angibt, um welche Art es sich handelt.

Auch andere Wasserinsekten vermehren sich massenhaft, wenn sie gut ernährt werden. Wie die bekannten Eintagsfliegen, die es früher in solchen Massen gab, dass ihre toten Leiber nach einem Schwärmflug die Uferstraßen mit einer zentimeterhohen, glitschigen Schicht bedeckten.

Unter solchen Bedingungen siedeln die Rohrsänger dicht an dicht – ideal für den Kuckuck. Die organischen Reststoffe stammten aus drei Quellen. Die eine umfasst den natürlichen Abfall an Blättern und anderem pflanzlichen Material von der Ufervegetation der Flussauen. Die zweite Quelle war das Weidevieh in den feuchten Niederungen, dessen Exkremente fein aufgearbeitete, pflanzliche Reststoffe mit Bakterien enthalten. Ein Kuhfladen ist so ergiebig, dass sich eine eigene Welt von Nutzern entwickelt hat. Die dritte Quelle war das Abwasser der Menschen. Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde es ungereinigt in die Gewässer eingeleitet, die davon gedüngt wurden.

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Schmackhafte Kleininsekten verfüttern die Wirtseltern,
hier ein Teichrohrsänger, dem Jungkuckuck.

Wir betrachteten unser eigenes Abwasser und die Ausscheidungen des Viehs aus guten Gründen als Verschmutzung der Gewässer. Kläranlagen wurden gebaut und sind in ihrem Wirkungsgrad technisch so fortschrittlich, dass menschliches Abwasser in unserer Zeit nahezu vollständig geklärt wird. Die Gewässer belastet es nicht mehr. In derselben Zeit der letzten drei bis vier Jahrzehnte kam das Vieh von der Weide in die Ställe. Seine Ausscheidungen werden über die Schwemmentmistung zur Gülle. An die See- und Flussufer kommen Rinder nur noch selten oder gar nicht mehr. Damit verschwand auch diese Quelle der organischen Reststoffe. Übrig blieb der natürliche Bestandsabfall aus Laub und anderem pflanzlichen Material. Doch der ist weit entfernt von natürlichen Verhältnissen, weil die Flussauen zu über 90 Prozent gerodet und in landwirtschaftliche Nutzflächen umgewandelt worden sind. Die Flüsse hat man begradigt, sodass sie den Rest ihrer organischen Fracht viel zu schnell aus der Landschaft abtransportieren. Die Folge ist, dass unsere wieder sauber gewordenen Gewässer weit weniger Nährtiere für die Fische hervorbringen als früher.

Die Fischerei beklagt die geringen Fischbestände, die sie weithin nur durch Aussetzen von in Zuchtanstalten herangezogenen Fischen einigermaßen aufrechterhalten kann. An den Ufern entwickeln sich zwar aufgrund der übermäßigen Düngung aus der Landwirtschaft die Stechmücken in Massen, weil deren Larven von mikroskopisch kleinen Algen leben, aber kaum noch die viel wichtigeren Zuckmücken.

Wo aber aus dem Wasser zu wenig kommt, nützt das schönste Röhricht wenig. Es wird zur Kulisse, in der der Wind rauscht, aber kaum noch Rohrsänger singen. Dem Kuckuck schwindet die Lebensbasis. Sein Verschwinden sagt daher sehr viel aus über den Zustand der Natur. Viel mehr als so manche »offizielle Messung«. Denn bei der Gewässerbeurteilung geht es ausschließlich um Standards, die auf den Menschen bezogen sind. Ziel der wasserwirtschaftlichen Maßnahmen ist es nicht, Fische und Vögel, Muscheln, Libellen und Kleinkrebse zu fördern, sondern das Wasser so rein wie möglich zu machen, dass Menschen darin baden (und dabei auch einiges zurücklassen) können. Daher kamen in den letzten Jahrzehnten so viele Wassertiere in die Roten Listen der gefährdeten Arten. Die Auen wurden ihnen genommen und dann auch der Ersatz dafür als Nahrungsquelle.

Viele Milliarden wurden ausgegeben für die Reinhaltung der Gewässer, aber nur bei den menschlichen Abwässern. Die dreifache Menge, die aus der Nutztierhaltung stammt, wird ungereinigt frei über Feld und Flur ausgebracht. Lohnte da das viele Geld? Der Kuckuck ruft’s! Denn auch in den Fluren und Wäldern wurde er selten, weil die Landwirtschaft die Fülle der Kleininsekten weggedüngt und totgespritzt hat. Wir könnten längst seinen Ruf umdeuten. Wo er noch zu hören ist, geht es der Natur besser. Die Wirtsvögel hatten unter ihm weit weniger gelitten als unter den Folgen der von Menschen verursachten Naturveränderungen. Überzeugt die Beweisführung?

Naturgeschichte
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