Das schönste
Geweih
im ganzen Land
Sind Hirsche wirklich
solche Angeber?
Ein Kronleuchter auf dem Kopf, was für ein Wahnwitz für einen Waldbewohner, und ein sehr schwerer noch dazu. Wie kommt die Natur nur dazu, so etwas hervorzubringen? Darwin nannte den Vorgang »sexuelle Selektion«. Im Klartext heißt das »Damenwahl«. Was geht in einer Hirschkuh vor, wenn sie sich für so ein Schaustück entscheidet? Und es zu züchten! Denn »sexuelle Selektion« bedeutet, dass die Hirschkühe jene Hirsche bevorzugen, die das größere Geweih tragen. Die Erbanlagen dazu geben sie an ihre Söhne weiter. Entsteht da nicht zwangsläufig ein Teufelskreis von immer größer, immer gewaltiger – und immer hinderlicher? Irgendwann bleibt er zwischen den Bäumen stecken, der Hirsch mit dem größten Geweih, und der Wolf braucht nur zuzubeißen. Führt die Damenwahl nicht zwangsläufig in die Sackgasse?
Die klare Antwort ist: »Nein!«. Denn sonst gäbe es Hirsche und andere »Angeber« längst nicht mehr. Genug Zeit verstrich, in denen die natürlichen Feinde diese Schwächen hätten ausnutzen können. Hirsche gibt es nicht erst seit ein paar Tausend, sondern seit Hunderttausenden von Jahren. Allein die Tatsache, dass sie überlebt haben, ist Beweis genug, dass ihr Geweih nicht so hinderlich sein kann, wie es aussieht. Nur weil Männer so ein Ding nicht mit sich herumtragen möchten, muss es nicht gleich schlecht sein. Nur unpassend für uns. Aber der Mensch muss es ja nicht tragen. Dafür lässt er sich tragen, wenn er besonders angeben möchte. In früheren Zeiten übernahmen Untergebene und Sklaven diese Ego-Beförderung, heutzutage teure, schnelle Autos.
Doch immer, wenn sich Ähnlichkeiten mit dem Menschen oder gar Übereinstimmungen mit seinem Verhalten aufdrängen, empfiehlt es sich, vorsichtig und besonders kritisch zu sein. Das Leben richtet sich nicht nach uns. Wir sollten auf andere Erklärungen gefasst sein, die mit dem Leben der anderen und nicht mit unserem übereinstimmen. Der Hirsch ist so ein Fall mit seinem Geweih. Es ist ein Statussymbol. Es entstand durch Damenwahl.
Dass die Wählenden weiblichen Hirsche »Kühe« genannt werden, ist eine der Unzulänglichkeiten unserer Sprache, die zudem mit abwertenden Vorurteilen über Intelligenz verknüpft sind. Denn es sind die Erfahrungen alter Hirschkühe, die das Rudel erfolgreich durch die Jahre führen, nicht die Stärke große Geweihe tragender Hirsche. Diese interessieren sich nur während der Brunftzeit für das weibliche Geschlecht ihrer Art, den Rest des Jahres nicht. Deshalb werden sie nach Merkmalen gewählt, die aus unserer menschlichen Sicht durchaus vernünftig sind.
Ein kurzer Überblick über das Leben der Hirsche im Jahreslauf gibt uns die zum Verständnis des Geweihs nötigen Anhaltspunkte. Es entsteht jedes Jahr neu. Nachdem das alte Geweih im Spätwinter abgeworfen wurde, fängt sehr schnell ein neues zu wachsen an, vergrößert sich, entwickelt sich und wird zu einem Gebilde, das vom Alter des Hirsches abhängt. Junge Hirsche fangen als »Spießer« an. Voll ausgewachsene bilden Kronen aus mehreren Zacken am Ende der beiden Geweihstangen aus. Im Alter von 9 bis 13 Jahren erreichen die Tiere meist den Höhepunkt ihrer Kraft. In diesem Lebensabschnitt wird ihr Geweih am größten und (vielleicht nicht nur nach unserer Ansicht) am eindrucksvollsten.
Mit weiter fortschreitendem Alter setzt der Hirsch zurück, wie es die Jäger ausdrücken. Sein Geweih wird wieder einfacher, weniger wuchtig und leichter. Je nach Region erreicht das Geweih eines Rothirsches auf dem Höhepunkt seiner Kraft zwischen zehn und gut 20 Kilogramm Gewicht. Elchgeweihe – Elche sind auch Hirsche – werden bis über 30 Kilogramm schwer. Das gewaltigste Geweih, das wir kennen, war das des eiszeitlichen Riesenhirsches mit bis zu 50 Kilogramm Gewicht.
Gebildet wird das Geweih aus einem Paar Stirnzapfen heraus von einer stark durchbluteten Haut, die an Samt erinnert und deswegen von den Jägern nicht »Samt«, sondern »Bast« genannt wird. Sobald dieser abstirbt, was gegen Ende des Hochsommers geschieht, ist das Geweih nichts mehr weiter als ein totes Gebilde. Die Hirsche entledigen sich der Bastfetzen durch »Fegen«, »forkeln« immer häufiger Büsche und junge Bäume, so als ob diese Gegner in einem Kampf wären, und sie werden nun ungesellig. Die ganze Zeit, in der das Geweih heranwuchs, hielten sie friedlich, Geweih an Geweih, in Männergruppen zusammen. Sie waren gleichsam Kameraden. Mit Beginn des Herbstes werden sie Gegner, die sich, wenn sie die volle Kraft erreicht haben, bis aufs Blut bekämpfen.
Das Geweih dient als Waffe in diesen Kämpfen, bei denen es darum geht, die Gunst der Weibchen eines Rudels zu erlangen. Die Verzweigungen der spitzen Geweihstangen, vor allem ihre Aufteilung in »Kronen« am Ende, gewährleisten einen wie es uns scheint fairen Kampf ohne schlimme Verletzungen.
Vorher, während der oft länger dauernden Kämpfe und auch danach, als Sieger, schreien Platzhirsch wie Herausforderer ihre Entschlossenheit mit aller Kraft den Gegnern zu: Die Hirsche röhren! Behauptet sich nach Tagen oder Wochen kräftezehrender Kämpfe ein Hirsch am Brunftplatz, so ist ihm das Rudel der nun wieder aufnahmebereiten Weibchen sicher. Er wird Vater aller Hirschkälber dieses Rudels im nächsten Jahr sein; fast aller zumindest, denn wenn sich eine attraktive Möglichkeit zum Fremdgehen für eine junge Hirschkuh bieten sollte, probiert sie’s aus.
Fast erübrigt es sich, festzustellen, dass das Geweih eben nicht nur »Schau« ist, sondern Bedeutung hat. Gegenüber den jüngeren Hirschen drückt es weithin sichtbar aus, wer hier das Sagen (das »Röhren«) hat und dass Zudringlichkeit mit schmerzhaften Schlägen geahndet wird. Ob Herausforderer mit ähnlich starkem Geweih vorab an kleinen Unterschieden sehen können, ob sich ein Kampf lohnen könnte, gilt als eher unwahrscheinlich, weil sie für das eigene Geweih zum Begutachten keinen Spiegel haben.
Begutachtung ist Sache der Hirschkühe. Die Herausforderung teilt der Hirsch lautstark mit seinem Röhren mit. Je tiefer der Ton, desto größer das Brustvolumen. Der tiefste Bass dürfte somit auch am meisten Luft im Kampf haben. Und die entscheidet, nicht das Geweih unmittelbar.
Selbstverständlich hören auch die Hirschkühe an der Stimme, ob der Herausforderer des Platzhirsches wirklich etwas zu sagen hat oder ob sich ein noch zu junger an sie heranmacht. Überhaupt liegt es an ihnen, sich für den Platzhirsch zu entscheiden. Und bei ihm zu bleiben. Kein noch so starker Hirsch könnte 20, 30 oder mehr Hirschkühe zusammenhalten, wenn diese nicht bei ihm bleiben wollten. Er muss seinen »Harem« kraft seiner Anziehungskraft um sich geschart halten. Er muss überzeugen, bevor er zum Zeugen zugelassen wird. Am überzeugendsten sind seine Erfolge im Kampf mit den Gegnern, nicht die Schönheit seines Geweihs. Diese wird gleichsam vorausgesetzt. Sie darf variieren. Kaum ein Geweih eines reifen Hirsches gleicht dem anderen.
Die Jäger kennen und schätzen die individuelle Variation. Sie bewerten die Trophäen nach dem Gewicht, nach der Zahl der Spitzen (18-Ender, 20-Ender, gerade oder ungerade) und nach der Anlage, das heißt nach Länge der Stangen, ihrer Auslage und ihrer Symmetrie. Beim Abschuss und der nachfolgenden Bewertung wählen sie, die Jäger, offensichtlich stärker als die Hirschkühe selbst. So direkt wirkt die sexuelle Selektion also gar nicht. Wirkt sie überhaupt? Sicher tut sie das. Nur anders, als wir meinen.
Die Hirschkuh schaut sich den Hirsch nicht an und zählt die Spitzen an seinem Geweih. Für sie sind Alter des Hirsches und seine Kondition wichtiger. Aus dem Alter geht hervor, dass er lange genug überlebt hat und somit fit ist. Aus der momentanen Stärke, dass er hier und jetzt auch gesund ist. Doch damit ist das Geweih eigentlich überflüssig geworden. Alt genug und gesund kann man – ganz allgemein ausgedrückt – doch auch ohne Geweih sein. Genau das ist der entscheidende Punkt, in der Deutung vorsichtig zu sein. Weil sich Jäger gern mit einem kapitalen Rothirschgeweih (an der Wand) schmücken, muss dieses nicht der entsprechenden Bevorzugung von Hirschkühen zu verdanken sein. Es ginge auch ohne.
Wäre dem so (gewesen), hätte sich tatsächlich eine Spirale hochschrauben können, die aus kleinen Geweihen immer größere machte, weil diese bevorzugt wurden, bis sie wirklich hinderlich geworden wären.
Es gibt einen ganz anderen Zusammenhang, den wir uns ansehen sollten, um hinter das Geheimnis des Hirschgeweihs zu kommen. Den Weg weist das Geweih. Es besteht aus derselben Substanz (Kalziumphosphat mit dem »Knochenkitt« Kollagen), aus dem die Knochen bestehen. Während im Körper der Hirschkuh das Kalb heranwächst und ein festes Knochenskelett bekommt, mit dem es kurz nach der Geburt auf eigenen Beinen stehen kann, wächst dem Hirsch das Geweih. Es entspricht ungefähr dem Gewicht der Knochen des Hirschkalbes bei der Geburt und dem Zuwachs, den es als Jungtier über die Muttermilch erhält.
Noch einfacher ausgedrückt: Was die Hirschkuh ins Kalb investiert, geht beim Hirsch ins Geweih. Wie das Kalb mit der Geburt vom Mutterleib getrennt wird, löst sich das Geweih vom Körper des Hirsches. Lediglich die Zeiten sind etwas verschoben. So sehr aber auch wieder nicht, wenn wir das Säugen des Kalbes mit berücksichtigen. Dann durchlaufen Schwangerschaft und Versorgung des Kalbes ziemlich genau das Jahr, das den Zyklus des Hirsches zwischen Abwurf der Stangen, Neuentwicklung und Einsatz zum Kampf während der Brunft ausmacht.
Die Hirschkuh investiert aber mehr als nur Kalziumphosphat und Knochenkitt in ihr Kalb. Es bekommt von der Mutter während der Entwicklung vor der Geburt all jene Stoffe, die den Weichkörper bilden. Diesen Anteil steckt der Hirsch Jahr für Jahr in die Verbesserung seiner körperlichen Kondition. Er wird ziemlich genau um jenen Betrag schwerer, der dem Körper des Kalbes und seiner nachgeburtlichen Entwicklung bis zum Abstillen entspricht. So wird der Hirsch schwerer und schwerer, Jahr um Jahr, während die Hirschkuh ihr Gewicht hält, sobald sie ihr erstes Kalb geboren hat.
Wo das hinführen müsste, braucht man sich gar nicht auszurechnen. Nach wenigen Jahren übertrifft der Hirsch die Hirschkuh ganz beträchtlich, und irgendwann muss Schluss damit sein, immer schwerer zu werden. Dann ist es Zeit, die Gewichtszunahme durch die immer häufigeren und immer länger dauernden Kämpfe zu bremsen und sogar für Monate wieder rückgängig zu machen.
Die Brunft zehrt so sehr an den Kräften der alten Hirsche, dass sie an Kondition verlieren. Und die nächsten Geweihe an Größe nicht mehr zunehmen. Sie sind der Ausgleich für die Leistung der Muttertiere. Sie sind kein Luxus, und sie wären überhaupt nicht hinderlich, würden die Hirsche nicht ausgerechnet ins Dickicht hineingezwungen, weil die Verfolgungen, denen sie seitens des Menschen ausgesetzt sind, sie so scheu gemacht haben.
Es gibt Inseln im Nordatlantik, da leben die Hirsche auf völlig baumfreiem Gelände das beste Leben. Wie ihre entfernteren Verwandten, die Rentiere Eurasiens und die Karibus Nordamerikas auch. Bei diesen Tundrahirschen tragen sogar die Weibchen Geweihe. Diese Gebilde sind nämlich für andere Zwecke durchaus sehr nützlich. Mit den bei Rentieren besonders ausgebildeten, nach vorne gerichteten Sprossen, den in der Jägersprache Augsprossen genannten Geweihverzweigungen, schieben sie Schnee weg.
Generell hilft das Geweih aber, Feinde, die an den Flanken anzugreifen versuchen, abzuhalten. Das seitlich ausladende Geweih ist eine gute Seitenpanzerung gegen Wölfe; am besten wirkte es wahrscheinlich beim Riesenhirsch. In einer Zeit, in der Hirsche mit Wölfen nichts mehr zu tun haben, ihre Geweihe aber fast ausschließlich nach den Augen der Jäger taxiert werden, verminderte sich diese Funktion bis zur Bedeutungslosigkeit.
Längst sind auch die Weibchenrudel vielerorts zu groß, weil zu wenige richtig gute Platzhirsche am Leben gelassen werden. Nur in besonderen Wildschutzgebieten wie in den Brohmer Bergen der Deutschen Wildtierstiftung und in den militärischen Sperrgebieten, herrschen natürlichere Verhältnisse beim Rotwild. Dort gibt es zahlreiche Kronenhirsche, kleinere Brunftrudel und viele nachdrängende Junghirsche. Das Überleben der Kronenhirsche in der Natur stellt dort ein verlässliches Signal für die Hirschkühe dar. Es war und ist keine Angeberei, ein Geweih mit vielen Enden auf dem Kopf zu tragen, sondern besagt, ich habe so und so viele Jahre überlebt, ich bin gesund. Im Kampf mit den Gegnern zeigt sich dann, wer im allgemeinen Angebot an fitten Hirschen der Fitteste ist.
So war denn auch der Riesenhirsch keine Sackgasse der Evolution, in die er von seinen Hirschkühen hineingezogen worden war, sondern ein Tier, das unter den Ernährungsbedingungen der Eiszeitnatur bestens gedieh und sich mit dem gewaltigen Geweih der Wolfsangriffe erwehrte; vielleicht auch der Löwen, die es damals im europäisch-nordasiatischen Eiszeitland noch gegeben hatte. Er starb aus, als sein Grasland, die Mammutsteppe, verschwand. Vielleicht halfen die Menschen als Eiszeitjäger dabei mit, denn der Riesenhirsch gehört zu jenen Tieren, die in eiszeitlichen Höhlenmalereien dargestellt wurden.