Der seltene Schmetterling
und die Orchidee

Warum sind die Tropenwälder so artenreich?

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Der Auwald im Frühling: Überall singen Vögel, frisches Grün sprießt und wir können uns – mehr oder weniger erfolgreich – darin üben, zu bestimmen, um welche Arten von Bäumen und Sträuchern es sich handelt. Ganz ähnlich sieht es in den größeren Parkanlagen der Städte aus. Eine für den Anfang verwirrende Vielfalt umgibt uns, wenn wir nur die Augen und die Ohren dafür öffnen. Nur in den einförmigen, als Monokulturen gepflanzten Fichtenwäldern erwarten wir nicht, dass über uns eine Woge der Artenvielfalt hereinbricht, in der sich nur der Kenner zurechtfindet.

Und was ist der erste Eindruck von richtigem tropischem Regenwald? Dumpfes Grün, das sich schwer in verschiedene Baumarten aufdröseln lässt, tagsüber kaum ein Vogelruf. Nach Affen, die nach Herzenslust in den Bäumen herumturnen, hält man vergeblich Ausschau, und nur gelegentlich fliegt ein Schmetterling vorüber. Wer möchte da glauben, dass hier die mit Abstand größte Vielfalt des Lebens zu Hause ist? Ameisen, ja, die fallen schon auf, und ein modriger Geruch in der Schwüle. Zeitweise schrillen Zikaden, und manchmal, vor allem in der kurzen Abend- und Morgendämmerung, rufen, nein, pfeifen Frösche.

Mancher Besucher, der zum ersten Mal den amazonischen Regenwald erlebt, fragt sich, ob auch hier alles schon so ausgeplündert ist, dass nur noch die Bäume als Kulisse stehen. Wer das phantastische Tierleben Afrikas in den riesigen Nationalparks und Wildschutzgebieten erlebt hat und Natur pur mit einem Glas Whiskey on the rocks in der Hand, umgeben von bunten Vögeln genießen konnte, wird vom Regenwald in Amazonien enttäuscht sein. Auch anderswo bieten tropische Regenwälder nur wenig mehr an ersten Eindrücken, am ehesten noch in Costa Rica und stellenweise auch in Südostasien. Und der erste Eindruck dauert an. Tage und Wochen vergehen, bis sich die Anzahl interessanter Einblicke in die Vielfältigkeit der Tropennatur langsam vergrößert.

In ostafrikanischen Savannen dagegen 350 verschiedene Vogelarten auf einer zweiwöchigen Safari zusammenzubringen, das gelingt auch ohne Hilfestellung durch ortskundige Spezialisten. 350 Vogelarten, so viele wie es in ganz Europa gibt! Wer das am Amazonas versucht, muss viel Zeit mitbringen, obwohl dort über 1500, also viermal so viele verschiedene Arten leben. An Säugetieren wird man allenfalls eine Handvoll Arten zusammenbringen, wo es doch mehr als 300 gibt.

Über die Schmetterlinge schrieb der britische Naturforscher Henry Walter Bates vor eineinhalb Jahrhunderten etwas sehr Aufschlussreiches: Im Hinterland der im Zentrum Amazoniens, am Zusammenfluss des Rio Negro mit dem Amazonas gelegenen Stadt Manaus, sei es leichter, zehn Schmetterlinge verschiedener Arten zu finden als zehn Exemplare einer Art davon. Damit drückte er aus, was der große Naturforscher Alexander von Humboldt um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in seiner Begeisterung über die südamerikanischen Tropen nicht erkannt hatte, nämlich dass die meisten Arten selten bis sehr selten sind.

Die Seltenheit ist auch das grundlegende Problem für die Besucher, denen der tropische Regenwald für die Zeit ihres Aufenthalts so wenig zu bieten hat, ebenso wie für die an der Nutzung Interessierten, weil sie nicht glauben wollen, dass ausgerechnet dieses Waldstück so wichtig sein soll, wenn doch fast nichts an Tieren oder besonderen Pflanzen darin zu sehen ist, und für die Forschung, weil die Gründe für den ja tatsächlich vorhandenen Artenreichtum nicht ersichtlich sind. Da wächst und wuchert Wald, der das ganze Jahr über bestens mit Regen versorgt wird, bei Temperaturen, die kaum über 30 Grad Celsius ansteigen und höchst selten bis auf 20 Grad absinken. Ungünstigen Witterungsbedingungen, wie einem kalten Winter oder Trockenheit, ist er nicht ausgesetzt. Es gibt keinen Frost und keine Waldbrände. Trotzdem wimmelt es darin nicht vor Tieren, von Ameisen (und bei näherer Betrachtung auch von Termiten) abgesehen. Nur diese beiden Gruppen von Tieren sind so häufig, dass sie überall zu finden sind. Das Vogelleben entfaltet sich bei Weitem nicht so üppig wie in unseren Auwäldern oder Parks. Schon gar nicht in der großen Zahl der kleinen Singvögel. Darin übertreffen Auwälder, Waldfriedhöfe und große Parks pro Quadratkilometer den Regenwald Zentralamazoniens um das Drei- bis Fünffache.

Alexander von Humboldt hielt die Tropenwälder für die letzten großen Nutzlandreserven der Menschheit, weil sie so üppig gedeihen. Wo der Wald gut wächst, sollten auch Nutzpflanzen hohe Erträge bringen, so die naheliegende, aber falsche Vermutung. Dem ist nämlich nicht so. Die Menschen, die seit Jahrtausenden in den Tropenwäldern leben, wussten, dass dieser Typ von Wald nicht viel hergibt. In Südamerika war es lohnender, auf den kalten Hochflächen der Anden Kartoffeln und Mais anzubauen, auch wenn die Ernten der Höhenlage und der kalten Nächte wegen nur äußerst bescheiden blieben, als Amazonien zu besiedeln.

Die Inkas entwickelten ihre Hochkultur im Hochland, nicht im geradezu gemütlich warmen Tiefland. Vor 500 Jahren, vor der Ankunft der Spanier und Portugiesen, hatte Amazonien offenbar mit umgerechnet einem Menschen auf zwei Quadratkilometer eine dünnere Besiedelung als die Sahara. Die schlechten Ernteerträge und die kurze Nutzbarkeit der amazonischen Böden erklären, warum das so war und bis in die jüngste Vergangenheit auch geblieben ist.

Die Böden sind so arm an Pflanzennährstoffen und die Humusdecke ist so gering, dass im allergrößten Teil Amazoniens, das so groß ist wie ganz Europa, keine nachhaltige Landwirtschaft auf großen Flächen möglich ist. Die Tropenregen waschen in kürzester Zeit die vorhandenen Pflanzennährstoffe aus, ohne dass aus den Böden frische nachverwittern können. Aus guten Gründen blieben die von den Indios angelegten Pflanzungen klein, und alle paar Jahre wurde der Ort gewechselt. Der Wald eroberte schnell die auf die Gesamtfläche bezogen nur nadelkopfkleinen Rodungen zurück.

Ihre Siedlungen bauten die Indios hauptsächlich an den Flüssen, weil ihnen der Fischfang mehr Eiweiß als die jagdbaren Tiere des Waldes lieferte. Ihre Zahl blieb gering, weil sich die Stämme nur in sehr begrenztem Rahmen vermehren konnten. Die Natur liefert nicht genug Nährstoffe für viele Kinder. Sie entwickelten eine Vielzahl kleiner und kleinster Kulturen – und Sprachen.

Das ursprüngliche Leben der Indios gibt uns eine passende Vorstellung davon, wie es sich auch mit den Tieren verhält. Erinnern wir uns: Es kommen zwar sehr viele unterschiedliche Arten in Amazonien vor, aber fast alle sind selten bis sehr selten, das heißt, sie leben in kleinen Beständen auf bestimmten Flächen, die wie die Steinchen eines Mosaiks oder die Stücke eines Puzzles aneinandergrenzen. Ganz ähnlich wie die Stämme der Indios auch. Keiner gewann die Oberherrschaft über die Nachbarn, konnte sie unterwerfen und zu einem mächtigen Volk zusammenschließen, wie das im Hochland geschah. Wenn aber Mensch und Tier so viele Ähnlichkeiten in so grundlegend wichtigen Lebensverhältnissen zeigen, muss es eine gemeinsame Ursache geben. Zu dieser führt die nähere Betrachtung des Artenreichtums der Bäume.

Auf einem Quadratkilometer, stellenweise sogar auf nur einem Hektar, wachsen bis über 500 verschiedene Arten. Fast jeder Baum gehört dann zu einer anderen Art, auch wenn sich alle Vertreter der drei Hauptgruppen, der Laubbäume, der Palmen und der Schlingpflanzen (Kletterlianen), äußerlich recht ähnlich sehen. Ihr Holz entwickelt keine Jahresringe, weil es keinen Wechsel in den Jahreszeiten gibt. Aber es wird bei vielen Arten sehr hart. Tropenholz ist Hartholz, härter als Eichenholz. Härte bekommt Holz bei langsamem Wachstum.

Unsere schnell wachsenden Bäume, wie Weiden und Pappeln, sind Weichhölzer. Sie gedeihen am besten in Flussauen mit viel Wasser und warmem Sommerklima. Die Tropenbäume haben Wasser zur Genüge, Wärme und Sonnenlicht unbeschränkt, und trotzdem wachsen sie so langsam, dass ihr Holz eisenhart werden kann. Der Grund dafür liegt im Mangel an Nährstoffen für das Wachstum: in den Böden sind nicht genügend vorhanden. Der Mangel ist so groß, dass die Nährstoffzufuhr auf dem Luftweg größer ist als das, was aus den Böden kommt. Das lässt sich direkt sehen, und zwar an der Fülle von Bromelien, Farnen und Orchideen, die als Aufsitzerpflanzen (Epiphyten) in den Kronen der Tropenwaldbäume wachsen, ohne mit ihren Wurzeln den Boden zu erreichen. Alles, was sie benötigen, auch die mineralischen Nährstoffe, muss ihnen der Regen liefern. Und er bringt genug, wie die Fülle der Epiphyten deutlich zeigt. Ihre Masse kann genauen Forschungen zufolge größer sein als die des gesamten Blattwerks.

Herantransportiert werden die Nährstoffe vom Wind, speziell vom Passat, der über den Südatlantik weht. Er verfrachtet Staub aus der Sahara bis nach Amazonien und düngt die dortigen Wälder. Ihre Kronen nehmen die Nährstoffe wie ein Schwamm auf. Ihr Wurzelwerk am Boden ist so fein und so innig mit Pilzen verbunden, dass fast nichts ins Grundwasser verloren geht. Reiner als Regenwasser verlässt es über die Waldbäche den Regenwald.

In der tropischen Wärme verläuft die Zersetzung des Laubes sehr schnell. Die allgegenwärtigen Pilze – daher der modrige Geruch – entnehmen dem abgefallenen Blattwerk alles, was der Baum wiederverwerten kann. In einem rasch ablaufenden Kreislauf kehren die Nährstoffe wieder zurück in die Kronen.

Dieses weitgehend geschlossene System funktioniert aber nur, wenn der Wald genügend geschlossen bleibt. Sonst übertreffen die Verluste durch Auswaschung den Nachschub. Wie ergiebig dieser ausfällt, hängt von den Regenmengen ab. Werden sie zu gering, verhungert der Wald. Die großflächige Abholzung vermindert aber die Niederschlagsmengen, weil der Wald selbst durch Verdunstung die täglichen Schauer und Gewitter erzeugt.

Ein so in sich geschlossenes System, das von der Fernversorgung über den Atlantik lebt, erzeugt naturgemäß keine Überschüsse, die Mensch und Tier nutzen könnten. Das Einzige, was der Tropenwald wirklich in Hülle und Fülle hat, ist Sonnenenergie. Und mit der Kraft der Sonne baut er die Barrieren gegen die Nutzer. Die Pflanzen, insbesondere die Bäume, synthetisieren alle möglichen Stoffe, die Tierfraß abwehren oder die Tiere zur Spezialisierung zwingen. Jede Art von Bäumen trägt eine andere Zusammensetzung von Abwehrstoffen in sich. Daher die vielen Spezialisten unter den Tieren, vor allem unter den Insekten, die selbst oder im Larvenstadium von den Bäumen leben.

Der tropische Regenwald ganz allgemein, nicht nur der amazonische, ist das mit Abstand größte Chemielabor der Erde. Die Artenvielfalt steht damit in engster Verbindung. Sie enthält die Lösungen für die kompliziertesten chemischen Reaktionen und Verbindungen. Die Artenvielfalt spiegelt den Mangel, nicht die Fülle. Sie wird uns insbesondere bei der noch kaum bekannten Vielfalt der Pilze große Überraschungen bieten. Die Käfer und all die anderen als »Kleinzeug« abgewerteten Insekten sind der Schlüssel dazu. Mit ihrer Existenz verweisen sie auf die Synthese von Stoffen, die für uns Menschen größte Bedeutung erlangen können. Wie das Penizillin, das von einem »schmutzigen Schimmelpilz« stammt, oder das Chinin aus dem amazonischen Chinarindenbaum – das lange Zeit beste Mittel gegen Malaria.

Somit wissen wir jetzt um die Bedeutung der Vielfalt, verstehen ihren Zusammenhang mit dem Mangel und warum die Tropen so besonders artenreich sind. Sogar die Besiedlung der Tropen durch die Menschen erklärt sich daraus. Dort, wo die Böden erdgeschichtlich jungen vulkanischen Ursprungs und sehr nährstoffreich sind, entwickelten sich ganz von selbst volkreiche Staaten und dauerhafte Kulturen, wie auf Bali und Java in Südostasien oder in Teilen der mittelamerikanischen Landbrücke.

Die auf ausgelaugten, alten Böden nur langsam wachsenden Waldgebiete blieben jedoch von der Rodung verschont (und ihr Artenreichtum erhalten), weil es sich für die Menschen nicht lohnte, dort dauerhaft zu leben. Global gesehen waren und sind aus diesen ökologischen Gründen die von der Eiszeit geformten und mit ertragreichen Böden ausgestatteten mittleren Breiten die günstigsten Gebiete für Landwirtschaft. Oder auch die subtropischen Monsungebiete, denen Flüsse aus den Gebirgen immer wieder frische Nährstoffe zuführen. Die künstliche Düngung und der Einsatz motorengetriebener Maschinen veränderte das alles. Wie lange dieses auf Ausbeutung ausgerichtete Nutzungssystem Bestand haben wird, wird die Zukunft zeigen.

Naturgeschichte
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