Das
Blesshuhn
und der Höckerschwan
Warum stimmt nicht,
dass der Stärkere gewinnt?
Was bedeutet nun die Entwicklung der Ökologie? Können wir uns auf die Stabilität des Naturhaushalts verlassen? Und stimmt es, dass der Stärkere gewinnt und Charles Darwin mit diesem von Herbert Spencer übernommenen Konzept das Geschehen in der lebendigen Natur richtig einschätzte?
Tja, Darwin … Mit ihm und der Evolution wird die größte Schwachstelle der Ökologie bloßgelegt, die nicht einmal Ernst Haeckel erkannte, obwohl er der beste Streiter für Darwin auf dem europäischen Festland war. Evolution ist Veränderung. In einer stabilen, unveränderlichen Welt könnte sie nicht stattfinden. Evolution fand statt und sie läuft weiter. Weil nichts dauerhaft stabil bleibt.
Haeckels Haus der Natur müsste offen nach allen Seiten gedacht werden. Ein Haus ohne begrenzende Wände, ohne fest gefügte Stockwerke, ohne schützendes Dach und ohne Hausmeister. Offen eben wie die Natur in ihrem Werden und Vergehen, in ihrer Dynamik und Unvorhersagbarkeit. Die Natur gleicht einer Bühne, auf der sich das Spiel des Lebens, die Evolution, im Fluss der Zeit entwickelt. Es gibt darin keinen richtigen Zustand, keine Soll-Werte und kein Ziel, wie es weitergehen soll. Das ergibt sich aus der Wechselwirkung der Beteiligten in immer neuen Kräfteverhältnissen, aus dem Werden von neuen Arten und dem Aussterben der alten. Es ist der Mensch, der sich selbst, seine Familie und sein Haus erhalten möchte und sich deshalb nach besten Kräften gegen den Strom der Zeit stemmt. Doch niemand kann sie anhalten, das Altern verhindern und Veränderungen vorhersagen oder gar aufhalten.
Bei der Nutzung der Wasserpflanzen als Nahrung sind die kleinen Blesshühner den großen Schwänen überlegen.
Das Werden verträgt sich nicht mit einem fest gefügten Haus. Das Sein ist vergänglich. Doch die Ökologie tut so, als ob ihre Befunde Bestand hätten, weil die Natur, die sie untersucht, beständig genug wäre. Das kann für menschliche Zeitspannen so sein, muss es aber nicht. Die Vorstellung, die Erde auf einen bestimmten Zustand festlegen zu wollen, ist in doppelter Weise absurd. Erstens weil von Natur aus nichts von Dauer ist, und zweitens weil wir in unserer grenzenlosen Überheblichkeit annehmen, wir würden den besten Zustand kennen.
Deswegen ist es nicht weit her mit dem Gleichgewicht im Haushalt der Natur. Das zeigt die Praxis. Jäger verstehen das Gleichgewicht anders als Naturschützer und wollen möglichst viel Jagdwild, aber nur ganz wenige, am besten gar keine Raubtiere. Angler und Fischer sehen im Kormoran eine schlimme Veränderung des Gewässerhaushalts, der aus ihrer Sicht zuallererst Fische für den Fang produzieren soll und in dem auf den Fischräuber Kormoran zu verzichten ist. Es gab ihn dank der Ausrottung im 19. Jahrhundert ja bereits rund 100 Jahre in weiten Teilen Europas nicht mehr. Der Landwirt hält den Naturhaushalt für richtig eingestellt, wenn mit einem Übermaß an Düngung maximale Ernten erzielt werden, die Städter, wenn auf dem Land überall bunte Blumen blühen, und die Vögel singen. Und so weiter und so fort. Es gibt so viele richtige Gleichgewichte im Naturhaushalt, wie sie gedacht werden können. Was nicht konkret existiert und folglich auch nicht messbar ist, lässt sich beliebig auslegen.
Andere Konzepte der Ökologie beruhen auf einem solideren Fundament. Die Konkurrenz in der Natur ist eines davon. Es ist grundsätzlich richtig, dass die verschiedenen Arten ganz gut nachvollziehbar einander so weit ausweichen, dass sie mit- oder nebeneinander leben können. Zwar leitet sich das Konzept der »Ökologischen Nische« auch von der Haeckel’schen Vorstellung des Hauses ab, aber es war von vornherein nicht starr auf einen bestimmten Ort, einen Raum oder ein Zimmer, ausgerichtet. Dass sich das Verhältnis der Arten zueinander in der Natur oft recht schnell und nachhaltig ändern kann, war ja auch nicht zu übersehen. Dennoch hielt sich hartnäckig die Ansicht, bestimmte, weil heimische Arten gehörten hierher und andere nicht, weil sie nicht von hier sind. Auch das ist, abgesehen vom leicht erkennbaren ideologischen Hintergrund, eine typisch statische Sicht, die sich mit der Dynamik der Natur nicht verträgt.
Den offensichtlichsten Gegenbeweis lieferten die Tiere und Pflanzen, die sich in den Städten ansiedelten. Viele Arten waren und sind eben nicht so fest an bestimmte Lebensbedingungen gebunden, dass sie nur dort und nirgends sonst hingehörten. Sogar die wissenschaftliche Ökologie musste lernen, die Wahl der Lebewesen zu respektieren, auch wenn sie ihr nicht ins Konzept passte. Längst korrigiert ist die Idee vom Überleben – oder gar Recht – des Stärkeren. Darwin selbst hatte es nicht so gemeint, wie es ihm ausgelegt wurde. Tatsächlich entscheidet zumeist weniger die Stärke, wer in der Konkurrenz gewinnt, sondern mehr die Art des Vorgehens.
Ein einfaches, leicht zu beobachtendes Beispiel kann diese Feststellung verdeutlichen. So sind die großen Höckerschwäne, die bis zu 20 Kilogramm schwer werden, zweifellos den nur etwa ein Kilogramm wiegenden schwarzen Blesshühnern mit der bezeichnend weißen Stirn an Körperkraft klar überlegen. Wenn aber beide zusammen im Spätherbst und Winter auf flachen Buchten von Seen und Stauseen die unter Wasser wachsenden Pflanzen abweiden, sind die großen Schwäne im Nachteil. Denn zum Hinabtauchen in größere Tiefen sind sie zu schwer. Ihr Hals reicht nur etwa einen Meter hinab. Sind Wasserpflanzen in noch größerer Tiefe vorhanden, kommen die Schwäne nicht an sie heran. Die viel kleineren Blesshühner dagegen erreichen bis zu drei Meter Tiefe dank ihrer Kleinheit und ihrer Tauchkünste.
Nun könnte man daraus schließen, die kleinen Blesshühner und die großen Schwäne teilten sich einfach den Lebensraum auf. Die Schwäne hätten das Flachwasser bis in einen Meter Tiefe für sich, die Blesshühner das sich anschließende, so tief sie eben tauchen können. Das wäre zwar für die Theorie perfekt, aber sie scheitert in der Praxis. Die Blesshühner nutzen zuerst auch lieber die flacheren Bereiche, die für sie weniger Aufwand bedeuten und fressen auf diese Weise den Schwänen ganz erhebliche Teile der Nahrung weg, die diese erreichen könnten. Die Kleinen sind flink genug, um von den Schnabelhieben der Großen nicht erwischt zu werden. So bleibt schließlich den »mächtigen« Schwänen weit weniger, als sie ohne die Blesshühner hätten. Diese verlieren zwar auch durch die Anwesenheit der großen weißen Konkurrenz, aber weit weniger, als jene umgekehrt an Einbußen hinnehmen müssen. Auf diese Weise regulieren die kleinen Blesshühner den Bestand der großen Schwäne, denn über den winterlichen Nahrungsengpass entscheidet sich, wer überlebt und wie viele Schwanenpaare im nächsten Frühjahr brüten können.
Ein Hinweis dazu in eigener Sache: Die Menschheitsentwicklung wurde ganz sicher niemals von Raubtieren beeinflusst, während wir umgekehrt diesen nicht selten so viel Beute wegnahmen, dass sie nicht überleben konnten. Und es waren und sind die Kleinsten, die Krankheitserreger, die die meisten Toten forderten, und nicht die viel auffälligeren Millionen Toten unserer schier endlosen Reihe von Kriegen.