Der
Schimpanse
und die Termiten
Sind wir Menschen
von Natur aus Vegetarier?
Ursprünglich ernährte sich der Mensch pflanzlich. Das behaupten die meisten Vegetarier. Und sie verweisen auf unser Gebiss, dem Reißzähne fehlen, wie sie doch typisch für Fleischfresser sind. Dabei waren Menschen in ihrer ganzen Entwicklungsgeschichte niemals so ausgeprägte Vegetarier, wie sie das in manchen armen Regionen der Erde heute mangels Fleisch und Fisch zwangsläufig sein müssen. Pflanzlich, nämlich recht ähnlich wie die Schimpansen, ernährten sich nur unsere ganz fernen Vorfahren. Aber damals konnte man noch nicht von Menschen sprechen, es waren Menschenaffen, die sich auf vier Beinen fortbewegten und in tropisch afrikanischen Wäldern lebten.
Auf dem Weg der »Menschwerdung« setzte ein Wechsel in der Ernährung hin zu Fleisch ein. Nach tierischem Eiweiß gelüstet es mitunter auch unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen. Dann werden sie urplötzlich, wie es uns scheint, zu reißenden Bestien, weil sie kleine Waldantilopen oder junge Paviane jagen und voller Blutgier zerreißen und auffressen. Ihr Verhalten zeigt deutlich, dass ihnen die Pflanzenkost nicht genügend Proteine liefert. Die berühmte Schimpansenforscherin Jane Goodall war entsetzt, als sie diese Gier nach Fleisch bei ihren ansonsten so friedlichen Schimpansen erlebte. Mit Bananen waren sie zufrieden und mit allerlei Grünzeug, das sie im Wald fanden. Aber dass sie sich stundenlang damit beschäftigen, mit Hilfe kleiner Stöckchen Termiten aus deren Bau herauszufischen, die sie dann genüsslich verzehren, hätte auf den Mangel aufmerksam machen können. Man hielt das mehr für eine Suche nach Genuss denn für eine Notwendigkeit.
Das Verhältnis der Schimpansen zu Fleisch ist wichtig, wenn wir unsere eigene Entwicklungsgeschichte, die Evolution des Menschen, verstehen wollen. Sie fing vor fünf oder sechs Millionen Jahren damit an, dass unsere ganz entfernten Vorfahren, die den Schimpansen noch recht ähnlich waren, dazu übergingen, in die Savanne hinauszuschweifen. Es dauerte lange, bis sich daraus die aufrechte Körperhaltung und der zweibeinige Gang entwickelten. Doch nur er verschaffte Übersicht auf der Suche nach frischen Kadavern von Großtieren, bei denen Fleisch und markhaltige Knochen zu holen waren. An beides kamen unsere Vorfahren am besten mithilfe von Steinen, die sie als Werkzeuge benutzten.
Je erfolgreicher sie bei der Zusatzversorgung mit tierischen Proteinen wurden, desto mehr Kinder konnten sie erfolgreich aufziehen, weil nämlich nicht Bananen Babys machen, sondern Proteine, die der mütterliche Körper in ausreichender Menge in Reserve haben muss. Das wäre allein schon ein sehr großer Vorteil gegenüber den Verwandten gewesen, die sich weiterhin von Pflanzenkost ernährten und daher weniger Nachwuchs bekamen.
Heißt das nun, dass Vegetarierinnen Schwierigkeiten haben, Kinder zu bekommen? Jein. Die Tatsache, dass jahrtausendelange Pflanzenzüchtung neue Sorten hervorgebracht hat, die vergleichsweise viel und gutes pflanzliches Eiweiß enthalten, macht es möglich, von Getreide zu leben und trotzdem Kinder zu bekommen. In der Natur gab es so hochwertige Pflanzenkost jedoch nicht oder nur in so geringen Mengen, dass es lange dauerte, bis die Mütter genügend Proteine als Vorrat in ihren Körpern angesammelt hatten, um ein Baby damit zu ernähren. In der tropisch-afrikanischen Urheimat des Menschen würden vegetarisch lebende Menschen innerhalb kürzester Zeit verhungern. Die Natur dort enthält zu wenig leicht Verdauliches und Proteinreiches.
Aber ein anderer Punkt ist noch viel wichtiger: Bei der Entstehung des Menschen ging es keineswegs allein darum, mehr Kinder als die Menschenaffen zur Welt zu bringen. Das, was den größten Unterschied zu unseren haarigen Vettern ausmacht, ist unser Gehirn. Dreimal so groß ist es geworden, als unserer Körpergröße zukäme, wären wir Menschen Menschenaffen geblieben. So aber stieg seine Größe von etwa 400 auf 1300 bis 1600 Kubikzentimeter.
Dass wir mit unserem großen Gehirn denken und intelligent handeln können, setzen wir als typisch für den Menschen voraus. Doch dieses menschliche Gehirn ist »teuer«. Schon im Normalbetrieb verbraucht es etwa 20 Prozent der Energie, die in unserem Körper umgesetzt wird, obwohl es gerade einmal zwei Prozent unserer Körpermasse ausmacht. Bei der Geburt verursacht es größte Schwierigkeiten, weil das Köpfchen des Kindes eigentlich viel zu groß ist. (Der Rest des Babys muss klein und hilflos bleiben, damit es überhaupt zur Welt kommen kann.) Und das alles wäre nicht so, wären unsere fernen Vorfahren Vegetarier geblieben. Denn für den Aufbau des übergroßen Gehirns des Kindes benötigt die Mutter die dafür unerlässlichen Proteine und Fette. In der Pflanzenkost sind sie rar, im Knochenmark und im Fleisch von Großtieren oder auch in Fisch- und Muschelfleisch dagegen reichlich vorhanden.
Auch in den Jäger- und Sammlerkulturen der Steinzeit hing die Lebensweise übrigens ganz entscheidend vom Jagderfolg ab – nicht davon, ob es Kräuter und Beeren gab. (Die taugten für das Wild, hinter dem die Menschen der Steinzeit her waren.) Unser naher Verwandter, der Neandertaler, war wahrscheinlich ein sehr ausgeprägter Fleischesser. Er hatte eine kräftige Körperstatur und würde in unserer heutigen Welt gar nicht sonderlich auffallen. Mangelerscheinungen verursacht eine auf Fleisch ausgerichtete Nahrung nicht, wenn sie entsprechend pflanzlich ergänzt wird. Das zeigten beispielsweise die Gauchos auf der Pampa, die fast nur von Rindfleisch und Mate-Tee lebten.
Daher können wir ziemlich sicher annehmen, dass der Mensch ohne den Wechsel von pflanzlicher zu tierischer Kost nicht zum Menschen geworden wäre – und ohne proteinreich gezüchtete Pflanzen als Vegetarier nicht überleben könnte.