Der muskulöse Nomade
und der o-beinige Denker

Ist die Evolution
beim Menschen am Ende?

V31.tif

Unsere Entstehungsgeschichte ist uralt. Der aufrechte, zweibeinige Gang ist etwa fünf Millionen Jahre alt, die Nacktheit zwei Millionen Jahre. Die Liebe stammt mindestens aus der Steinzeit. Jung im Vergleich dazu ist nur die Sesshaftigkeit. Doch auch sie ist nicht von gestern, sondern hat rund 10 000 Jahre Geschichte. Wirklich neu sind technische Errungenschaften wie motorgetriebene Verkehrssysteme, Elektronik und Computer, darunter die Apparatemedizin, mit deren Hilfe Leben erhalten wird. Das wirkt sich auch in den Statistiken zur durchschnittlichen Lebenserwartung aus. Ob die Betroffenen so ein verlängertes Leben erwarten, steht nicht zur Debatte.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob beim modernen Menschen die Evolution am Ende ist. Oder ob wir sie vielleicht gerade durch die medizinischen Eingriffe und die neue Ethik zum »lebenswerten Leben« in eine andere Richtung lenken. An Versuchen, die Menschheit zu verbessern, mangelte es spätestens seit dem 19. Jahrhundert nicht, als die sogenannte Eugenik (später dann Euthanasie) weithin erklärtes Ziel war. Deshalb erneut die Frage, nur anders formuliert: Hat der Mensch die Evolution selbst in die Hand genommen?

Eine Feststellung vorweg: Evolution verläuft sehr schnell »in« uns und sehr langsam »mit« uns. Sehr schnell, das bedeutet, dass sich die Mikroben, die unsere Gesundheit bedrohen, schneller entwickeln als die Medikamente, mit denen wir gegen sie vorgehen. Nur unser inneres Immunsystem ist noch schneller. Meistens, leider nicht immer! Es stellt sich auf Mikrobenangriffe ein, die es noch gar nicht gibt, indem es dank unserer extremen genetischen Unterschiedlichkeit Abwehrstoffe produziert, die auch gegen neuartige Mikroben wirksam sein können. Können, nicht müssen! Denn das Immunsystem weiß natürlich nicht, was alles auf unseren Körper zukommt. Es produziert Vielfalt für alle Fälle, zu denen es die Kombinationsmöglichkeiten hat. Was jenseits dieser vorhandenen Abwehr liegt, kann immer noch gezielt angegriffen werden.

Man kann es sich so vorstellen: In unserem Körper findet unablässig ein großer Kleinkrieg statt. Wir merken nichts davon, weil das Immunsystem fast immer siegt. Siegt es einmal nicht, werden wir krank. Abwehr und Nachrüstung drehen sich gleichsam in einer Spirale des Wettrüstens. Deshalb verlieren Antibiotika so schnell ihre Wirksamkeit, vor allem wenn sie ohne zwingenden Grund, »vorsorglich«, eingesetzt werden. Diese Art von Vorsorge stellt eine grobe Nachlässigkeit dar, die andere mit dem Leben bezahlen. Am schnellsten sind die Viren, weil sie die kürzesten Vermehrungszeiten haben. Am schwierigsten in den Griff zu bekommen sind solche Eindringlinge wie die Malariaparasiten, die sich fortwährend tarnen. Den Normalfall drücken jene Bakterien aus, die bei normalen Verletzungen in den Körper gelangen. Es kommt zu einer örtlichen Entzündung. Sie schmerzt, und die entzündete Stelle wird heiß. Sie rötet sich, weil verstärkt Blut dorthin geführt wird, bis die Abwehrkräfte des Immunsystems die Lage im Griff haben. Übrig bleibt von diesem Kampf vielleicht noch Eiter. Danach ist alles wieder in Ordnung. Die Reaktion des Immunsystems zeigt, wie schnell sich die Mikroben verändern können. Es ist gleichsam schon in der Gegenwart auf Zukunft eingestellt, weil dem »Frieden« nicht zu trauen ist.

Langsamer geht die von erfolgreichen Krankheitserregern verursachte genetische Veränderung vor sich. Nach den großen Pestepidemien hatten in West- und Mitteleuropa mehr Träger der Blutgruppe A als solche anderer Gruppen überlebt. Umgekehrt rafften Fieber wie das Gelbfieber eher die Träger von Blutgruppe A dahin, während Blutgruppe Null am besten wegkam.

Alle Indianer und Indios von Nord- und Südamerika trugen die Blutgruppe Null, weil sie von Nordostasiaten abstammten, bei denen diese vorherrscht. Als die Spanier und Portugiesen im 16. und 17. Jahrhundert Krankheiten wie Masern, Grippe, Keuchhusten und Pocken einschleppten, erging es den Trägern der Blutgruppe Null schlecht. Sie waren kaum gegen diese Krankheitserreger ausgerüstet. Entsprechend verschoben sich in wenigen Generationen die mit den Blutgruppen verbundenen Häufigkeiten ihrer Träger. Auch das ist Evolution.

Das Tempo verläuft nicht mehr wie bei den Mikroben in Monaten und Jahren, sondern in Jahrzehnten und Jahrhunderten. Bekanntestes Beispiel hierfür ist die Deformierung der roten Blutkörperchen zu halbmondförmigen Gebilden. Sie eignen sich viel weniger gut für den Transport von Sauerstoff im Blut, sind dafür aber für die Malariaparasiten fast unangreifbar. Die Träger dieser Sichelzellen-Anämie genannten Krankheit erreichen zwar bei Weitem nicht die körperliche Leistungsfähigkeit oder Ausdauer von Menschen mit normalen roten Blutkörperchen, aber dafür überleben sie die Malaria weitgehend unbeschadet. Regionen mit starker Verbreitung von Malaria, wie Westafrika oder Küstenzonen des Persischen Golfs, weisen einen hohen Anteil von Menschen mit dieser Deformierung der roten Blutkörperchen auf. Kommen die genetischen Anlagen dafür von Vater und Mutter zusammen, stirbt der Nachwuchs sehr früh an Blutarmut. Überleben können nur solche Kinder, die von einem Elternteil die Anlage zu normalen Blutkörperchen vererbt bekommen haben. Auf diese Weise nahmen und nehmen Krankheitserreger Einfluss auf die Evolution ganz allgemein, nicht nur auf den Menschen und seine Zukunft. Vielleicht besteht die Zukunft darin, dass all diese Erreger besiegt sind?

Schnelle Evolution kann es nicht nur in unserem Körper geben. Auch die Ausschaltung aller Mikroben als Gefährder unserer Gesundheit würde eine Veränderung bewirken, nämlich das Ende des Wettrüstens. Neue genetische Kombinationen hätten dann Chancen, erhalten zu bleiben, die vorher einfach den Infektionskrankheiten zum Opfer gefallen wären. Wie weit wir von einem umfassenden Sieg über die Mikroben tatsächlich entfernt sind, lehren uns die resistenten Keime in den Krankenhäusern, denen mit fast nichts beizukommen ist.

Wechseln wir nun aber die Betrachtungsebene zum Äußeren des Menschen. Aus rank und schlank gewachsenen Nomaden mit idealen Körperproportionen sind in nur wenigen Jahrtausenden Menschen hervorgegangen, die sich mit zu großen Bäuchen und zu dicken Hinterteilen mühsam durchs Leben schleppen. Andere haben krumme Wirbelsäulen, O-Beine, zu kurze Beine oder sonstige Abweichungen von der Idealfigur. Möglich wurde vieles, seitdem wir sesshaft wurden, und noch viel mehr, seitdem wir uns von Fahrzeugen bewegen lassen, anstatt uns selbst in Bewegung zu setzen. Vorteilhaft im Sinne der Ästhetik hat sich die Menschheit dadurch sicherlich nicht entwickelt. Doch Überlebenstauglichkeit hängt nicht mehr von der Ausdauer im wilden Gelände, sondern vom alltäglichen Konkurrenzkampf in Gebäuden ab.

Das diesen Wettkampf bestimmende Organ ist nicht mehr die Muskulatur, sondern das Gehirn, das sich zunehmend stärker mit der technischen Intelligenz der Computer verbindet. Körperlich für ein Leben als Jäger und Sammler gänzlich untaugliche Menschen, wie der vom Schicksal geschlagene Stephen Hawking, rangieren nun unter den für die Menschheit wichtigen Geistesgrößen. Andere Anforderungen verlangen eben veränderte Qualifikationen. Die Muskelmasse macht’s nicht mehr in der modernen Menschenwelt, auch wenn so mancher Muskelmann noch gern damit protzt, wie es vielleicht unter Eiszeitmenschen üblich war. Es gehört auch ein kluger Kopf dazu, wie Arnold Schwarzenegger eindrucksvoll bewies, als er es zu einem erfolgreichen Gouverneur von Kalifornien brachte. Albert Einstein hatte keine Schwarzenegger-Figur nötig. Sein Gehirn schenkte uns die bedeutendsten Einsichten in die Natur der Natur.

Geht also die Evolution des Menschen in Richtung körperlicher Verfall zugunsten des Gehirns? Das werden erst unsere Nachfahren in einigen Jahrtausenden wissen. Vor gut zwei Jahrtausenden waren sich aber die zivilisiertesten und gelehrtesten Völker des Westens längst einig, dass ein gesunder Geist in einen gesunden (= tüchtigen) Körper gehört. »Mens sana in corpore sano«, hieß das auf Latein und war auswendig zu lernen. Es gibt allerdings noch zwei ganz andere Gesichtspunkte, die wir zu dieser Frage nach der (schönen oder weniger erfreulichen äußeren) Zukunft des Menschen berücksichtigen müssen.

Der erste ergibt sich aus der Tatsache, dass die Menschheit riesengroß geworden ist. Sechs, sieben Milliarden und in wenigen Jahrzehnten noch mehr Menschen stellen genetisch eine so träge Masse dar, dass sie kein äußerer Anstoß mehr nennenswert zu verändern vermag. Die Menge verschluckt einfach alle Änderungen, ob günstig oder ungünstig. Aber nur, und das ist der zweite Gesichtspunkt, wenn sie dazu bereit ist, eine »freie Durchmischung« zuzulassen. Danach sieht es allerdings nicht aus. Nicht einmal die beiden »klassischen«, weil schon ein paar Generationen lang als solche betrachteten Schmelztiegel der Nationen, die USA und Brasilien, erreichten eine freie Rassenmischung. Brasilien noch eher als die USA, aber beide sind weit davon entfernt, dass die Rassen- und Völkermischlinge den Hauptteil in den Bevölkerungen stellen. Nach wie vor sortieren sich Hautfarben und Herkünfte stark. Nach wie vor bringt möglichst helle Hautfarbe Vorteile in der Gesellschaft. Dunklere muss mit erhöhter Leistungsbereitschaft ausgeglichen werden, wenn das überhaupt gelingt.

Sogar äußerlich nur wenig unterschiedliche Völker anderer ethnischer und religiöser Herkunft isolieren sich lieber ghettoartig, als den besseren Weg einer freien, die Spannungen und Konflikte abbauenden Mischung zu wählen. Insofern sind evolutionäre Veränderungen durchaus möglich. Von den alten Römern blieb nicht viel übrig, nachdem die Barbaren ihr Weltreich zerlegt und selbst übernommen hatten. Wer im heutigen Rom das »klassische römische Gesichtsprofil« sucht, wird Zeit und Geduld brauchen.

Ähnlich unterscheiden sich, wenn nicht stärker, die heutigen Griechen von den auch von ihnen hochgeschätzten Hellenen der besten Zeit ihrer Geschichte.

So gilt auch für den Menschen, was Biologen von Tieren kennen und Tierzüchter seit Jahrtausenden ausnutzen: Isolierte Fortpflanzungsgruppen lassen sich ziemlich schnell verändern. Was kam nicht alles aus dem schönen Wolf heraus. Unglaublich eigentlich. Oder aus dem Wildpferd, der Felsentaube (Stammform all unserer Haustauben) und sogar aus dem Goldhamster, dessen Millionenbevölkerung tatsächlich von einem einzigen Weibchen abstammt.

Wenn sich zudem ethnisch-religiös abgeschlossene Menschengruppen stärker als die anderen, offeneren Gesellschaften vermehren, kann aus ihnen durchaus eine eigenständige genetische Linie entstehen. Aber nur, wenn sie genügend an der Zahl sind. Sonst geht es ihnen wie dem Hochadel. Zu starke Exklusivität schadet. Dann hilft zur Bestandssicherung nur noch der genehmigte »Seitensprung« ins bürgerliche Lager.

Naturgeschichte
titlepage.xhtml
cover.html
978-3-641-05777-0.xhtml
978-3-641-05777-0-1.xhtml
978-3-641-05777-0-2.xhtml
978-3-641-05777-0-3.xhtml
978-3-641-05777-0-4.xhtml
978-3-641-05777-0-5.xhtml
978-3-641-05777-0-6.xhtml
978-3-641-05777-0-7.xhtml
978-3-641-05777-0-8.xhtml
978-3-641-05777-0-9.xhtml
978-3-641-05777-0-10.xhtml
978-3-641-05777-0-11.xhtml
978-3-641-05777-0-12.xhtml
978-3-641-05777-0-13.xhtml
978-3-641-05777-0-14.xhtml
978-3-641-05777-0-15.xhtml
978-3-641-05777-0-16.xhtml
978-3-641-05777-0-17.xhtml
978-3-641-05777-0-18.xhtml
978-3-641-05777-0-19.xhtml
978-3-641-05777-0-20.xhtml
978-3-641-05777-0-21.xhtml
978-3-641-05777-0-22.xhtml
978-3-641-05777-0-23.xhtml
978-3-641-05777-0-24.xhtml
978-3-641-05777-0-25.xhtml
978-3-641-05777-0-26.xhtml
978-3-641-05777-0-27.xhtml
978-3-641-05777-0-28.xhtml
978-3-641-05777-0-29.xhtml
978-3-641-05777-0-30.xhtml
978-3-641-05777-0-31.xhtml
978-3-641-05777-0-32.xhtml
978-3-641-05777-0-33.xhtml
978-3-641-05777-0-34.xhtml
978-3-641-05777-0-35.xhtml
978-3-641-05777-0-36.xhtml
978-3-641-05777-0-37.xhtml
978-3-641-05777-0-38.xhtml
978-3-641-05777-0-39.xhtml
978-3-641-05777-0-40.xhtml
978-3-641-05777-0-41.xhtml
978-3-641-05777-0-42.xhtml
978-3-641-05777-0-43.xhtml
978-3-641-05777-0-44.xhtml
978-3-641-05777-0-45.xhtml
978-3-641-05777-0-46.xhtml
978-3-641-05777-0-47.xhtml
978-3-641-05777-0-48.xhtml
978-3-641-05777-0-49.xhtml
978-3-641-05777-0-50.xhtml
978-3-641-05777-0-51.xhtml
978-3-641-05777-0-52.xhtml
978-3-641-05777-0-53.xhtml
978-3-641-05777-0-54.xhtml
978-3-641-05777-0-55.xhtml
978-3-641-05777-0-56.xhtml
978-3-641-05777-0-57.xhtml
978-3-641-05777-0-58.xhtml
978-3-641-05777-0-59.xhtml
978-3-641-05777-0-60.xhtml