Das verfallene Haus im Urwald
Wie sähe eine Welt ohne Menschen aus?
Über sechs Milliarden Menschen leben auf der Erde. Bald werden es sieben sein. Zählen, wie bei Volkszählungen, lassen sich diese Menschenmassen nicht mehr. Täglich kommen neue Menschen hinzu. Seit den 1970er Jahren kursiert das Schlagwort von der Bevölkerungsexplosion. Mit Häusern, Fabriken und Straßen baut der Mensch die Erde zu. Auf einem vollen Drittel der Festlandsflächen wird die benötigte Nahrung erzeugt.
Immer mehr Wälder müssen gerodet werden, um neues Ackerland zu gewinnen, um Weideflächen für Vieh und für den Anbau von Futtermitteln zu schaffen. Die Regenwälder der Tropen sind in ihrem Fortbestand bedroht. Auch am größten Waldgebiet der Erde, an der nordischen Taiga, nagt der Mensch in alarmierender Weise.
Richtige Wildnis im Sinne einer von Menschenhand unveränderten Natur gibt es heute kaum noch. Selbst auf den Eiskappen der Pole hinterlässt die Menschheit ihre Spuren. Da stellt sich schon manchmal die Frage, was eigentlich geschehen würde, wenn der Mensch von heute auf morgen verschwände. Wenn die Städte menschenleer würden. Wenn die ganze Natur plötzlich wieder sich selbst überlassen wäre.
Könnte sie überhaupt noch normal funktionieren?
Die Natur braucht uns nicht. Wir sind diejenigen, die die Natur nötig haben. All unsere Technik ist nichts anderes als ein Mittel, die Natur wirkungsvoller zu nutzen. Ersetzen kann sie diese nicht. Wir brauchen die Luft zum Atmen, das Wasser zum Trinken, mit oder ohne Zutaten, die Nahrung zum Essen und Energie aus der Natur, um den »Großbetrieb Mensch« funktionstüchtig zu halten.
Das Leben lebte und gedieh schon lange Zeit, bevor sich der Mensch entwickelte. 100 Millionen Jahre lang, hundertmal länger als es den Menschen gibt, »beherrschten«, wie wir als Beherrscher der Erde zu sagen pflegen, die Echsen das Leben zu Wasser, zu Land und in der Luft. Die Dinosaurier brachten es mit der bombastischen Größe einiger ihrer Angehörigen zu besonderem Nachruhm. Vielleicht auch deswegen, weil wir insgeheim ähnlich gewaltig und unbesiegbar sein möchten wie der »König der Schreckensechsen« Tyrannosaurus Rex.
Zur Größe neigt der Mensch auf jeden Fall – und zu Größenwahn häufig auch. Ein solcher ist auch die Vorstellung, ohne den Menschen ginge nichts mehr. Eine große Täuschung. Eher ginge vieles besser, wenn es nicht so viele Besserwisser gäbe, die den Lauf des Lebens und der Welt in ihren Griff bekommen möchten. Um alles (zu ihrem Vorteil, versteht sich) besser zu machen. Diese Überheblichkeit ist weder neu noch originell. »Sie wollten sein wie Gott«, wie ein Gott, so wie sie sich ihn vorstellten – diese Überheblichkeit wurde schon in biblischen Zeiten gegeißelt.
Die alten Griechen hatten eine Bezeichnung dafür: Hybris. Dass die Menschheit in den seither vergangenen zweieinhalb Jahrtausenden nichts dazugelernt hat, sondern gegenwärtig sogar das ganze Klima der Erde steuern möchte, drückt die tiefe Verwurzelung dieser Selbstüberschätzung aus. Vielleicht nährt sie sich aus der Erkenntnis, dass längst nicht alles so gut läuft, wie es laufen könnte, dass Ungerechtigkeiten und vermeidbares Elend die Menschheit brandmarken.
Das Problem der Überheblichkeit beschäftigt Religionen und Philosophen seit eh und je. Vor den nackten Fakten verschließen wir aber nach Möglichkeit Augen und Ohren. Dabei kennen wir sie alle: Der Mensch ist sterblich. Jeder Mensch. Die Biologen fügen hinzu: Die Art Mensch ist es auch. Denn keine Art von höheren Lebewesen ist bisher dem Aussterben entgangen. Durchgehalten haben nur die allerkleinsten, die einfachsten Lebewesen, die Mikroben. Auch nicht alle, aber doch eine ganze Reihe. Jede höhere Organisation bezahlte ihre Vorteile mit dem Artentod. Die komplexesten, aufwändigsten gehen zuerst zugrunde. Ein Befund der Biologie, der uns aus der Menschenwelt und ihren ökonomischen und politischen Gebilden wohl vertraut ist. Wahrhaben will man es trotzdem nicht. Wir glauben an die Dauerhaftigkeit, vor allem an unsere eigene.
Nun ist die Frage, was mit der Natur passieren würde, wenn der Mensch plötzlich verschwände, gar nicht so theoretisch. Es gibt eine ganze Reihe von Ereignissen, bei denen es so gekommen ist. So überwucherte nach dem Untergang der Maya-Kultur auf der überwiegend mexikanischen Halbinsel Yukatan der Urwald die gewaltigen Tempelbauten so rasch und so gründlich, dass es sehr schwierig war, sie nach nur ein paar Jahrhunderten wieder zu entdecken.
Ähnlich erging es im südostasiatischen Dschungel Angkor Wat oder der Kultur der Nasca an der Westküste von Südamerika im heutigen Peru. Siedlungen der Kelten verschwanden bei uns im Erdboden, und erst eine technisch hochgerüstete Luftbildarchäologie vermochte sie wieder zu entdecken.
Auf allen Kontinenten gibt es Beispiele für sogenannte untergegangene Kulturen, die treffender »zugrunde« gegangene genannt werden sollten. Großartige Kulturen früherer Zeiten wurden unter dem Ansturm von »Barbaren« vernichtet. Als das Römische Weltreich im vierten nachchristlichen Jahrhundert zusammenbrach, hielten das die Überlebenden vermutlich für das Ende aller Kultur. Wie ihre damals große mediterrane Welt zwei Jahrtausende später aussehen würde, hätten sie sich nicht vorstellen können. Der Zerfall gehört offenbar auch zu den Kulturen, wie das Aussterben von Arten zur Evolution.
Wir brauchen also gar nicht versuchen, besondere Zukunftsvisionen zu entwickeln, sondern können uns an Geschehnissen der Vergangenheit orientieren. Sie besagen, dass Menschenwerk erstaunlich schnell verschwindet. Nur unter besonderen Verhältnissen wie bei den ägyptischen Pyramiden im konservierenden Wüstenklima mahlen die Mühlen der Zeit langsam. Wo es feucht und warm ist, geht der Zerfall so schnell vonstatten, dass Ähnlichkeiten zur Bildung von Humus aus den Resten der Produktion des vergangenen Sommers entstehen.
So würde sich der Wald bei uns in Mitteleuropa schon in wenigen Jahrzehnten auszubreiten beginnen und über die nächsten Jahrhunderte fast alles bedecken. Wie schnell unbewohnte Häuser verfallen, ist bekannt. Für Städte gilt das genauso. Die Felder würden sich nicht halten. Die Flüsse würden anfangen, wieder aus ihrem künstlich geschaffenen Bett auszutreten. Pflanzenwurzeln und Keimlinge würden die Teerdecken sprengen – auch das können wir schon heute in vielen Einzelfällen sehen. Die Frostaufbrüche würden die Ansiedlungsmöglichkeiten für Bäume sehr begünstigen. Am längsten halten könnten sich wahrscheinlich die Stromleitungen mit ihren Masten, weil sie aus sehr widerstandsfähigem Material bestehen. Auch wenn sie sehr schnell keinen Strom mehr führen könnten, blieben sie wie Zeugen der Vergangenheit im Strom der Zeit stehen. Als Rätsel für geschichtlich interessierte andere Lebewesen.
Zu Verlierern würden all die Lebewesen, Tiere, Pflanzen und Mikroben, die mit dem Menschen und seiner Zivilisation verbunden waren. Gewinner wären die von uns zurückgedrängten, denen eine neue Freiheit beschert würde. Auf jeden Fall würde das Leben auf der Erde sehr schnell ziemlich anders aussehen als gegenwärtig. Aber nicht schlechter. Denn die Natur wertet nicht.