Das Bambi
und das wilde Schwein
Wie geht es eigentlich dem Wald?
Das Waldsterben verging, der Waldschaden blieb. Als Hauptverursacher wurde das »Schalenwild« dingfest gemacht. Die Wälder sagen nichts dazu. Sie schweigen wie immer, außer es ist Herbst und die brunftigen Hirsche röhren. Kaum noch jemand versteht, was mit unseren Wäldern los ist. Dabei stellte doch die Bayerische Staatsregierung in nicht mehr zu überbietender Kürze klar: »Wald vor Wild«. Setzte sich in dieser Festlegung eine ökologische Einsicht durch?
In dieser Frage steckt so viel politischer Sprengstoff, dass jeder, der versucht, sie zu beantworten, sich fast nur Feinde schaffen kann. Echte Neutralität gibt es nicht, wenn alle Beteiligten alles für sich beanspruchen. Dann lebt es sich im Großstadtdschungel leichter, vor allem für die Hauptbeteiligten, das Schalenwild.
Was mit »Schalenwild« gemeint ist, verdient einen klärenden Blick: Unter dieser Bezeichnung werden Rehe und die verschiedenen Arten von Hirschen zusammengefasst und mit dem Wildschwein vereinigt. Weil alle diese Tiere gespaltene Hufe tragen. Das ist es aber auch schon, was die »Hirschartigen«, zu denen die Rehe ebenfalls gehören, mit den Schweinen verbindet. Gut, Säugetiere sind sie alle, wie wir auch.
Dieses Schalenwild verursacht Schäden in Wald und Flur. Die Jagdpächter müssen diesen Wildschaden bezahlen, aber nur den Landwirten, nicht den Waldbesitzern. Denn nach gängiger Sicht gehören Wald und Wild zusammen. Flur und Wild anscheinend nicht. Da das Schalenwild im Wald schält (und wühlt, im Fall der Wildschweine), klingt der Waldschaden im Wort bereits an.
Reh und Hirsch würden sich zu freundlich anhören, um sie einfach und direkt zum Schädling zu machen, schließlich denkt man sofort an »Bambi«. Doch Bambi ist weder Reh, auch wenn es so niedlich wie ein Rehlein aussieht, noch ein kleiner Rothirsch, wie unser Hirsch eigentlich richtig heißt. Die Jäger nennen Hirsche Rotwild und verwirren uns damit. Dafür bringen sie in ihrer Sprache Geweih und Gehörn durcheinander. Ersteres trägt der Rothirsch, Letzteres der Rehbock, auf dessen Kopf es dennoch ein Geweih bleibt, weil das Reh nichts mit Kühen, Schafen und Ziegen zu tun hat, die Hörner tragen. Die Verwicklungen ließen sich mühelos weiterspinnen (bis zum Spinnen).
Deshalb zurück zu Bambi. Erfunden hat es, wie Micky Maus und Donald Duck, Walt Disney. Das wirkliche Vorbild war der amerikanische Weißwedelhirsch. Der darf seither ohne Weiteres in vielen Vorgärten und städtischen Freianlagen in Nordamerika Asyl suchen, wenn die Jagd beginnt. Ist sie vorüber, begeben sich Bambis Verwandte wieder hinaus in die Wälder und Fluren. In Alaska machen es die Elche ganz ähnlich. Da steht dann plötzlich ein gewaltiger Elch vor dem Fenster, tritt unschlüssig von einem Bein aufs andere, so als ob er überlegen würde, ob er doch gleich ins Wohnzimmer kommt oder lieber draußen bleibt. Von Verkehrsregeln hält er nicht viel, von Autos noch weniger und so schufen die »Hirsche im Vorgarten« neue Jobs für Ranger, die Elche, Weißwedelhirsche und auch anderes größeres Getier wie Bären umsichtig aus der Stadt hinauskomplimentieren.
Unsere Wildschweine lernen schneller und passen sich dem städtischen Straßenverkehr erstaunlich gut an. Das braucht hier nicht wiederholt zu werden (siehe 241). In Skandinavien warnen Verkehrsschilder vor Elchen und dem »Elchtest«, dem nicht alle Autos gewachsen sind. Womit wir ziemlich gut vom brisanten Thema abgekommen sind. Aber nicht wirklich. Diese Vorbemerkungen waren nötig, um den Rahmen für den Wald-Wild-Streit etwas weiter zu spannen.
Was wir an Grundkenntnissen noch benötigen, vermittelt ein Blick auf die Verdauung der Tiere, die zum Schalenwild gerechnet werden. (Der Rest fällt dann in den Bereich von Bürgerrecht und freier Meinungsäußerung.) Rehe und Hirsche sind Wiederkäuer. Darin gleichen sie den Kühen. Das Besondere am Wiederkäuen ist nicht das Kauen, es steckt im Magen. Genauer: in den Mägen, denn Wiederkäuer scheinen mehrere davon zu haben. Tatsächlich sind es Magenkammern und ein stark vergrößerter unterer Teil der Speiseröhre, die zum Pansen geworden ist. Darin leben Mikroben, die aus inhaltlich wenig ergiebiger Ausgangsnahrung, dürrem Gras und Baumrinde, eine ganz hochwertige machen.
Wir könnten den Vorgang mit der Entstehung von Joghurt vergleichen. Die Gärung darin ist zwar sehr viel anrüchiger, dafür aber noch wirkungsvoller. Anrüchig, weil wir einige der Gärungsgase riechen können und nicht sonderlich gut finden. Noch anrüchiger ist aber das, was wir nicht riechen, das Methan. Es wirkt als Treibhausgas mehr als zwanzigmal stärker als das Kohlendioxid und gehört damit zu den drei Hauptverursachern der globalen Klima-Erwärmung. Was zudem fest-flüssig entsteht, ist so gehaltvoll, dass die weiblichen Tiere der Wiederkäuer daraus sogar viel mehr Milch machen können, als sie für ihr Kälbchen brauchen.
Die männlichen, die Stiere, Böcke und Hirsche, schöpfen ihre faszinierende Kampfkraft daraus, die findige Tierhalter schon in grauer Vorzeit der Landwirtschaft zum Ziehen von Wagen und anderem Ackergerät umfunktioniert haben. Voraussetzung war die Kastration, denn danach wissen die in Neutren verwandelten Bullen nichts Vernünftiges mehr mit ihren überschüssigen Kräften anzufangen. Was die Hirsche tun, ist wohlbekannt, wird aber nur ausnahmsweise gesehen. Sie kämpfen bei der Brunft recht heftig miteinander. Davon mehr im nächsten Kapitel. Für die hier zu lösende Aufgabe haben wir vorerst genug beisammen. Wir können uns hineinbegeben ins Kreuzfeuer. Das Wildschwein als Schalenwild stellen wir zurück bis zur abschließenden Anmerkung.
Erster Beitrag: Wiederkäuer brauchen recht große Mengen Pflanzenkost und viel Ruhe, um diese ein zweites Mal durchzukauen. Erst danach verdauen sie den Mikrobenbrei. In der Ausgangsnahrung, insbesondere in den dürr gewordenen Gräsern im Winter, mangelt es an Pflanzenstoffen, die Stickstoff enthalten. Die Mikroben liefern die stickstoffhaltigen Bausteine von Eiweiß, die Aminosäuren, aus ihrer eigenen Lebenstätigkeit. Sie bessern damit dürftiges Futter stark auf, vergleichbar mit Nudeln, die durch eine Fleischbrühe angereichert werden.
Wiederkäuer betätigen sich somit über ihr Innenleben ganz ähnlich wie die frei im Boden lebenden Mikroben, wenn sie die toten Pflanzenstoffe zerlegen, abbauen und in fruchtbaren Humus umwandeln. Sie sind deswegen von Natur aus mitbeteiligt an der Humusbildung unter Grasland, also in Steppen und Savannen. Dort leben Wiederkäuer auch in großen Mengen. Sie könnten (und sollten das auch!) als Vorbild für eine ertragreiche, nachhaltige Weidewirtschaft betrachtet werden. Weidewirtschaft auf der Weide, also im Grasland. Wälder sind kein (natürliches) Grasland. Forste noch weniger, weil sie Holz produzieren sollen. Am besten aus eigenem Nachwuchs heraus, denn die Bäume fruchten alle paar Jahre in großem Umfang, sodass auch ohne Pflanzung Jungwuchs nachkommt. So dieser nicht vom zu hohen Wildbestand abgeweidet (»verbissen«) wird. Damit stecken wir im Kern des Wald-Wild-Problems. Das Wild verbeißt den Jungwuchs, weil es am Waldboden viel zu wenig Gräser und Kräuter findet. Es schält die Rinde von den Bäumen, weil es entweder ganz einfach Hunger hat oder für die Tätigkeit des Pansens sogenanntes rohfaserreiches Futter benötigt. Auch wir tun gut daran, unser Essen in genügendem Umfang mit Rohfasern zu bereichern, weil das die Darmtätigkeit anregt und gegen Trägheit wirkt.
Reh und Hirsch nutzten daher ursprünglich die offenen, lichten Stellen im Wald und auch die Fluren, weil sie dort Pflanzen vorfinden, die den Verbiss gut vertragen. Den mehrjährigen Gräsern macht er überhaupt nichts aus, denn sie wachsen aus Trieben weiter, die geschützt unter der Erdoberfläche liegen. Ihr Wurzelwerk enthält ein Mehrfaches an lebendiger pflanzlicher Substanz im Vergleich zu dem, was grün nach oben hochwächst. Einjährige Gräser sind schlechter dran, weil ihr Wurzelwerk gering entwickelt ist und sie nur wenige Ersatztriebe machen können, wenn der Haupttrieb abgebissen wurde. Am schlechtesten vertragen die jungen Bäume den Verbiss. Ihre Wachstumspunkte sitzen oben in Form von (schlafenden) Knospen an den Spitzen der Triebe und knapp darunter. Fressen Reh und Hirsch diese Knospen und Triebe ab, ist das junge Bäumchen erledigt. Kommt es durch, wächst es nicht schön gerade, wie es werden soll, um gutes Holz zu liefern, wenn das bei den Bäumen »hiebreif« genannte Alter erreicht ist.
Das Reh (rechts) ist nicht das
Junge der Hirschkuh.
Beide, Reh und Hirsch, werden zu sehr in den Wald
hineingedrängt.
Also sollten Reh und Hirsch hinaus auf die Flur. Dort wollen aber die Landwirte das Schalenwild nicht haben, weil es Schaden macht. Sie rächen damit gleichsam die bäuerlichen Vorfahren des 18. und 19. Jahrhunderts, als das Vieh aus den Wäldern verbannt worden war. Man nannte dies die Trennung von Wald und Weide, die früher viele Jahrhunderte lang zusammengehört hatten. Die (damals) moderne Forstwirtschaft erzwang die Trennung, mit der Folge, dass die Wälder besser wuchsen und Forste gedeihen konnten. Die Vertreibung des Wildes aus dem Wald sollte der zweite Streich werden, eben weil Reh und Hirsch wie einst Rinder und Ziegen den Wald verbeißen und zudem in den vergangenen Jahrzehnten so häufig wurden wie nie zuvor.
Verursacher der starken Zunahme des Wildes ist die Landwirtschaft. Die jagdliche Hege trug zwar auch ihren Teil dazu bei, aber maßgeblich ist, dass durch die starke Düngung der Pflanzen die Nahrung des Wilds gehaltvoller geworden ist. War früher die Flur mager und der Wald noch magerer, so sind beide inzwischen hochproduktiv. Zusätzlich zur direkten landwirtschaftlichen Düngung versorgen wir durch Autoverkehr und moderne Heizungen die Wälder und darüber hinaus das ganze Land mit 30 bis 60 Kilogramm Stickstoff pro Hektar und Jahr. Diese Menge hofften die Landwirte Anfang des 20. Jahrhunderts als Dünger auf ihre Felder bringen zu können. Damit wäre der Mangel behoben gewesen, der sich über die Jahrhunderte der Übernutzung breitgemacht hatte. Behoben ist er längst – und als Überdüngung zum Problem geworden.
Die Ernteerträge stiegen – und die Wildbestände auch. Schon ein kurzer nächtlicher Feldspaziergang reicht dem Schalenwild, so viel und so qualitativ hochwertige Nahrung findet es dort. Wo Rehe intensiv bejagt werden, steigt der Anteil der Zwillingsgeburten kräftig. Die Mütter sind in bester Kondition. Sie tragen nicht nur mühelos die Zwillinge aus, sondern bieten ihnen auch die nötige Menge Milch.
Mit immer stärkerer Bejagung ist das Wild aber auch immer scheuer geworden. Es verlässt möglichst nur noch in der schützenden Dunkelheit die sicheren Einstände. Damit wird es nahezu unsichtbar. Man kann kaum noch eine Vorstellung davon gewinnen, wie viel Wild in unserem Land tatsächlich vorhanden ist, weil man es nicht zu Gesicht bekommt. Nur in der jagdlichen Ruhezeit, im Frühling, lassen sich die Rehe, oft gruppenweise oder in kleinen Rudeln beisammen, im Freien beobachten. Weit über eine Million Rehe schießen die Jäger in Deutschland alljährlich. Dem Bestand schadet das nicht. Im Gegenteil! Die jagdliche Nutzung hält ihn produktiv auf hohem Niveau.
Liebe Rehe, wo sind die Hirsche? Für die Bestände des Rotwildes gilt dasselbe. Nur sind diese in einem Großteil des Landes auf bestimmte »Rotwildzonen« beschränkt, gleichsam eingesperrt. Dabei handelt es sich fast ausnahmslos um sehr weitläufige Waldgebiete, sodass die an heimischen Wildtieren interessierte Öffentlichkeit noch weniger von den Hirschen mitbekommt als von Rehen. Scheu verstecken sich die Hirsche in den Dickungen, wo sie dann von Wanderern, Pilzesuchern, Joggern und anderen empfindlich gestört werden.
Die Folgen bekommt zunächst die Forstwirtschaft in Form von vermehrten Schäl- und Verbissschäden ab, dann die Jäger, weil es immer schwieriger wird, den amtlich festgelegten Abschussplan zu erfüllen, und schließlich die Naturfreunde, weil die großartigen heimischen Wildtiere fast gar nicht mehr zu sehen sind. Hirsche werden unter solchen Verhältnissen von den Waldbesitzern wie riesige Ratten betrachtet, die den Wald zerstören, die Jäger gelten als blutrünstige Lustmörder, die das ohnehin zum Nervenbündel heruntergekommene Tier töten, und die auf ihre Weise die Waldeslust als »flow« erlebenden Natursportler sind für alle die großen Randalierer. Wer kann den gordischen Knoten lösen, der sich über Jahrzehnte geschnürt hat? Kein Plan, keine Politik, sondern eine einzige Kraft namens »Guter Wille«! Alle Beteiligten müssten diesen aufbringen.
Alle Beteiligten, das sind wir alle, auch jene, die nicht in den Wald gehen, gern Wildfleisch essen, aber am liebsten von Wildfarmen aus Neuseeland, und die wir Steuern zahlen, mit denen Land- und Forstwirtschaft alimentiert werden. Also haben wir auch alle das Recht, daran mitzuwirken, dass in den Wäldern und Fluren in unserem Land alle leben können, die Land- und Forstwirte, die Naturbesucher, auch die, die es eilig haben und die mit sich beschäftigt sind, wie jene, die mit Muße kommen und beglückende Erlebnisse mitnehmen möchten.
»Wald vor Wild« ist sicherlich nicht die Meinung der Bevölkerung; es ist eine Parole, die nur eine einflussreiche Teilgruppe im Waldgesetz berücksichtigt. Richtig müsste es heißen: »Wald und Wild und Menschen!«. Dann müsste keiner mehr von den anderen »angeschossen« werden.