Die sechs Wölfinnen

Wie kam der Mensch auf den Hund?

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»So kam der Mensch auf den Hund«, lautet der Titel eines der meistgelesenen und charmantesten Hundebücher. Verfasst hat es 1949 der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz. Die darin vorgestellte Theorie von der Entstehung des Haushundes gilt aber inzwischen als überholt und in Teilen sogar als falsch. Konrad Lorenz hatte angenommen, dass auch der Goldschakal, ein kleiner Verwandter des Wolfs, aber eine eigenständige Art, zu den Vorfahren des Haushundes gehört. Die Befunde der Molekulargenetik schließen den Goldschakal sicher aus. Alle Haushundrassen stammen danach vom Wolf ab. Und aus Asien.

Den neuesten molekulargenetischen Forschungen zufolge könnten sechs Wölfinnen die Stammmütter aller Haushunde sein. Andere Befunde gehen von gut 50 Wölfinnen aus. Sie lebten gegen Ende der letzten Eiszeit, vor etwa 15 000 Jahren, in Ostasien, wahrscheinlich in Zentralchina. Die Datierungen halten allerdings ein ziemlich breites Zeitfenster offen: frühestens vor 40 000 Jahren, wahrscheinlich vor 15 400 Jahren muss es zur Zucht der ersten Wölfe mit gezielter Auswahl des Nachwuchses gekommen sein. Dieser Zeitraum stimmt mit den fossilen Funden von Wolfsknochen überein, die schon Anzeichen von Domestikation tragen. Dennoch ist sehr wahrscheinlich die Annahme richtig, dass Wölfe und Menschen schon vor etwa 100 000 Jahren miteinander in mehr oder weniger lockerer Gemeinschaft lebten. Das wäre die Zeit, in der die ersten Angehörigen unserer Art Mensch, also des Homo sapiens, aus Afrika nach Eurasien kamen.

Das Zusammenleben dürfte ähnlich gewesen sein wie in vielen Regionen des Vorderen Orients, wo es streunende Hunde in großer Zahl gibt, die sich von Abfällen der Menschen ernähren. Bei den Menschen der Steinzeit, die als Großwildjäger herumzogen, gab es viel mehr davon und für Wölfe auch in sehr viel besserer Form als bei den liegen gebliebenen Kadavern von Großtieren, die die Menschen nicht vollständig verwerteten. Dass bei einem Mammut viel abfällt, ist offensichtlich. Die Wölfe aber hätten solche Riesen allein nicht zur Strecke bringen können. Und keine als Jäger und Sammler bis in unsere Zeit umherschweifende Menschengruppe verzehrt einen Elefanten zur Gänze, bevor das Fleisch verdirbt.

Die Eiszeitmenschen jagten aber hauptsächlich große Beutetiere. Es lohnte sich für die Wölfe, sich den Menschengruppen anzuschließen und sie gegen andere Wolfsrudel zu verteidigen. So kann man sich vorstellen, dass die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Wolf zustande kam. Sie musste sich über die Jahrtausende nicht weiterentwickeln, da sich auch der Lebensstil der Menschen nicht veränderte. Immer wieder wurden sicherlich auch Wolfswelpen von den Menschen großgezogen. Für die Jungwölfe ergab sich daraus eine stärkere Bindung an den Menschen als für die wilden Wölfe, die nur der Abfälle wegen kamen und scheu blieben. Der Mensch hat zu allen Zeiten und in allen Kulturen gern junge Wildtiere großgezogen. Wir sind so veranlagt. Deshalb neigen wir auch dazu, die Geschichten von Kindern zu glauben, die von Wölfen großgezogen worden sind.

Die große Änderung im Verhältnis zwischen Menschen und Wölfen ergab sich erst, als gegen Ende der letzten Eiszeit, vor 10 000 bis 15 000 Jahren, die Menschen im Vorderen Orient und in Ostasien anfingen, sesshaft zu werden und Haustiere zu züchten. Insofern stimmen die Angaben für die chinesischen Wolfsmütter als Ursprung aller Haushunde ganz gut mit den äußeren Umwälzungen in Klima und Lebensstil der Menschen überein.

Das Großwild wurde rar. Am Ende der Eiszeit war es in fast ganz Eurasien überall dort weitgehend oder ganz ausgerottet, wo es Wölfe gab. In den wärmeren, südlichen Regionen können Wölfe als Laufjäger aufgrund der schlechten Kühlung aber nicht so gut Beute machen. Flinke Gazellen in der offenen Steppe zu jagen, ist nicht ihre Stärke. Die viel schnelleren Geparde waren ihnen klar überlegen. Dem Wolf wird es, eingehüllt in seinen Wolfspelz, bei anhaltender Hetzjagd in der Hitze rasch zu warm. Die Zungenkühlung reicht nicht mehr. In den südlichen Vorkommen leben Wölfe daher nur in Kleinstgruppen als Paare und ernähren sich von kleinen Tieren. Ihr Körperbau ist graziler, das Fell dünner als bei den nordischen Wölfen. Sie ähneln dem noch kleineren Goldschakal, der sich ausgiebig als Aasjäger betätigt und, wenn kein solches zu finden ist, auch mit Käfern vorliebnimmt.

Wo Beutetiere knapp wurden, mussten die Wölfe darben. Solche, die sich den Menschen genähert und sich auf die Abfälle eingestellt hatten, kamen besser über die knappen Zeiten als die frei jagenden. Es war also von Vorteil für diese Wölfe, Hund zu werden. Das ist immer noch so. Während die frei lebenden Wölfe überall, wo es sie noch gibt, um ihr Überleben kämpfen müssen, leben ihre Nachfahren, die Hunde, zu vielen Millionen bei den Menschen. In Europa allein sind es über 40 Millionen Hunde, aber nur 20 000 Wölfe. Daraus geht deutlich hervor, wer die bessere Wahl getroffen hat.

Früh schon wurden Hunde für besondere Zwecke gezüchtet. Altägyptische Darstellungen zeigen, dass es vor über 3000 Jahren große, langbeinige Jagdhunde mit kurzem Fell gab. Und kleine Rassen, die bereits damals als Schoßhunde gehalten wurden. Kein Tier hat sich so eng wie der Hund den Menschen angeschlossen und sich sogar in der Entwicklung seines Gehirns auf den Partner eingestellt. Hund und Mensch können besser miteinander kommunizieren als Schimpansen und Menschen. Es gibt Hunde, die bis zu 300 Wörter richtig verstehen. Ans fast Übersinnliche grenzt die Fähigkeit von Blindenhunden, die Umwelt so zu erfassen, dass sie den Menschen sicher und richtig führen. Auch wenn sehr viel Training notwendig ist, bedeutet es doch, dass sich der Hund irgendwie vorstellen kann, was der Mensch tun oder lassen sollte, vor allem da sich natürlich nicht alle möglichen Situationen, die im wirklichen Leben eintreten können, vorab durchtrainieren lassen. So ist der Hund das einzige Beispiel für die erfolgreiche Züchtung von Intelligenz. Ein Befund, der auch sehr nachdenklich stimmt.

Naturgeschichte
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