Die
Kathedrale
und die Moschee
Braucht der Mensch
Religion zum Überleben?
Die Religionen versuchen, das Gegeneinander der Menschen zu überbrücken. Gerade die Weltreligionen heben die Gleichheit der Menschen hervor und lockern damit die ethnischen Schranken. Aber wie ist die Religiosität überhaupt zu verstehen? Braucht der Mensch eine Religion? Mal ganz abgesehen davon, dass sich jede Religion für die (einzig) richtige hält, kommt die Religiosität doch offensichtlich den Menschen zugute. Kann man ihre Entstehung evolutionsbiologisch verstehen?
Durchaus. Die Geschichte der Religionen gibt dazu jede Menge Hinweise. Und die gegenwärtige Forschung liefert überzeugende Befunde, die die Vorteilhaftigkeit der Religion zeigen. Zum Beispiel haben stark in ihre Religionsgemeinschaft eingebundene Menschen mehr überlebende Kinder und keine Probleme mit Vereinsamung oder Verarmung. Die Einbindung gibt ihnen mehr Sicherheit und Zukunft. Evolutionsbiologisch betrachtet, zählt der Fortpflanzungserfolg am meisten. Je mehr eine Gruppe zu den nächsten Generationen beiträgt, desto gesicherter wird ihr Überleben sein und umso mehr Bedeutung (Einfluss, Macht) gewinnt sie. Die Vereinzelten mit großer Kinderschar stufte die Gesellschaft als asozial ein, zumal, wenn sie Armenhilfe beanspruchten und so »auf Kosten anderer« lebten. In der engen Religionsgemeinschaft tragen alle zum Wohle der Gemeinschaft bei und keiner lebt darin auf Kosten der anderen. Die gemeinschaftliche Arbeit steigerte die Leistung weit über das hinaus, was einzelne oder auch Familien zustande bringen könnten. Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kathedralen sowie auch die im Vergleich zu ihren Dörfern oft recht großen Kirchen zeugen eindrucksvoll von diesen Gemeinschaftsleitungen in vorindustrieller Zeit.
Abgaben an den Staat wurden und werden als Zwangsabgaben empfunden, denen man sich möglichst zu entziehen sucht – legal durch Steuerschlupflöcher oder illegal durch Hinterziehung. Die Steuer »frisst« der anonyme Staat und setzt sie verschwenderisch ein. Die aus der religiösen Motivation heraus erbrachte Leistung hingegen erzeugt ein gutes Gefühl. Auch in unserer Zeit steht die Spendenbereitschaft für gute Zwecke in krassem Gegensatz zur Akzeptanz der Steuerzahlungen. Obwohl beide Ausgaben anderen zugute kommen, wird die eine persönlich klar positiv, die andere ebenso selbstverständlich negativ bewertet. Derart tief sitzende Empfindungen weisen auf eine Vergangenheit, in der es wichtiger war als heutzutage, seinen Teil für die Gemeinschaft beizutragen.
Einen Einstieg dazu vermittelt der Begriff »Religion«. Er stammt aus dem Lateinischen und bedeutet, sogar in wörtlicher Übersetzung, Rück-Bindung. Rückbindung an die Gemeinschaft und die Ahnen, denen die Gemeinschaft ihre Existenz verdankt. Dabei geschieht etwas Seltsames. Die Rückbindung schafft Zukunft. Oder, noch klarer ausgedrückt, sie macht zuversichtlich. Weil sie das Leben in der Gegenwart sichert, wird dieses in besonderer Weise zukunftsfähig. Die Kinder mit eingeschlossen. Sie werden sich auf ihrem weiteren Lebensweg auf die Gemeinschaft, aus der sie kommen, verlassen können. Und umgekehrt. Auch die Eltern können hinreichend sicher sein, dass sich die Kinder um sie kümmern werden, wenn sie Hilfe brauchen. Der Druck der Gemeinschaft wird dafür sorgen, sollte der normale, fast unvermeidliche Eltern-Kind-Konflikt zu einer zu starken Entfremdung führen. Hieraus erwächst ganz von selbst die Stabilität der Gemeinschaft. Sie versteht sich als Fortsetzung der ihr vorausgegangenen Gemeinschaften – und daher die Rückbindung an deren Sitten und Riten, an die gemeinsamen Werte.
Versuchen wir, uns die Verhältnisse in vorindustriellen Zeiten und noch früher vorzustellen. Das Leben war nicht nur nahezu ständig bedroht von Hunger und Krankheiten, sondern auch von Feinden. Die anderen Menschen waren die schlimmsten Feinde, weil sie genau das zum Leben beanspruchten, was man selbst brauchte. Wo sich aber Konkurrenz und Feindschaft miteinander verbinden, entstehen Neid und Hass. Nichts bringt Menschen gegen andere Menschen so sehr auf wie Hass. Ihn zu erzeugen und zu schüren war stets die Strategie der Demagogen und Kriegstreiber. Die Kenntnis von Herkunft (»Abstammung«, daher die immense Bedeutung der Stammväter!) und gemeinsamen Sitten wurde zusammen mit der gruppenspezifischen Sprechweise zum Erkennungszeichen für die Zusammengehörigkeit.
Da sich zwangsläufig die aufgeteilten Gruppen im täglichen Leben auseinanderentwickelten, eigene Erfahrungen machten und sich auch wieder aufspalteten, wurde ein Grundstock von Gemeinsamkeiten als (Wieder-)Erkennungszeichen immer bedeutungsvoller. Die Religion vermittelte ihn und sorgte dafür, dass er als solcher erhalten blieb. Deshalb ist die Bezeichnung Rück-Bindung so zutreffend. Am Anfang wohl aller Religionen stehen daher Entstehungs- oder, später entwickelt, Schöpfungsmythen. Sie sollen den Nachgeborenen ihre Herkunft erläutern und sie immer wieder verpflichtend (!) daran erinnern, woher sie kommen und wohin sie gehören. Religion stellte daher von Anfang an eine Notwendigkeit dar. Sie wurde zu einem Überlebensprogramm.
Und zu einer Möglichkeit, die engen Grenzen von Sippe, Stamm und Volk durch Ausweitung auf »die anderen« zu überwinden. Das Ziel wäre so klar wie edel gewesen, wenn die Ausweitung denn funktioniert hätte: Mit der Einbeziehung »der anderen« verlieren sie ihre Bedrohlichkeit. Denn die gemeinsame Religion verpflichtet sie, gemäß der biblischen Forderung »den Nächsten zu lieben«. Mit den Nächsten waren die Zugehörigen zur (sich vergrößernden) Gemeinschaft gemeint, nicht die »Ungläubigen«, die ausgegrenzt und abgewertet wurden, weil sie eben nicht den »rechten Glauben« hatten.
Mit der Ausweitung der auf die eigene Gemeinschaft bezogenen Rückbindung auf andere Gruppen als Religion kam ein ungeheuerer Machtzuwachs zustande. Königtümer und Kaiserreiche zerbrachen an ihr, heute scheitern daran die Sanktionen der internationalen Gemeinschaft. Kein Wunder, dass das in der Entstehungsgeschichte so edel Gemeinte unter der Verlockung von Macht, Machtausweitung und Unterdrückung der Andersgläubigen die schlimmsten Konflikte innerhalb der Menschheit hervorrief, die Religionskriege und die Kriege religionsgleicher Ideologien (Kommunismus, Nationalsozialismus). Sie übertrafen sogar den Rassismus in der Zahl der Opfer bei Weitem. Nach wie vor sind Religionen und Ideologien die Hauptquellen für schwerste Konflikte unter Menschen. Sie lassen sich auch allzu leicht für wirtschaftliche Zwecke oder zur Ausweitung von Macht und Einfluss missbrauchen. Das Überlebensprogramm Religiosität wurde durch die Ideologisierung in den Religionen zum Vernichtungsprogramm. Es gab und es gibt immer noch »die Lizenz zum Töten«.