Der nackte
Affe
und der Dauerläufer
Warum haben wir nur
auf dem Kopf Haare?
Nackt werden wir geboren, nackt bleiben wir bis auf den Haarwuchs auf dem Kopf und an wenigen kleinen Stellen am Körper. Es fehlt uns einfach von Natur aus das Fell, das unsere Primaten-Verwandtschaft und die allermeisten anderen Säugetiere kennzeichnet. Müssen wir uns schämen, weil wir nackt sind? Wenn wir so denken, erschaffen wir uns selbst ein Problem, das von Natur aus gar nicht existiert. Unsere Nacktheit war und ist ein großer Vorteil und keineswegs ein Makel oder gar ein Mangel.
Doch um das so nahe Liegende verständlich zu machen, müssen wir uns mit unserer ferneren Vergangenheit und mit dem Haar an sich ein wenig näher befassen. Allerdings geleiten uns in die fernere Vergangenheit nur versteinerte Knochen, Fossilien, denen auf den ersten Blick nicht anzusehen ist, ob die früheren Menschenformen auch schon nackt waren oder noch ein Fell ähnlich wie die Menschenaffen hatten. Aber zum Glück gibt es diese nächsten Verwandten noch, und wir können so ein paar recht aufschlussreiche Vergleiche mit ihnen anstellen.
Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans tragen ein Fell, wie alle anderen Primaten auch, die oft abwertend als Affen zusammengefasst werden. Nennen wir sie lieber Primaten, denn sonst müssten wir uns selbst auch bei den Affen mit einreihen. Desmond Morris machte das und schrieb ein Buch über uns Menschen mit dem Titel Der nackte Affe. Es wurde ein Weltbestseller. Wahrscheinlich weil der Verfasser uns so darzustellen versuchte, wie wir sind, und nicht, wie es uns gefällt. Die Nacktheit kennzeichnet den nackten Affen immer und überall bei allen Menschen, auch wenn Kleidung dieses Merkmal verhüllt, während die von den Zoologen bevorzugte Fachbezeichnung für den Menschen Homo sapiens, der »weise« oder »kluge« Mensch, wohl nicht immer und überall so zutrifft, wie man meinen sollte.
Wieso aber wächst uns fast am ganzen Körper nahezu kein einziges Haar mehr? Nun, eigentlich gibt es unser Fell schon noch, aber die Härchen sind so winzig, dass sie, abgesehen von manchen Männerbrüsten, nicht auffallen. Sie bleiben auch im Hinblick auf ihre frühere Bedeutung als Fell gänzlich unbedeutend. Der zarte Flaum kann weder vor kaltem Wind und Regen noch vor Sonnenbrand schützen. Zudem ist unsere Haut sehr empfindlich. Dornen ritzen sie, auch raue Borke. Nackt auf Bäume zu klettern ist kein Vergnügen. Alles Nachteile!
Dennoch zählen sie fast nichts im Vergleich zu den großen Vorteilen unserer unzureichenden Behaarung. Statt eines dichten Fells sitzen auf unserer Haut Millionen und Abermillionen winziger Schweißdrüsen. Bei starkem Schwitzen geben sie so viel kühlendes Wasser ab, dass der Wärme-Entzug einem Mehrfachen des normalen Energie-Umsatzes in unserem Körper entspricht. Das heißt im Klartext: Wir können so unglaublich viel und schwer arbeiten, weil wir so gut schwitzen. Extrem gut. Am besten von allen Säugetieren. Wir sind deshalb von Natur aus ein Arbeitstier.
Und das war in unserer Entwicklung vor einem ganz anderen Hintergrund notwendig. Diesen sehen wir an unseren Beinen und im Vergleich zu den Menschenaffen. Wir sind Läufer, sie ganz und gar nicht. Wenn sie mit nach innen gebogenen Fingern auf ihren Fingerknöcheln einherschreiten, ist ihre menschenäffische Fortbewegungsweise gewöhnungsbedürftig. Auch ihr vierbeiniges Laufen, so schnell es auf kurzen Strecken auch sein mag, sieht nicht gerade elegant aus. Da wirken unser Einherschreiten und der Lauf doch ganz anders und gewiss fortschrittlicher. Und genau um diesen Fortschritt ging es, als unsere Nacktheit zustande kam. Der werdende Mensch war ein Läufer geworden; ein Läufer mit nomadischer Lebensweise. Die Vormenschen richteten sich auf die Hinterbeine auf, das dauerte viele Tausende Generationen und mehrere Millionen Jahre insgesamt. Aber dann war der Körper unserer fernen Vorfahren optimiert. Beckenform und Beinlänge passten, der Fuß ließ sich gut über die Ferse abrollen. Die Muskulatur war kräftig genug geworden, um schnelle Sprints und anhaltende Dauerläufe zu ermöglichen.
Doch bei alldem wird Wärme frei; viel Wärme und immer mehr, je länger der Lauf dauert. Die Muskulatur würde sich überhitzen. Das Gehirn auch. Ein optimal arbeitendes Kühlsystem ist daher unverzichtbar. Die Menge der Schweißdrüsen nimmt zu. Die Größe und Dichte der Haare ab. Denn dichtes Fell verklebt der Schweiß, dann geht die Kühlwirkung verloren.
Die Nacktheit kam zustande, weil der Mensch ein Läufer geworden war. Der beste Läufer überhaupt. Marathonstrecken legt er zurück und noch mehr, viel mehr. Der Rekord im Dauerlauf liegt gegenwärtig bei 600 Kilometern. Kein anderes Tier kann uns das nachmachen, weder das beste Rennpferd noch der ausdauerndste Hund. Um Rekorde ging es zwar sicherlich nicht in der Evolution des Menschen, wohl aber um Ausdauer, um Durchhaltevermögen. Die nomadische Lebensweise wurde der Lebensstil aller Angehörigen der Gattung Mensch. Wir stammen von ihnen ab. Ihr Vorteil ist auch unserer. Wir nutzen ihn zum Arbeiten. Damit haben wir die Welt verändert. Kein anderer Primat, kein vergleichbares Säugetier ist auch nur annähernd so leistungsfähig wie der Mensch. Die Nacktheit macht’s möglich. Dass sie oft verborgen wird, hat andere Gründe. Denn die Erfindung der Kleidung vervollständigte den Vorzug der Nacktheit. Mit diesem beliebig zu wechselnden Ersatz für das Fell wurde es dem Menschen möglich, seine Tropenheimat zu verlassen und sich den großen Rest der Erde als Lebensraum zu erschließen. Die Kleidung benutzt er dazu, seine Tropenwelt in kleinstmöglichem Umfang mitzunehmen. Nämlich mit etwa 27 Grad Celsius an der Körperoberfläche.
Nur der Kopf mit seinem mehr oder weniger üppig wuchernden Haar bereitet noch evolutionsbiologisches Kopfzerbrechen. Auch mir, zumal ich eine Deutung versuchen möchte, die sicherlich nicht allen gefallen wird. Ich halte die Haare nämlich für eine Ausscheidung des Körpers; ursprünglich zumindest. Sie bestehen aus Horn, genauer gesagt, aus Keratin. Dieser Stoff bedeckt als dünne Außenschicht nicht nur den menschlichen Körper, sondern alles, was unter Säugetieren, Vögeln und anderen Wirbeltieren Haut hat. Wiederum sollte ich genauer sein und von der Oberhaut sprechen, denn die darunter liegende, viel dickere Lederhaut ist nicht gemeint. Aus dieser dickeren Unterhaut von Rindern und anderen Tieren stellt man Leder her; die Oberhaut ist zu dünn dafür. Wofür ist sie dann aber gut? Dass sie Schwielen und Hühneraugen ausbildet?
Natürlich sind das Folgen übermäßiger Hautbildung, aber nicht die Gründe für deren Entstehung. Wichtiger scheint zunächst, dass sie den Körper nach außen begrenzt und schützt. Das ist richtig. Doch muss sie deswegen andauernd abschuppen, auch wenn sie gar nicht strapaziert wird? Was mir am wenigsten gefällt, sind Erklärungen, die da lauten: »Das ist halt so.« Ich meine, es gibt eine echte Erklärung, wenn wir uns die Haut selbst und die Gebilde, die sie erzeugt, ein wenig genauer ansehen.
Der Stoff, aus dem sie aufgebaut sind, ist das schon angeführte Keratin. Es besteht aus Eiweiß, genauer aus Eiweiß-Bauteilen, den Aminosäuren, die in einer ganz bestimmten Weise miteinander chemisch verbunden sind. Zu diesen Aminosäuren gehören auch solche, die Schwefel enthalten. Würden diese im Körper abgebaut werden wie andere Reststoffe auch, entstünden dabei sehr giftige Schwefelverbindungen, wie etwa der (nach faulen Eiern stinkende) Schwefelwasserstoff (H2S). Stattdessen steckt der Körper diese schwefelhaltigen Aminosäuren in die Bildung von Keratin, das elastisch und zäh, zugleich aber auch gänzlich ungiftig ist. In Haare zusammengefasst ergibt sich daraus das Fell. Es verliert mehr oder weniger regelmäßig Haare. Bei manchen Tieren gibt es einen richtigen Haarwechsel in Frühjahr und Herbst. Dabei sind die Haare keineswegs so schlecht, dass sie ersetzt werden müssten. Deshalb halte ich das Haar für eine Körperausscheidung, die ursprünglich dazu angelegt war, problematische Aminosäuren zu entsorgen, die der Körper nicht braucht, weil die Nahrung schon mehr als genug davon enthält.
Ein Weg, sie loszuwerden, führt über die Haut. Dort sitzen unsere Drüsen und Haarwurzeln. Die Drüsen scheiden die Aminosäuren und bestimmte Fettsäuren aus. Die Bakterien auf der Haut leben davon. Sie erzeugen dabei den Schweißgeruch. Wir würden entsetzlich stinken, gingen all die Aminosäuren, die zum Aufbau der Haare verwendet werden, stattdessen einfach über die Haut nach außen. Bekanntlich haben Säugetiere, die sich von sehr eiweißreicher Kost ernähren, einen starken Haarwuchs oder sie stinken.
Damit bin ich auf Umwegen schließlich bei unserem Kopf angelangt. Der Mensch hat ja seit dem Wechsel der Ernährung von Pflanzenkost auf Fleisch zumindest zeitweise ein Überangebot an Proteinen, darunter auch viele schwefelhaltige. Diese müssen entsorgt werden. Und zwar möglichst unschädlich. Unser starker Haarwuchs am Kopf macht diese Entsorgung möglich, ohne dass das Kühlsystem des Körpers davon beeinträchtigt wird. Unser Körper, so meine Ansicht, schiebt gleichsam all das, was ursprünglich ins ganze Fell ging, in unser Kopfhaar. Und weil immer neue Eiweißstoffe für die Keratinbildung nachkommen, wachsen unsere Haare beständig nach, bis sich der Stoffwechsel im Alter verlangsamt.
In der Jugend aber, vor allem bei jungen Frauen, drückt der Haarwuchs aus, dass sie bestens mit Proteinen versorgt sind und gesunde Kinder zur Welt bringen können. Es klingt vielleicht etwas kühn, aber womöglich ist das auch der Grund, dass in manchen Kulturen bei Mädchen und Frauen die Haarpracht verborgen gehalten wird. Andere sollen daraus keine Rückschlüsse ziehen können, denn wie es heißt, die Haare sind das Leben der Frau.