Die süßesten Früchte
und der Seidelbast

Warum lieben wir Blumen so sehr?

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In allen Kulturen schmücken die Menschen sich selbst oder die Orte, an denen sie wohnen, mit Blumen. Woher kommt diese zweckfreie Liebe zu Blumen?

Weil Blumen so schön sind. Kinder würden weiterfragen: Warum sind sie denn schön? Und das bringt uns Wissenschaftler in Verlegenheit. So genau wissen wir es nämlich nicht. Es gibt schließlich auch recht unterschiedliche Vorlieben. Manche mögen rote Rosen am liebsten, andere schätzen besonders das »edle Weiß« der Lilien oder die »Blaue Blume der Romantik«. Die Geschmäcker sind verschieden. Die Blumen selbst fallen noch viel unterschiedlicher aus, so dass man durchaus fragen könnte, ob es nicht weniger Blütenformen und die Standardfarben auch täten?

Beginnen wir mit den Farben. Wir unterscheiden die unterschiedlichsten Nuancen von dunklem Rot über Orange, Gelb, Grün und Blau bis zu Violett. Mit Violettrot schließt sich für uns der Kreis der Farben. Der Kreis – das ist höchst merkwürdig, denn die Physik des Lichts lehrt etwas ganz anderes. Danach sind die Farben Gruppen unterschiedlicher Wellenlängen von Licht – von für unsere Augen sichtbarem Licht, wie hinzugefügt werden muss.

Die Farben beginnen im langwelligen Rot und enden im kurzwelligen Blau. Von einem Kreis keine Spur. Den erzeugt unser Auge, eigentlich sogar erst das Gehirn. So, wie unser Auge gebaut ist, nimmt es die Lichtwellen auf, die von Rot bis Blau reichen. Nicht mehr. Ganz selbstverständlich ist das freilich nicht. Es gibt andere Augen, zum Beispiel Insektenaugen, die sehr wohl und recht gut das für uns unsichtbare Ultraviolett sehen.

Auch unter uns Menschen kommen Abweichungen in der Sehtüchtigkeit vor. Manche können Rot und Grün nicht voneinander unterscheiden. Etwa neun Prozent der Männer und weniger als jede Hundertste der Frauen (0,8 Prozent) sind von der Rot-Grün-Schwäche oder -Blindheit betroffen. Viel seltener ist eine Blau-Gelb-Schwäche und eine ganz große Ausnahme die völlige Farbenblindheit. Diese Sehschwächen sind angeboren. Man kennt inzwischen sogar genau die Stellen im Erbgut, an denen die Fehler sitzen, nämlich auf einem der beiden Geschlechts-Chromosomen, auf dem X-Chromosom. Da Männer nur eines davon haben, tritt bei ihnen die Rot-Grün-Blindheit zehnmal häufiger auf als bei Frauen, die zwei X-Chromosomen in sich tragen. Hat das eine den Fehler, das andere aber nicht, wird er ausgeglichen, aber gegebenenfalls weitervererbt.

Rot ist eine Farbe, die von den meisten Säugetieren gar nicht gesehen wird. Hunde können Rot und Grün praktisch nicht unterscheiden, wenn sie den gleichen sogenannten Grauwert haben. Gemeint ist damit die gleiche Helligkeit bzw. Intensität farbiger Flächen. Rot-Grün-blind sind auch Kühe und Rehe, Katzen und Pferde. Ausnahmen machen Säugetiere unserer näheren und nächsten Verwandtschaft, die Primaten. Ihre Lebensweise zeigt uns, weshalb die Fähigkeit, Rot von Grün unterscheiden zu können, für sie und auch für uns Menschen so wichtig geworden ist.

Es geht um das Erkennen reifer Früchte. Viele, besonders solche, die uns gut schmecken und die nahrhaft sind, wechseln beim Reifen ihre Farbe von Grün zu Rot oder zumindest zu rötlicher Tönung. In tropischen Wäldern, in denen Früchte nicht zu ganz bestimmten Jahreszeiten reifen und der Aufwand, in die Baumkronen hinaufzuklettern, hoch ist, stellt das Erkennen reifer Früchte auf größere Entfernung einen beträchtlichen Vorteil dar. Das gilt natürlich auch für die Vögel, die sich allerdings dank ihrer Flugfähigkeit leichter tun, die reifenden Früchte zu erreichen. In der Fähigkeit, Rot gut zu erkennen, gleichen wir den Vögeln also weit mehr als den allermeisten anderen Säugetieren.

Viele Tiere, die süße Früchte mögen, verlassen sich auf ihre Nase. Das Aroma des Obstes verrät ja noch zuverlässiger als die Farbe den Reifezustand. Die menschliche Nase ist allerdings nicht gerade gut dafür geeignet, auf eine Entfernung von 20, 30 oder gar mehr als 100 Metern feine Fruchtaromen zu riechen. Weil wir so ausgeprägte »Augentiere« sind, müssen wir die Früchte möglichst direkt unter der Nase haben. Auf eine Entfernung verlassen wir uns lieber – und richtigerweise – auf die Augen.

Rot ist aber nicht nur ein gut erkennbares Farbsignal, es hat noch eine andere Bedeutung, und zwar nicht nur für den Menschen. Es ist die Farbe des Blutes und damit ein wichtiges, ein geradezu lebenswichtiges Signal. Rot, das in Lippen erstrahlt oder auch in Blüten, hält sich anders als austretendes Blut. Es ist lebendiges, »gutes« Rot, nicht das bedrohliche. Viele Menschen, vielleicht sogar besonders diejenigen, die rote Blüten am meisten mögen, können kein Blut sehen. Es scheidet für sie gleichsam Leben und Tod. Und tödlich kann Rot durchaus nicht nur beim Verbluten sein, es warnt auch vor tödlichem Gift. Korallenschlangen beispielsweise tragen rote Ringe am Körper, manche giftige Insekten, die Giftstoffe enthalten, auch. Und sogar viele rote Beeren sind giftig. Gerade solche, wie sie der Seidelbast, das Maiglöckchen und andere Pflanzen entwickeln, können bei Verzehr lebensgefährliche Vergiftungen verursachen.

Also bringt unsere besondere Fähigkeit, Rot und Grün zu erkennen, den Vorteil, Gutes und Gesundes von Gefährlichem zu unterscheiden. Die dafür erforderlichen Anlagen entstanden in der jüngeren Vergangenheit der Primaten, als diese anfingen, ihre ursprüngliche Insektennahrung mit Früchten zu ergänzen. Der Mensch bekam sie als Fähigkeit mit, aber eben mit der einige wenige belastenden Schwäche, dass bei ihnen nur die alte, säugetiertypische Farbunterscheidung ausgebildet ist und Rot fehlt.

Aber auch andere Farben, Blau oder Gelb, signalisieren Wichtiges. Schließlich gibt es eine Fülle wohlschmeckender Früchte mit gelber Färbung, wie die Bananen, und auch blaue Pflaumen oder Heidelbeeren. Nur Grün ist als Fruchtfarbe selten, weil sie sich vom Grün der Blätter zu wenig abhebt.

Es ist für die Pflanzen, die fleischige, zuckerhaltige Früchte erzeugen, wichtig, dass die Früchteverzehrer diese finden, damit auch die Samen weiterverbreitet werden. Ganz entsprechend locken auch Blüten mit auffälligen, sich klar vom Hintergrund unterscheidenden Farben die Insekten an. Viele Blüten strahlendem dementsprechend UV-Licht zurück, das dann nur die Insektenaugen sehen, wir aber nicht. Für unsere Augen auffällig rote Blüten locken zur Bestäubung Vögel an, weil diese ganz ähnlich wie wir das Rot sehen. Die an Blütenpollen interessierten Insekten hingegen nehmen Rot als Schwarz wahr. Solche Blüten liefern vornehmlich Nektar, leisten sich aber keinen Überschuss an Pollen. Wo Pollen in Massen produziert wird, sind die Blüten leuchtend Gelb. Denn Gelb zieht Insekten am stärksten an.

Eine bunte Vielfalt tut sich buchstäblich auf, wenn wir ins Reich der Blütenfarben und der Insekten hineinblicken. Sie verraten uns mit ihrem Verhalten, warum wir auch die Blütenform so sehr schätzen, nicht allein die Farbe. Nirgendwo sonst spielt die Symmetrie äußerlich eine so wichtige Rolle wie in den Blüten. Sie sind strahlenförmig aufgebaut mit einem klaren Zentrum, zu dem die Insekten hingezogen werden sollen, um die Bestäubung zu vollziehen, oder zweiseitig symmetrisch mit verborgenem Nektar, der nur auf bestimmten Wegen erreicht werden kann.

Die ungestörte Symmetrie der Blüten drückt aus, dass sie jung und gesund sind, sich also in der richtigen Form entwickelt und entfaltet haben. Die Symmetrien sprechen uns an, weil sie auch in unserem Leben von größter Bedeutung sind. Leben soll ohne Unregelmäßigkeiten entstehen und störungsfrei bleiben. Hat es Entwicklungsstörungen gegeben, sind die davon Betroffenen mit Fehlern behaftet. Kommen Störungen im Lauf des Lebens auf uns zu, erkranken wir.

Vollkommene Symmetrien nehmen wir gefühlsmäßig als Ausdruck von Gesundheit wahr – wie frische Farben auch. Deshalb schätzen wir Blumen so sehr und viel mehr als grüne Pflanzen, obwohl diese das Raumklima eher verbessern als Blumensträuße. Und wir lieben Blumen offenbar schon sehr lange – denn schon die Neandertaler gaben ihren Toten Blumen mit ins Grab.

Naturgeschichte
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