Der Distelfalter und die Wanderheuschrecke

Warum wandern Insektenvölker?

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In den letzten Jahren tauchten im Frühsommer mitunter große Mengen Distelfalter auf, die sich im Gegensatz zur Tsetsefliege nicht nur etwas mehr oder etwas weniger in einer bestimmten Region ausbreiten, sondern ganze Weltreisen unternehmen. Die braunscheckigen Schmetterlinge flatterten sogar im Münchner Hauptbahnhof herum. Wie vom Herbstwind verwehtes Laub überflogen sie die Autobahn. Vor allem die Massenwanderungen von Distelfaltern im Juni 2003 und im Mai 2009 gehörten zu den größten seit vielen Jahren. Einer der Hauptzüge flog 2003 von den Alpen her das Isartal nordwärts und passierte dabei München. Manche Büsche in der Stadt waren so voller Distelfalter, dass die Blätter nicht mehr zu sehen waren. Zählungen ergaben, dass es sich um eine Menge von über 20 Millionen gehandelt haben muss. Rechnet man die anderen nordwärts gerichteten Flusstäler dazu, die von den Distelfaltern bevorzugt auf ihrem Flug nach Norden und Nordosten benutzt wurden, so können es über 100 Millionen gewesen sein.

Die Schmetterlinge kommen auf ihrem Wanderflug fast wie von einer Schnur gezogen daher. Sie fliegen vornehmlich in einer Höhe von einem bis zwei Metern über dem Boden, weichen Hindernissen nicht durch Umfliegen aus, sondern flattern darüber hinweg, als ob sie die Richtung nicht verlieren wollten. Es kann sogar passieren, dass ein vorbeifliegender Distelfalter mit der Spitze seines Vorderflügels die Wange eines Menschen streift, der sich dann seltsam berührt fühlt.

Die Wanderer kommen von weit her. Die meisten von ihnen schlüpften in Afrika, viele davon sogar südlich der Sahara. Sie überqueren zunächst die sich scheinbar endlos ausdehnende Wüste, machen dann nur kurz am Rand des Mittelmeeres Halt, bevor sie auch dieses überfliegen. Die Distelfalter rasten dann kurz am Fuß der Alpen und warten, bis es warm genug geworden ist für deren Überquerung. Dabei nehmen sie die auch von den Menschen benutzten Alpenpässe und folgen dann möglichst den Flüssen, die nordwärts gerichtet von den Alpen herabfließen.

Die wenigsten Schmetterlinge beenden ihren Wanderflug schon im nördlichen Alpenvorland. Ihr Flug geht weiter nach Norden und Nordosten. Viele dringen bis in die Regionen rund um die Ostsee vor. Manche kommen sogar bis Island. Die gesamte Flugstrecke macht schließlich 4000 bis 5000 Kilometer aus.

Am Ziel, das keiner dieser Schmetterlinge zuvor kennt, weil sie nur so lange am Leben bleiben, bis dieser Fernflug vollendet ist, legen die Weibchen ihre Eier an Disteln und andere Pflanzen ab. Sie sind nicht sonderlich wählerisch. Die mit stacheligen Haaren besetzten Raupen entwickeln sich je nach Verlauf der Witterung mehr oder weniger rasch, verpuppen sich und schlüpfen mehrere Wochen später als Falter der neuen Generation. Diese versuchen nun wieder zurückzufliegen nach Süden, in den Mittelmeerraum und weiter nach Afrika.

Was für eine Unternehmung für so zarte Falter! Im Englischen nennt man sie »Geschminkte Dame«, weil ihre Unterflügel zart pastellfarbene, fein abgegrenzte Flecken tragen. Wer den Falter so sieht und seine Lebensweise nicht kennt, käme nicht auf die Idee, es könnte sich um einen Weltreisenden handeln. Allerdings nutzen sich die Flügel tatsächlich ziemlich stark ab. Nach tage- oder wochenlangem Wandern (pro Tag fliegen die Distelfalter je nach Stärke des Rückenwindes zwischen 80 und 200 Kilometer), sehen sie recht mitgenommen aus, »abgeflogen«, wie der Schmetterlingsforscher sagt. Warum nehmen sie diese Anstrengung auf sich, und weshalb kommt es selten, neuerdings aber immer häufiger zu solchen Massenwanderungen?

Diese Fragen lassen sich erst in der jüngsten Zeit so einigermaßen überzeugend beantworten. Die Distelfalter machen keine Winterruhe, nicht als Falter oder als Puppe und auch nicht als Ei oder Raupe, wie die allermeisten anderen bei uns heimischen Schmetterlinge. Generation reiht sich bei ihnen an Generation.

Sie stammen aus den Randbereichen der Tropen, aus Regionen ohne Winter, aber mit ausgeprägter Trockenzeit. Diese können sie in keinem ihrer Entwicklungsstadien überstehen. Die Distelfalter weichen daher aus und folgen den Regenfällen. Aber diese sind südlich der Sahara, in der sogenannten Sahel-Region, unregelmäßig verteilt. In manchen Jahren regnet es wenig oder gar nicht, in anderen reichlich. Entsprechend stark schwanken die Bestände der Distelfalter und anderer Insekten, die auf den Regen angewiesen sind. Fällt dieser überdurchschnittlich, setzt eine Massenvermehrung ein. Die Falter wandern dann auf der Suche nach Nahrung und Raum aus. Dabei nützen sie die Winde, die im Frühjahr zeitweise ausgeprägt nordwärts wehen. Davon werden sie in Regionen getragen, in denen es nicht so trocken ist.

Sind die Mengen der Falter klein, erstrecken sich ihre Flüge bis ans Mittelmeer. Bei sehr starkem Aufkommen dehnen sie ihre Nordwanderung aber weit über die Alpen hinweg aus und kommen bis ins südliche Skandinavien. Dort, vor allem im Nordosten Europas, wo die Sommerwitterung verlässlicher als im atlantischen Einflussbereich verläuft, entwickelt sich die neue Generation. Wahrscheinlich in einem großen Bogen fliegen die Nachkommen zurück nach Afrika, wo ein neuer Kreislauf beginnt. Feuchtwarme Sommerwitterung ist ihr Ziel. Nur in dieser gedeihen ihre Futterpflanzen. Günstige Winde sind ihre Hilfe. Sie wehen bei besonderen Wetterlagen. Dass sie also so unregelmäßig nach Mitteleuropa kommen, liegt an den Niederschlägen in der Sahel-Zone. Jahrzehntelang gab es dort zu wenige. Mensch und Vieh hungerten und dürsteten. Dann setzt in den 1990er Jahren eine Periode mit vermehrten Niederschlägen ein. Die Distelfalter reagierten darauf mit ihren Massenflügen. Ihr Kommen drückt das Geschehen am Südrand der Sahara aus.

Dieser Einfall der Distelfalter ist vergleichbar mit dem Auftauchen von Wanderheuschrecken. Auch sie vermehren sich gelegentlich bis zu biblischen Ausmaßen, wenn die Niederschläge besonders reichlich ausfallen, wie 2003. Damals schwärmten viele Millionen Wanderheuschrecken aus der Sahel-Region aus, überflogen das Meer bis zu den Kanarischen Inseln und gelangten, von den Winden des Azorenhochs getragen, im Dezember bis Portugal. Das war glücklicherweise für die Iberische Halbinsel die ungünstige Zeit für die Wanderheuschrecken. Die Invasion erstarb von selbst, ohne Schäden angerichtet zu haben.

In früheren Jahrhunderten erreichten Wanderheuschrecken wiederholt auch Mitteleuropa, wo sie tatsächlich ganze Ernten zerstörten. Das war aber in den kalten Zeiten der sogenannten Kleinen Eiszeit. Sie verursachte bei uns ein nasskaltes Sommerwetter, das in den südrussischen und pontischen Steppengebieten die Niederschlagsmenge vergrößerte und dort zu einer Massenvermehrung der Wanderheuschrecken führte. Große Mengen – Milliarden müssen es gewesen sein, weil ihre Flüge die Sonne verfinsterten wie ein aufziehender Sandsturm – strebten nach Nordwesten und erreichten Mitteleuropa. Der letzte große Einflug geschah zwischen 1747 und 1749, aber auch zwischen 1873 und 1875 kam es in Brandenburg zu beträchtlichen Heuschreckenschäden.

Naturgeschichte
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