Samstag, 14. August 1982
Eine Woche lang war mein Leben das reinste Paradies. Genau richtig für jemanden, der vergessen will.
Es war Zufall und nicht mein Wunsch, dass ich Polizist geworden bin. Wenig Begabung und wenig Motivation.
Auf einem anderen Gebiet legte ich mich umso mehr ins Zeug. Die gelangweilten reichen Ehefrauen, um die ich mich in einer diskreten kleinen Pension gegenüber vom Badestrand kümmerte, konnten das bestätigen.
Seit Tripolis hatte ich mich verändert. Ich hasste den Sommer und verabscheute Hitze und Sand, also setzte ich mich auf die schattige Terrasse der Strandbar und wartete, bis sich die Frauen etwas zu trinken holten. Es dürstete sie schrecklich, die Ärmsten. Nach Liebe ganz sicher, wenn man sich ihre Göttergatten anschaute. Und zur Not wenigstens nach Sex. Ich verwandelte diese Verlegenheitslösung in eine Erfahrung, an die sie sich ewig erinnern würden, obwohl sie niemandem davon erzählen durften. Nicht einmal ihren engsten und zuverlässigsten Freundinnen.
Nachmittags verbarrikadierte ich mich bei voll aufgedrehter Klimaanlage in meinem Büro und arbeitete Akten durch. Wenn der Papierkram erledigt war, hörte ich Leonard Cohen oder las ein paar Seiten Nietzsche. Harmlose alte Gewohnheiten. Überbleibsel aus längst vergangenen Tagen. So vertrieb ich mir die Zeit bis zum Sonnenuntergang.
Die Abenddämmerung war der ideale Zeitpunkt, um mit dem offenen Spider durch die Gassen der Altstadt zu fahren, die für die Autos Normalsterblicher gesperrt waren. Eigentlich hätte ich die verkehrsberuhigten Zonen nur aus dienstlichen Gründen passieren dürfen, aber ich befand mich ja gewissermaßen im Dienst. Die Stimulierung des jugendlichen Fremdenverkehrs war schließlich auch Dienst am Bürger.
Ich sammelte junge Ausländerinnen ein, die nach einem Tag zwischen Monumenten und Museen entkräftet und vollkommen ausgedörrt waren. Es gab nur eine winzige Bedingung, die meinem im Kern löblichen Ansinnen vielleicht etwas Schäbiges verlieh: Waren sie attraktiv und verfügbar, durften sie einsteigen, andernfalls mussten sie ohne Beistand zum nächsten Trinkwasserbrunnen humpeln.
Außerdem brauchte ich das als Alternative zum Pokern. Meine Mitspieler waren alle nicht in Rom. Mein Bruder Alberto weilte mit seiner Verlobten Ingrid in Deutschland, und Angelo Dioguardi machte eine Pokertournee durch Amerika. Und irgendwie musste ich mich ja beschäftigen.
Ausgerechnet als es am schönsten war, am ruhigsten Wochenende des ganzen Jahres, schlug das Schicksal zu. An diesem Tag hatte ich mein Mittagessen am Meer vortrefflich geplant. Ein Meisterwerk von einem Menü.
Die nicht mehr ganz junge, aber ansehnliche Frau des Eigentümers des luxuriösen Strandbads von Fregene hatte meine Spielchen mit ihren Kundinnen beobachtet. Anstatt mir aber Hausverbot zu erteilen oder mich anzuzeigen, war sie mit einem Angebot an mich herangetreten: eine Gratismahlzeit für jeden Besuch mit ihr in der Pension gegenüber. Und just als ich mittags die Dienststelle verlassen wollte, um mich zum ersten Date mit ihr zu begeben, kam dieser verdammte Anruf.
Irgendein Idiot hatte trotz der Hitze seinen Hund Gassi geführt und bei der Gelegenheit die Leiche eines Mädchens gefunden. Und das ausgerechnet in meinem Revier.
Ich raste mit dem Spider hin, da der Verkehr an diesem heißen Tag praktisch zum Erliegen gekommen war.
Mein Mitarbeiter Capuzzo, ein Römer um die fünfzig, der mit achtzehn bei der Polizei angefangen hatte, war bereits vor Ort. Er hatte nicht viel Erfahrung mit Kapitalverbrechen, und die katastrophalen Ermittlungen in der Sache Sordi waren sein einziger Kontakt mit einem Mordfall gewesen. Aber Capuzzo verfügte über ausgezeichnete Beziehungen in Rom und wusste immer einen Weg, die bürokratischen Hürden der Polizei zu umgehen. Er war es auch, der mich von all den Strafzetteln erlöste, die ich durch den hemmungslosen und fantasievollen Einsatz meines Spiders kassierte.
Er stand da und fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel, der vom Schweiß glänzte.
»Dass diese grausamen Dinge immer im August passieren müssen! Das wird die Hitze sein, Dottore! Und der verdammte Schirokko, der einem den Verstand raubt.«
Als Ordnungshüter seines Viertels war Capuzzo an Raubüberfälle, Diebstahl und Betrug gewöhnt. Aber nicht an Leichen, im Gegensatz zu mir. Es war das zweite ermordete Mädchen innerhalb weniger Monate, und auch ich hätte gut darauf verzichten können.
Der Idiot, der seinen Hund Gassi führen zu müssen glaubte, war mitten auf einer Grünfläche über die Leiche gestolpert, in der Nähe der Via Cassia, die von Rom in Richtung Toskana führte. Wie ein Kartoffelsack lag der Körper neben einem Trampelpfad, fünfhundert Meter von der Straße entfernt.
Das gesamte Gebiet war vom Erkennungsdienst abgeriegelt worden, aber hier gab es eh keine Neugierigen. Mein Kollege war grün im Gesicht, und ich hatte Angst, er würde sich übergeben.
»Capuzzo, schau mal nach Reifenspuren zwischen dem Fundort und der asphaltierten Straße. Aber pass auf, wo du hintrittst.«
Das war eigentlich überflüssig, da sich schon der Erkennungsdienst darum kümmern würde. Mir ging es einfach darum, dass er sich unauffällig ein paar Schritte entfernen konnte. Außerdem hatte ich, wenn es um Details ging, großes Vertrauen zu ihm.
Der Rechtsmediziner war ein sehr junger Mann. Er untersuchte den Leichnam aus einem halben Meter Entfernung.
Ein armer Pechvogel, den sie als Vertretung geschickt haben und der noch nie ein Mordopfer gesehen hat.
Die junge Frau war Mitte zwanzig. Brünett, olivbraune Haut, kleine Statur. Nackt. Zahlreiche blaue Flecken und Verletzungen am ganzen Körper. Einige der Blutergüsse deuteten auf Frakturen im Gesicht und am Brustkorb hin. Schnitt- und Stichverletzungen. Ihr Hals war angeschwollen und schwarz. Dieses Massaker hatte bestimmt eine Weile gedauert und musste an einem anderen, abgelegeneren Ort stattgefunden haben.
Und ausgerechnet hier mussten sie die Kleine loswerden! In meinem Revier!
Ich wandte mich an den Rechtsmediziner. »Sie ist Argentinierin oder Spanierin.«
Er schaute unwillig auf. Dicke Brillengläser und der säuerliche Blick desjenigen, der in Rom bleiben musste und von einem ruhigen Augustwochenende geträumt hatte. Wie ich.
»Ich bin kein Reiseveranstalter, sondern Arzt. Und wer sind Sie?«
»Commissario Michele Balistreri. Ich sage das deshalb hier.«
Ich zeigte auf die Tätowierung an der linken Schulter des Mädchens. Ein Herz mit der Zahl 10 drin. Und dem Namen Diego.
»Ja und?«, fragte der Arzt gereizt.
»Das ist ein argentinischer Fußballer. Er heißt Maradona. Barcelona hat ihn kürzlich eingekauft.«
Der Arzt wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mir gefiel nicht, wie er mich ansah.
»Gratuliere zu Ihrer Allgemeinbildung, Balistreri. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen …«
»Könnten Sie mal einen Blick auf ihre Zähne werfen?«
»Bitte was?«
»Ihre Zähne. Das weiß ich, weil ich Freunde aus Argentinien habe. Da machen die Zahnärzte andere Plomben.«
Der Arzt stand auf. Er war zehn Zentimeter kleiner als ich, fand aber eine kleine Erhebung, von der aus er auf mich herabschauen konnte.
»Sehen Sie viel fern?«
Ich ging gar nicht darauf ein. Latexhandschuhe hatte ich auch selbst dabei. Ich öffnete den Mund des Mädchens. Zwei Füllungen, wie man sie in Argentinien machte.
Dem Arzt hatte es vor Wut die Sprache verschlagen. Ich kehrte ihm den Rücken zu und suchte Capuzzo. Es war keine Zeit zu verlieren. Nicht wegen des ermordeten Mädchens, das hatte nun alle Zeit der Welt und war mir völlig egal. Mein Problem war das Mittagessen mit der Besitzerin des Strandbads.
»Es gibt tatsächlich Reifenabdrücke, Dottore.«
Sicher, Capuzzo, oder dachtest du, sie hätten sie hierhergetragen?
»Von einem oder von mehreren Autos?«
Zu früh gefreut. »Von vielen verschiedenen«, räumte Capuzzo ein.
»Gut. Fahr zurück in die Dienststelle, informier den Untersuchungsrichter und die Squadra mobile und frag nach, was die unternehmen wollen. Und ruf bei der Einwanderungsbehörde an. Argentinier brauchen ein Visum, um nach Italien einreisen zu können.«
Er starrte mich an. »Argentinier?«
»Ja, das Mädchen ist Argentinierin. Frag nach allen Visa, die für Frauen zwischen zwanzig und dreißig ausgestellt wurden.«
»In welchem Zeitraum?
»Was denkst du?«
»Keine Ahnung …«
»Na, sagen wir mal in dem Zeitraum, in dem ein Visum noch gültig wäre, was?«
Er machte sich Notizen. Ich wusste, dass es ihm gelingen würde, die Informationen in null Komma nichts zu beschaffen. Im Gegensatz zu mir fühlte sich Capuzzo im Dschungel der italienischen Bürokratie pudelwohl. Nur wenn man hier geboren war, konnte man sich darin zurechtfinden.
»Dottore, möchten Sie den Mann befragen, der mit dem Hund spazieren war?«
»Wen?«
Er sah mich nachsichtig an. Capuzzo war ein geduldiger Untergebener, sanftmütig und sehr respektvoll. Sogar mit einem Chef wie mir.
»Na den, der die Leiche gefunden hat.«
»Sie wurde nicht hier getötet, Capuzzo.«
»Aber sie wurde hier abgeladen, Dottore. Vielleicht hat der Typ mit dem Hund irgendetwas beobachtet.«
Vielleicht. Aber ich muss jetzt eine Signora am Meer befragen. Das ist wichtiger als ein Mann mit Hund.
»Mach du das bitte.«
Ich weiß nicht, ob er verwundert, erschrocken oder dankbar war. Seine Miene war undurchschaubar wie immer. Ich drehte mich um und ließ ihn stehen.
Ich war spät dran, trat das Gaspedal durch und raste, den Schirokko im Gesicht, ans Meer. Mit blinkendem Blaulicht.
War ich im Dienst? Ganz sicher. Und wie.
Als ich ankam, war mein Tisch im Schatten bereits gedeckt. Eisgekühlter Weißwein. Dann Spaghetti mit richtigen Venusmuscheln, gebratene Tintenfische und Krebse, Limonensorbet und Espresso. Ein köstliches Mahl.
Nicht weniger delikat war der Nachmittag in der Pension gegenüber.
Gemächlich trat ich den Rückweg an und fuhr die ausgestorbene Via del Mare entlang, den Wind im Gesicht und in den Ohren die lächerlichen Worte von Al Bano und Romina Power, die uns den Ohrwurm des Sommers bescherten: Felicità … Felicità … Ja genau, das Glück. Von der Leiche eines argentinischen Mädchens würde ich mir doch nicht die Laune verderben lassen.
Capuzzo war allerdings ziemlich aufgeregt. Anders als ich ließ er sich von Hierarchien beeindrucken.
»Der Untersuchungsrichter und die Squadra mobile haben schon nach Ihnen gesucht.«
Capuzzo folgte mir in mein Büro. Wie immer waren die Rollläden heruntergelassen, die Klimaanlage voll aufgedreht und der Aschenbecher überfüllt. Auf dem Schreibtisch stand eine Whiskyflasche. Der Kassettenrekorder mit Leonard Cohen lag in der Schublade.
»Hast du die Visa überprüft, Capuzzo?«
Er lächelte. Das Lächeln eines älteren Untergebenen, der fest davon ausgeht, dass sein junger Chef zwar ein Wüstling, aber kein Arschloch ist. Nachdem ich im Fall Elisa Sordi ein Desaster angerichtet hatte, war Capuzzo ohne einen Anflug von Kritik oder Zweifel an meiner Seite geblieben. Ängstlich, aber loyal.
»Sie hatten recht. Das Mädchen ist Argentinierin. Wir haben auch schon den Namen, Anita Messi. Vierundzwanzig Jahre alt. Kommt aus Salta, das ist ganz oben im Norden, nicht weit von Bolivien. Sie ist erst gestern Abend hier angekommen.«
»Und was wollte sie in Rom? Außer sich umbringen lassen?«
Capuzzo zog eine verhalten abschätzige Grimasse. Er verabscheute meinen Zynismus. Aber ich machte diese Arbeit auch nicht gern.
Ein paar Jahre Pause, um die Wunden zu lecken und zu vergessen, und danach zurück nach Afrika zum Löwenjagen.
»Sie besaß ein Studentenvisum für sechs Monate. Beantragt vom Collegio universitario delle Figlie della Vergine.«
Diesen Namen hatte ich schon einmal gehört. Rom war voll von Universitäten und Hochschulen, die mit dem Vatikan verbandelt waren. Und die größten ausländischen Gemeinden waren die der Südamerikaner und der Zentralafrikaner.
»Ich dachte, im August machen sogar die Schüler des Allmächtigen mal Pause, Capuzzo. Was hatte Anita Messi hier vor?«
Völlige Ratlosigkeit. Es war sinnlos, an seine nicht existente Fantasie zu appellieren.
»Keine Ahnung. Vielleicht gefiel ihr Rom, vielleicht hatte sie hier einen Freund. Geben Sie mir ein bisschen Zeit.«
»Ist auch egal. Kannst du herausfinden, wo sie gestern Nacht geschlafen hat?«
Capuzzo lächelte geflissentlich. Wo keine Fantasie gefragt war, glänzte er mit Effizienz, auf seinen ganz eigenen verschlungenen Pfaden. Er beschaffte jede Information, auch wenn er anschließend nichts damit anzufangen wusste. »Schon erledigt. In einem der Wohnheime des Vatikans, gleich hier in der Nähe. Ihr Freund Angelo Dioguardi arbeitet doch in der Verwaltung dieser Gästehäuser.«
Deshalb wurde sie hier draußen gefunden … Wären es doch nur fünf Kilometer mehr gewesen.
Auch das noch. Als ich die Squadra mobile anrief, befürchtete ich bereits das Schlimmste. Was sich prompt bewahrheitete.
Wir sind mitten in der Urlaubszeit. Viel zu wenig Personal und viel zu viele Straftaten wegen der Hitze.
Bleiben Sie am Fall dran, Commissario Balistreri, und informieren Sie uns nur, wenn es unabdingbar ist.
Ich rief den diensthabenden Untersuchungsrichter an. Im Hintergrund leise Musik, Wellengeplätscher und Hundegebell.
»Ich schicke Ihnen die Handlungsvollmacht, Commissario. Und dann möchte ich erst wieder von Ihnen hören, wenn Sie einen Verdächtigen haben!«
Ich muss dieses Land von überbezahlten Drückebergern so bald wie möglich verlassen.
Wir fuhren im offenen Spider zu dem Gästehaus. Der Schirokko spuckte uns heiße Böen ins Gesicht, und mein leichenblasser Mitarbeiter bat mich flehentlich, das Dach zu schließen und langsamer zu fahren. Das war noch so eine Sache, die ihn an mir störte. Meine Waghalsigkeit.
»Hast du Angst um deine Frisur, Capuzzo?«
Er sah mich beleidigt an. Nicht wegen der Bemerkung über seine Glatze, sondern weil er es nicht leiden konnte, wenn ich mich so aufspielte. Während ich mich über seine Ängste amüsierte.
Die Rezeption des Gästehauses war durchgehend besetzt, sogar Mitte August.
In dem Zimmer, das Anita nur eine Nacht lang bewohnt hatte, standen zwei Einzelbetten. Das eine war unbenutzt und nicht bezogen, da ihre Zimmergenossin noch nicht eingetroffen war. Neben Anitas Bett stand der halb ausgepackte Koffer mit ihren persönlichen Gegenständen, kein Buch, kein Foto, weder von Verwandten noch von Heiligen. Dafür hing über dem Bett ein Poster von Diego Armando Maradona im Trikot der argentinischen Nationalmannschaft.
Seltsam für eine Theologiestudentin. Kein Buch und statt Kruzifix oder Bildnis der Jungfrau Maria ein Fußballspieler.
Capuzzo war immer noch nervös und wollte das Fenster öffnen. »Finger weg! Lass das zu!«
»Hier stinkt es nach Pisse, Dottore.«
»Das ist keine Pisse. Das ist Ammoniak.«
»Damit wird das Mädchen das Badezimmer geputzt haben.«
Wenig Vorstellungskraft, wie immer.
Ich kannte Anita Messi noch nicht gut genug. Im Papierkorb fand ich nur eine leere Mineralwasserflasche und einen Strohhalm.
Capuzzo verschwand im Bad. Einen Moment später hörte ich es plätschern, die Nachwirkungen unserer Autofahrt. Als ich den Kopf durch die Tür steckte, wusch er sich gerade die Hände.
»Hier ist alles sauber, aber nach Ammoniak riecht es nicht. Sehen Sie mal hier«, sagte er und zeigte auf die kleine, runde, schwarze Seife, die er soeben benutzt hatte.
»Capuzzo, kannst du mir mal verraten, was du da machst? Du sollst doch nichts anrühren.«
Er sah mich beschämt an. Stimmt, so stand es in den Handbüchern. Aber die Handbücher hatte man vom FBI abgeschrieben, und mit dem FBI hatten wir nichts zu tun, nicht im Entferntesten. Wir waren noch bei Starsky & Hutch.