Sonntag, 14. November 1982
Am Morgen begann ein finsterer Tag mit grauem Himmel und strömendem Regen. Ich wachte schlecht gelaunt auf, aus verschiedenen Gründen.
Erstens war da der Haufen Geld, den Angelo mir am Pokertisch abgeluchst hatte, obwohl er, anstatt sich auf das Spiel zu konzentrieren, Claudia Teodoris TV-Premiere mitverfolgte und enthusiastische Lobeshymnen murmelte.
Nach der soundsovielten Hymne und der soundsovielten verlorenen Runde explodierte ich.
»Die ist doch bloß eine karrieregeile Schlampe.«
Angelo sah mich nur an. Ja, seine Augen waren traurig, seit Paola und er sich getrennt hatten. Aber auch ernster.
»Du solltest auch mal hinter die Fassade schauen, Michele.«
Zweitens war da der Stillstand bei den Ermittlungen zu Anita Messi. Don Eugenio, alias Monsignor Eugenio Pizza, wollte sie nach ihrer Ankunft in Rom nicht gesehen haben, und Capuzzo hatte in über einem Monat nichts erreicht. Folglich steckte ich in einer Sackgasse.
Obwohl ich keinen Dienst hatte, fuhr ich ins Kommissariat und kramte den Brief der argentinischen Universität mit der Unterschrift des Rektors hervor. Auf dem Briefkopf stand die Telefonnummer. Instinktiv wählte ich sie.
Keine Chance. Der großartige italienische Staat stattete seine Polizeiwachen leider nicht mit einer direkten Auslandsverbindung aus. Ich bestellte Capuzzo zu mir, der alle bürokratischen Prozeduren und Spitzfindigkeiten wie seine Westentasche kannte.
»Ich muss mit Anita Messis Uni in Argentinien sprechen.«
»Das geht nur mit Sondergenehmigung, dafür brauchen Sie das entsprechende Formular, vom Untersuchungsrichter gegengezeichnet. Wenn Sie das eingereicht haben, können Sie sich über die Zentrale der Polizei ins Ausland verbinden lassen.«
Ich sah ihn erschrocken an.
»Wie lange dauert so eine Genehmigung?«
Capuzzo lächelte siegesbewusst. Er bewegte sich auf seinem Terrain.
»Wenn man den offiziellen Weg einschlägt, zwei Wochen. Auf meine Weise die Hälfte.«
Dieser verdammte italienische Verwaltungsapparat war erbarmungslos, wenn man ihn nicht kannte. Wer sich auf ihn einließ, konnte ihn allerdings unterwandern.
»In Ordnung, Capuzzo. Mach es auf deine Weise.«
In diesem Moment kam ein Anruf. Capuzzo ging an den Apparat.
»Die Frau möchte wohl Sie sprechen, Commissario, aber ich verstehe kein Wort.«
Ich nahm den Hörer. »Michele Balistreri.«
»Ich verloren Hotel. Du erinnerst?«
Die junge Amerikanerin. Es war zu lange her. Das hatte ich völlig vergessen.
»You don’t remember your hotel again?«
Sie kicherte amüsiert. »No, that’s okay. I am in my room.«
Sie erklärte, sie sei sehr beeindruckt gewesen, wie mutig ich sie vor den beiden Vorstädtern gerettet hatte. Und von meiner Fairness, weil ich die Situation nicht ausgenutzt hatte, um sie flachzulegen.
Ja, Balistreri, du bist wahrhaftig ein Gentleman.
Sie habe tagelang darüber nachgedacht und nun schließlich doch den Mut gefunden, mich anzurufen. Um sich mit einer Pizza zu revanchieren.
Es war Sonntag, ich hatte einen saumäßigen Samstagabend hinter mir, im Fernsehen drehte sich alles um die Regierung Spadolini, die sich nach einem Streit zweier Minister erneut aufgelöst hatte, es regnete in Strömen, und ich hatte keine Ahnung, wie ich den Tag rumkriegen sollte. Also nahm ich die Einladung an.
Rossellini ruft im Morgengrauen bei mir an. Das Presseecho zur ersten Sendung ist enthusiastisch. Die Kritiker rühmen Dino Fortes jüngste Entdeckung: die kleine Audrey Hepburn aus Rom.
Nach dem tragischen Tod von Deborah Reggiani ging endlich ein neuer Stern am Himmel auf. Und wer war sie? Die beste Freundin von Deborah. Die unfreiwillig ihren Tod verursacht hatte, weil ihr von einem Verbrecher diese Pillen ins Glas geworfen worden waren.
Eine bewegende, zu Tränen rührende Geschichte. Ein Geschenk des Himmels für die Medien, die sie genüsslich breitwalzten.
Als ich frühstücke, wird mir ein riesiger Strauß Rosen geliefert, von Dino Forte. Dann ruft er selbst an und gratuliert. Zum ersten Mal deutet er eine Einladung zum Essen an. Aber nur nichts überstürzen. Irgendwann halt, sollte er mal einen Abend frei haben. Ich habe den Eindruck, dass er vor allem etwas Dienstliches mit mir besprechen will. Dieser krankhaft professionelle Mann scheint an nichts anderes zu denken.
Ich fahre mit dem Panda zum Friedhof von Verano. Mittlerweile habe ich sogar einen Führerschein. Ich habe die Beilage von Sorrisi e canzoni mitgenommen, die Titelseite mit meinem Foto abgerissen und die frischen Blumen, die ich Mama aufs Grab stellen will, darin eingewickelt.
Bravo, mein Schatz, bravo. Du wirst die Berühmteste von allen.
Ich gehe zum Ossarium. Hier befinden sich die Nischen für die Urnen. Deborah hatte an ihrem achtzehnten Geburtstag mit ihren Eltern darüber geredet.
»Wenn ich mal sterbe, möchte ich eingeäschert werden.«
Ihre Eltern hatten darüber gelacht, aber ein paar Tage später war sie tot. Und ich war schuld daran.
Ich spreche kein Gebet. Ich bitte nur um Vergebung.
Lass gut sein, Claudia. Und hör auf mit dem Mist. Das ändert doch nichts.
Nein, Debbie. Wenn ich es so weit geschafft habe, dann wegen ihm, nicht wegen mir.
Ihr Name war Kate, die Koseform von Kathrin. Sie erschien ungeschminkt, mit einem Harvardsweatshirt über den blauen Jeans und Turnschuhen. Die Pizzeria suchte sie aus, als würde sie Rom inzwischen sehr gut kennen. In Testaccio, in einem dieser Lokale, wo die Reiskroketten und die Pizzen hervorragend waren und die Tische gut besetzt. Mit Römern, nicht mit Touristen. Unsere Unterhaltung stellte mein eingerostetes Englisch auf eine harte Probe, aber irgendwie kam ich klar.
»Wie hast du denn diesen Laden hier entdeckt, Kate?«
»Ich habe in den zwei Monaten in Rom viele Leute kennengelernt, schließlich bin ich schon seit Mitte September hier. Ich studiere Kunstgeschichte und mache eine Rundreise durch Italien.«
Sie hatte schon vier Bier verdrückt, und ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt schon volljährig war.
»Leute, die dir Bier einflößen und Haschisch zu rauchen geben? Wie an dem Abend am Tiber?«
Hör auf, Michele. Du bist nicht ihr Vater. Du gehst ihr nur auf die Nerven.
Kate nahm noch einen Schluck Bier. »Alkohol vertrage ich, Mike. Und auch Joints. Aber an dem Abend haben sie mir Crack gegeben.«
Kristalle, die man mit Ammoniak aus Kokain gewinnt und raucht.
»Und wer?«
Erst lässt du den Vater raushängen und jetzt den Bullen. Sehr sympathisch, Mike.
»So Typen in einer Pianobar. Hör zu, du bist Polizist, okay, aber du bist doch jetzt nicht im Dienst, oder? Ein süßes Mädchen aus Amerika lädt dich zum Abendessen ein und ist ganz offensichtlich nicht abgeneigt, aber anstatt ihr den Hof zu machen …«
Wir brachen beide in Gelächter aus.
»Wie alt bist du, Kate?«
Sie bluffte. »Zwanzig.«
»Zeig mal deinen Ausweis.«
»Schon wieder. Du bist wirklich durch und durch Bulle.«
Sie war durchaus nett und hübsch, aber nicht mein Typ. Zu hemmungslos, zu einfach. Und zu jung, ein richtiges Mädchen.
Mir kam in den Sinn, dass sie vielleicht genauso alt war wie Claudia Teodori. Aber die war aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Gegen sie wirkte Kate wie die kleine Cousine, mit der man auf die Kirmes geht.
»Jedenfalls bin ich volljährig«, insistierte Kate. »Ihr Italiener seid viel zu altmodisch. Wir Amerikanerinnen sind nämlich mit achtzehn schon ganz schön aufgeweckt.«
»Ich weiß, ich habe zwar erst eine einzige achtzehnjährige Amerikanerin kennengelernt, aber die war sehr aufgeweckt. Zu aufgeweckt sogar.«
Mein plötzlicher Ernst war ihr nicht entgangen. »Zu aufgeweckt?«
»Keine Ahnung. Vielleicht war ich auch zu jung.«
»Aber du bist immer noch jung, Mike!«
Ja, ein sehr junger alter Mann.
»Das ist viele Jahre her, Kate. Ich war zwanzig und sie achtzehn. In Afrika.«
Sie lächelte. »Hast du deshalb kein Interesse an mir?«
Ich mochte Kate. Sie war lieb und wirklich unbedarft. An dem Abend am Tiber war sie sehr leichtsinnig gewesen.
»Wer hat dir das Crack gegeben, Kate?«
Sie sah mich enttäuscht an. Offenbar hatte sie begriffen, dass sie meinen Skalp nicht bekommen würde. Nicht an diesem Abend.
»Hab ich dir doch gesagt. Typen in der Pianobar, wo amerikanische Studenten oft hingehen. Die waren immer da, und sie hatten viel Koks dabei. Beim ersten Mal haben sie es uns schon als Kristalle gegeben, zum Rauchen. Wenn du willst, bringe ich dich hin. Ein anderes Programm interessiert dich ja doch nicht.«
Gegen elf kamen wir mit dem Spider dort an. Die Bar war hinter der Piazza di Spagna und hieß I Tre Peccati, »Die drei Sünden«. Auf der roten Leuchtreklame prangte ein stilisiertes Teufelchen.
Als wir das verqualmte Lokal betraten, wurde mir klar, dass es die typische Anlaufstelle für reiche Touristen auf der Suche nach käuflichen Abenteuern war. Die drei Sünden waren eindeutig: Bacchus, Tabak und Venus. Und sie waren rot wie das Teufelchen auf dem Schild draußen.
Obwohl es voll war, erkannte ich sie sofort. Sie saßen an einem Tisch etwas abseits, die drei Lümmel aus Barcelona, die vor der Partie Italien – Brasilien versucht hatten, meine beiden Freundinnen, Angelo Dioguardi und mich blöd anzumachen.
»Die drei da sind es«, flüsterte Kate, aber das wusste ich bereits. Die waren nicht gekommen, um Mädels abzuschleppen, sondern um zu verkaufen. Und plötzlich kam mir Anitas Maradona-Tätowierung wieder in den Sinn. Das reichte mir, und so verließen wir das Lokal schnell wieder.
Die dünne Ammoniakspur trat immer deutlicher zutage.
Zeitungen sind so langweilig! Alle schreiben dasselbe, alle sagen dieselben Sachen. So hübsch, so unverbraucht, so normal.
Das Wort normal hat mich am meisten verletzt. Was heißt denn normal nach den bürgerlichen Wertvorstellungen, nach denen Mama und Papa mich aufgezogen haben? Dass ich eine Arbeit und einen Ehemann finde, aber bestimmt nicht eine Freundin wie Deborah.
Dabei bräuchte ich eigentlich einen Mann. Nein, nicht für Sex, danach steht mir nicht der Sinn. Aber zum Reden. Damit mir jemand zuhört, der das Leben aus derselben Perspektive betrachtet wie der Typ, der Debbie auf dem Gewissen hat. Und der mir helfen kann herauszufinden, wer es war.
Natürlich nicht so ein Blödmann wie Michele Balistreri. Obwohl sogar der sich vielleicht besser eignen würde als die Idioten aus dieser Scheinwelt, wo man mit derselben Nonchalance Kokain schnieft, wie man sich die Zähne putzt.
Weißt du, wer mir am liebsten wäre, Deborah? Der Freund von diesem Blödmann, der ihn im August bei seinem ersten Besuch im Altromodo begleitet hat. Der mit dem schönen Namen. Angelo. Angelo Dioguardi.
Du hättest sehen sollen, wie er das Theaterstück verfolgt hat, Debbie. Du weißt schon, das mit den Lagerinsassen und den Kapos. Balistreri hat nur gegähnt und eine Zigarette nach der anderen geraucht. Aber dieser Angelo war richtig gefesselt. Das habe ich sogar Papa erzählt, als er anrief, um mir zu gratulieren. Und der sagte, ja, er habe Michele Balistreris Freund auch kennengelernt. Er helfe ihm immer, wenn seine Hände zu sehr zitterten.
Armer Papa. Sein Husten ist grausam. Aber er sagt, es sei nur eine Bronchitis.