Freitag, 12. November 1982
In den vergangenen zehn Tagen habe ich ununterbrochen hart geprobt. Was die Professionalität angeht, kann Extra TV der RAI nicht das Wasser reichen, trotzdem hatte ich keine großen Probleme. Dino Forte ist sehr nett, bleibt aber immer ein bisschen auf Distanz. Ich soll nicht vergessen, dass er der König der Bühne ist. Er ermutigt und korrigiert mich, aber er schaut mich keinen Moment zu lange an.
Heute Abend will Rossellini mich im Jackie O. vorführen. Einen Abend vor meinem Debüt als neues Starlet der RAI. Seine kleine Audrey Hepburn. Wenn ich mit ihm in die Disco gehe, denken alle, er vögelt mich. Damit poliert er sein Image auf. Mir ist das egal.
Wer wirklich nervt, ist Michele Balistreri. Er hat mich angerufen und will später auch im Jackie O. vorbeikommen. Um mir zu gratulieren, sagt er. Als würde ich etwas auf die Glückwünsche dieses arroganten Lügners geben. Der will mich doch nur kontrollieren! Bestimmt steckt Papa dahinter.
Ich ziehe die Schublade auf. Da liegt die flache Pappschachtel. Das Foto. Deborah und ich im Luna Park, vor dem Riesenrad.
Und da liegt auch das andere Döschen, das mit Minnie Maus drauf. Das Döschen mit dem Tod drin. Aber das mache ich nicht auf.
Claudia in ihrem neuen Milieu zu treffen, war der einzige Weg, um Rossellini kennenzulernen.
Ich parkte den Spider auf dem Bürgersteig, betrat das Jackie O., zückte meinen Polizeiausweis und marschierte an der langen Schlange von Idioten vorbei, die im Herbstregen standen und warteten.
Dieser Schuppen war noch übler als die heruntergekommenen Läden in Testaccio, wo sich Homos und Hippies zum Jointbasteln trafen. Hier im betuchten Rom der Upperclass verkleideten sich brave Mädchen als Nutten und umgekehrt, und das Koks wurde auf Tabletts serviert.
Claudia saß mit diesem Rossellini in einem Separee. Ein Mann um die fünfzig in einem blauen Jackett voller Schuppen, zu lange Haare, Bauch. Seine Freundin, oder wer auch immer dieses stille Wasser sein mochte, war auch dabei. Sie war zehn Zentimeter größer als ich, hatte den üppigen Busen in ein enges Top gezwängt und steckte in einem Minirock, der in puncto Breite einem Gürtel Konkurrenz machte.
Ich setzte mich unaufgefordert dazu. Claudia sah mich schief an, machte dann aber gute Miene zum bösen Spiel und stellte mich auf ihre Weise vor.
»Michele ist Masseur in meinem Fitnessclub.«
Schöne Vorstellung, warum eigentlich nicht.
Das stille Wasser hieß Tanja, und Rossellini stellte sich mit seinem Spitznamen vor. Dann nahmen sie ihr Gespräch wieder auf, als wäre ich gar nicht anwesend.
»Morgen kommst du ganz groß raus, Claudia. Du wirst schon sehen.«
Die Kleine hatte unglaublich abgenommen. Hohle Wangen, schmale Hüfte, flacher Bauch. Sie war schön, aber immer noch eine dumme, karrieregeile Achtzehnjährige.
»Das habe ich alles dir zu verdanken, Rossellini.«
Er bestätigte es mit einer gnädigen Geste. Dann wandte er sich dem stillen Wasser zu. »Jetzt, wo ich Claudia untergebracht habe, kümmere ich mich auch um dich. Wir werden deine Fehlerchen schon ausmerzen.«
Ich sah, wie Tanja sich leicht wegdrehte, um seinem Mundgeruch zu entgehen. »Mit deiner Hilfe bestimmt.«
»Was für Fehlerchen hat die Signorina denn?«, fragte ich mit einem Blick in ihr Kingsize-Dekolleté, während Rossellini Erdnüsse in sich hineinstopfte und den Rauch einer stinkenden Zigarre auspaffte.
Claudia sah mich mit unverhohlener Verachtung an. Das stille Wasser lächelte mir zu. Dann schaute sie in die tanzende Menge und bewegte Kopf und Finger im Rhythmus der Musik.
Rossellini legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel, um allen zu verstehen zu geben, dass Tanja ihm gehörte.
»Geh ruhig tanzen, meine Liebe, ich schaue dir zu. In meinem Alter bewegt man sich nur noch, wenn es sich nicht vermeiden lässt, stimmt’s, Claudia?«
Claudia gab keine Antwort, stand aber gemeinsam mit ihm auf, um eine kleine Gruppe bekannter Gesichter zu begrüßen. Schauspieler, Moderatoren, Assistentinnen.
Tanja starrte immer noch auf die Tanzfläche. Ihre langen Finger klopften den Takt mit. Dann sprach sie, ohne mich dabei anzusehen.
»Heute hatte ich drei Stunden Tanztraining. Meine Beine tun schrecklich weh.«
Sie streckte eins unter dem Tisch aus und legte den Knöchel auf mein Knie.
»Zeig mal, was du als Masseur taugst. Vom Fußgelenk bis zum Knie, aber nicht weiter!«
Rossellini und Claudia setzten sich wieder zu uns. Er überhäufte sie mit Ratschlägen zu ihrem Debüt, während ich seiner Freundin diskret die Wade knetete.
Nach einer Weile beschloss Rossellini, dass es für ihn und das stille Wasser Zeit zum Aufbruch sei. Als Tanja den Fuß von meinem Knie nahm, fiel ihr die Tasche hinunter. Sie ließ sie hinunterfallen, besser gesagt. Als ich mich bückte, um sie aufzuheben, hatte ich ausgiebig Gelegenheit, mir ein Bild davon zu machen, wie es unter dem Minirock aussah. Und was ich beim nächsten Mal massieren würde.
Beim Abschied klebte sie mir einen Kaugummi mit einem Zettel in die Hand, auf dem eine Telefonnummer stand. Ich steckte ihn schnell ein, zusammen mit dem Kaugummi.
»Ich komme in einer halben Stunde ins Number One nach«, sagte Claudia.
Wir blieben allein zurück.
»Gratuliere. Glückwunsch zum Debüt.«
»Danke gleichfalls, Commissario. Du hast ganz schön Eindruck hinterlassen. Mein Vater hatte recht, du lässt nichts anbrennen.«
Ihr Ton war feindselig, geringschätzig.
»Ich weiß nicht, wovon du redest. Und mit deinem Vater geht es bergab. Vielleicht solltest du dir mal die Zeit nehmen, ihn zu besuchen.«
»Vielleicht, Commissario. Aber das ist meine Angelegenheit.«
»Dein Vater macht sich Gedanken, weil du dich neuerdings in diesem Milieu hier herumtreibst.«
Ihre schönen Augen über den Grübchen blitzten auf.
»Er sollte sich lieber Gedanken darüber machen, ob es eine gute Idee war, jemanden auf mich anzusetzen, der jede Frau flachlegt.«
»Da kann dein Vater ganz beruhigt sein. Ich ziehe echte Frauen launischen kleinen Gören vor.«
Sie ließ sich nichts anmerken.
»Weißt du was, Balistreri, in deiner Kindheit muss etwas Schlimmes vorgefallen sein. Sonst wärst du nicht so ein Arschloch.«
»Dir auch. Sonst würdest du nicht mit Leuten wie Rossellini rummachen, nur um ein Star zu werden. Und du würdest nicht besoffen Auto fahren und deine Freundinnen umbringen.«
Wenn sie wütend wird, sehen ihre schönen Augen ziemlich irr aus. Am liebsten würde sie mir an die Gurgel gehen.
Ich hätte versuchen können, auf sie zuzugehen und mich in sie hineinzuversetzen. Im Grunde war sie doch nur eine einsame, aus der Bahn geworfene Achtzehnjährige und beinahe Vollwaise.
Nein, sie ist genauso ein Flittchen wie alle anderen auch, allzeit bereit, sich selbst und jeden anderen zu verraten. Wie Laura Hunt.
Dieser Gedanke tobte in meinem Bauch und in meinem Kopf, als Claudia aufstand, um zu gehen.
»Du verstehst überhaupt nichts, Balistreri. Nichts.«
Ich kramte das Stück Papier mit dem Kaugummi hervor. Ja, es roch leicht nach Ammoniak.
Dann rief ich Teodori an.
»Ich habe Claudia und Rossellini getroffen. Ihre Tochter kommt gut zurecht. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Danke, Balistreri. Ich meinerseits gebe mir auch alle Mühe, Ihnen bei den Ermittlungen behilflich zu sein.«
Seine Stimme war schwach, er machte lange Pausen. Ich sagte nichts, weil ich ihm nicht den Glauben nehmen wollte, er sei noch dazu in der Lage.
»Bald werde ich Ihnen mehr zu Anita Messi sagen können.«
Ich ließ ihm seine doppelte Illusion: eine anständige Tochter zu haben und noch Polizist zu sein.