Samstag, 2. August 1969
Schon um neun Uhr hatte der Gibli deutlich zugenommen. Es war der zweite Tag. Angezogen vom Duft von french toast und bacon ging ich hinüber zur Villa Hunt. Ich hoffte, Laura dort anzutreffen, weil ich mich für die Schlägerei vor der Eisdiele entschuldigen wollte, aber William Hunt war allein in der großen Küche.
Er war erst am Vortag mit Laura und Marlene aus den Staaten zurückgekehrt, und ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit ich nach Kairo gegangen war.
»Welcome, Mike. Marlene ist laufen gegangen, trotz des Gibli. Und Laura hat Bauchschmerzen. Frauensachen. Ich bin allein.«
»Dann gehe ich wieder nach Hause, Signore. Entschuldigen Sie die Störung.«
»Möchtest du nicht mit mir essen? Ich sitze in der Küche, weil draußen überall dieser verdammte Sand ist, aber es gibt french toast, bacon und pancakes.
Seine Einladung überrumpelte mich. Ich war noch nie mit Dottor Hunt allein gewesen, und er hatte nie besondere Sympathien für mich gezeigt. Alberto mochte er sicher lieber, aber ich konnte schlecht ablehnen.
»Vielen Dank, Signore. Dann bleibe ich gern.«
Schweigend begannen wir zu essen. Es schien unmöglich, ein Gesprächsthema zu finden und sich mit ihm, wie Alberto es tat, über internationale Politik oder den Vietnamkrieg zu unterhalten. Aber William Hunt hatte etwas ganz anderes im Sinn.
»Magst du Laura?«, fragte er mich aus heiterem Himmel.
Nun war mir klar, von wem Laura ihre Direktheit hatte. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
»Laura macht sehr schöne Fotos. Sie wird es weit bringen.«
»Und sonst gefällt dir nichts an ihr?«
Ich starrte wieder in meine Cornflakes-Schale.
Ein Mann, der sich nicht mit Blabla zufriedengibt. Mit bullshit, wie sie das nennen.
»Sie ist sehr schön, Signore.«
Er lachte.
»Sicher, das hat sie von Marlene, die ist auch sehr schön. Oder etwa nicht?«
Das war zu viel. Ich geriet ins Schleudern.
»Laura ist auch sehr ernst.«
William Hunt ließ das Thema Marlene fallen und verweilte bei dem Kompliment für seine Tochter.
»Das hat sie von mir, Mike. Laura hat alle Qualitäten ihrer Eltern geerbt.«
»Die Fehler auch?«
Ich glaubte, das nur gedacht zu haben, aber die Frage war mir tatsächlich entschlüpft.
Dottor Hunt verzog keine Miene. Im Gegenteil, zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sah ich so etwas wie aufrichtiges Interesse in seinem Blick. Er dachte lange nach, als erfordere diese Frage eine wohlüberlegte Antwort. Dann sagte er etwas Überraschendes.
»Marlene hat keine Fehler. Und was die meinen angeht, so hoffe ich inständig, dass Laura sie nicht geerbt hat.«
Wer Marlene für ein unbescholtenes Blatt hielt, war entweder blind oder naiv. William Hunt schien weder das eine noch das andere zu sein. Und ich hatte keine Ahnung, was er meinte, wenn er von seinen eigenen Fehlern sprach.
»Ist dein Onkel Toni nicht im Krieg gefallen, Mike?«
Allmählich verstand ich.
Seine Fehler. Sinnloses Heldentum. Wie Toni, wie die Jungen von der Folgore, wie seine Freunde, die in Korea und in Vietnam ihr Leben ließen.
»Ja, Signore. Und Sie haben in Korea gegen die Kommunisten gekämpft, stimmt’s?«
Ich wusste nur, was man mir erzählt hatte, ein bisschen meine Mutter und ein bisschen Laura. Ein aussichtsloser Kampf gegen eine menschliche Lawine von dreihunderttausend Chinesen, die Südkoreaner und Amerikaner mit sich fortriss, auch das X. Marine Corps. Der zugefrorene Yalu-Fluss, eine gottverdammte Brücke, überall Tote, ein Massaker an Gefangenen und Zivilisten. In Chosin wurden die Marines eingekesselt. Eine Handvoll Fallschirmspringer kamen zu Hilfe. William war einer von ihnen.
Helden. Männer, die bereit sind, für ihre Werte zu sterben.
William Hunt nickte. Er gab sich Erinnerungen hin, die bestimmt nicht schön waren.
»Krieg ist etwas Grässliches, Mike. Er lässt einen Dinge tun, die man nie tun wollte. Hinterher ist man nicht mehr derselbe.«
In diesem Moment kehrte Marlene nass geschwitzt vom Jogging zurück. Sie schaute zur Küchentür herein, winkte uns zu und ging nach oben. Es kostete mich Mühe, diesem außergewöhnlichen Körper nicht mit dem Blick zu folgen.
William Hunt war aufgestanden. Er musste nach Wheelus Field. Sein Offiziersbursche war mit dem Jeep vorgefahren, um ihn abzuholen.
»Ich habe gehört, dass du Nietzsche liest, Mike. Du weißt also, dass es keine moralischen Phänomene gibt, sondern nur moralische Erklärungen von Phänomenen.«
Er ging hinaus und stieg in den Jeep, und ich blieb leicht verwirrt in der Küche zurück, bei french toast und bacon and eggs.
Als Marlene zehn Minuten später in die Küche kam, saß ich immer noch beim Frühstück. Sie hatte Shorts und T-Shirt ausgezogen und war schon im Bikini, um sich auf der Terrasse in die Sonne zu legen. Ich versuchte, sie nicht anzusehen. Der dialektische Schlagabtausch mit ihrem Mann hatte mir gereicht.
»Gut, dass du da bist, Mike. Laura schläft noch, und ich brauche Hilfe.«
Sie streckte mir die Sonnenmilch entgegen, und ich starrte sie an, einen Bissen french toast im Mund. Sie wandte sich um, verließ die Küche und stellte sich vor einen Spiegel. Mit einer Hand hielt sie sich im Nacken die Haare zusammen, mit der anderen zündete sie sich eine Zigarette an. Ihre grünen Augen sahen mich im Spiegel an.
»Mach schon, Mike, das geht doch ganz schnell.«
Ich wollte protestieren.
»Oben auf der Terrasse weht der Gibli. Da klebt gleich überall der Sand am Körper.«
Sie lachte. Mit diesem wunderbaren Mund und diesen Augen, die einem das Gefühl gaben, der einzige Mann auf der Welt zu sein.
»Dann sehe ich aus wie ein leckeres paniertes Schnitzel, was? Magst du Schnitzel, Mike?«
Meine Stirn glühte, und meine Knie fühlten sich an wie Pudding. Ich verteilte ein bisschen Creme in ihrem Nacken, gerade so viel wie nötig. Sie beobachtete mich im Spiegel, die Zigarette baumelte im Mundwinkel zwischen ihren sinnlichen Lippen.
»Und der Rest? Willst du, dass ich mir in der Sonne den Rücken verbrenne?«
Ich cremte ihr die Schultern ein und versuchte, ihrem Blick im Spiegel auszuweichen. Als ich gegen das Hindernis ihres Bikini-Oberteils stieß, hielt ich wieder inne.
»Mach es auf, sonst bekomme ich Streifen.«
Sie sagte das, als wäre nichts dabei. Natürlich bekam ich die Häkchen vor lauter Aufregung nicht auf. Marlenes Augen durchbohrten mich im Spiegel.
»Du bist fast neunzehn, Mike. Du wirst doch wohl schon mal einen BH geöffnet haben. Oder mache ich dich so nervös?«
Du machst mich nicht nervös. Du machst mich rasend, am Tag und in der Nacht, wenn ich nass geschwitzt aufwache und mir vorstelle, wie du nackt auf der Terrasse liegst.
Sie drückte die Zigarette aus, warf ihr langes Haar über die Schulter nach vorn, griff mit beiden Händen hinter ihren Rücken und führte meine Finger zu den Häkchen. Ich zitterte, als ich sie voneinander löste. Sie nahm ihre Arme wieder nach vorn, um sich das Oberteil vor ihre wunderbaren Brüste zu halten.
Ich schloss die Augen und betete, dass sie sich nicht umdrehte und die große Beule im Schritt meiner Jeans bemerkte. Mit beiden Händen cremte ich ihren Körper ein, immer weiter hinab, bis zum Gummiband ihres Höschens.
Ein unüberwindliches Hindernis, die Schwelle zum verbotenen Paradies.
Vielleicht war es Einbildung, aber ich hörte sie zufrieden schnurren.
Zufrieden, mich in ihrer Macht zu haben. Vollkommen.
»Eigentlich sollte mein Ehemann mich eincremen, aber der ist immer bei der Arbeit oder auf Reisen. Und lässt mich völlig allein hier in diesem ganzen Sand.«
Ihre Stimme schwankte zwischen Schalk und Verbitterung, als balancierte sie auf einem Brett über den Abgrund und könnte sich noch nicht entscheiden, zu welcher Seite sie sich fallen lassen sollte.
»Das tut mir leid«, sagte ich dümmlich.
»Was tut dir leid, Michelino?« Ihre Stimme klang leicht spöttisch.
Ich verharrte am Rand ihres Höschens und spürte das Gummiband unter meinen Fingerkuppen. In Gedanken versuchte ich, es hinunterzuschieben, doch es funktionierte nicht.
»Es tut mir leid, aber ich muss gehen.«
Ich wusste gar nicht, was ich sagte, und war entsetzt, als ich mich mit der Stimme eines jungen Mannes in hormoneller Aufruhr reden hörte. Rau, kehlig und unsicher.
Sie hakte sich das Oberteil wieder zu und drehte sich plötzlich zu mir um. Sie war ein Meter achtzig groß, und ich überragte sie sogar um ein paar Zentimeter. Trotzdem stand ich da wie ein kleiner Junge, den man bei irgendetwas ertappt hatte, stumm, mit hochrotem Kopf und in nackter Panik angesichts der Erektion, die gegen meine Jeans drückte. Ich betete, dass Marlene sie nicht bemerkte.
Einen Augenblick fixierte Marlene mich mit diesen Augen, die einem das Gefühl gaben, der einzige Mann auf der Welt zu sein. Und der dümmste.
»Du hast schöne Hände, Mike. Du kannst gut eincremen. Vielleicht komme ich noch einmal darauf zurück.«
Dann pikste sie mir mit zwei Fingern in die Brust. Während es mich wie ein Stromschlag durchfuhr, drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf.
Ich habe am Rand ihres Slips angehalten wie an der Schwelle zum Abgrund.
Als ich vor die Villa trat, stand trotz des Gibli mein Vater im Garten und unterhielt sich mit Don Eugenio, Emilio Busi und Mohammed. Vier Augenpaare folgten mir neugierig, als ich ihnen zuwinkte, als wäre nichts, und in die entgegengesetzte Richtung verschwand.
An diesem Samstagabend feierten wir unsere Rückkehr aus Kairo und die der Familie Hunt aus Amerika. Zum Abendessen wurde der Fisch serviert, den Salim in der Nacht zuvor gefangen hatte. Farid hatte ihn zubereitet und schwärmte unablässig davon, wie frisch er sei, als wollte er ihn uns an seinem Marktstand verkaufen.
In der Villa liefen die Klimaanlagen auf Hochtouren, und die Fenster waren geschlossen. Draußen ließ der Gibli allmählich etwas nach, würde aber am nächsten Tag, dem dritten, noch einmal deutlich zunehmen.
Wir saßen an einer langen Tafel. Die Familien Bruseghin-Balistreri, Hunt und al-Bakri waren vollzählig versammelt. Und dann waren da noch Nico, seine Mutter Santuzza, Busi und Don Eugenio. Zwei Dutzend glückliche Menschen.
Wenn man von meiner Mutter mal absah. In den beiden Jahren, die ich in Kairo verbracht hatte, war Italia alt geworden, als hätte eine Krankheit sie ausgezehrt. Ihre helle Gesichtshaut war von zarten Fältchen überzogen, und in ihr blondes, kurz geschnittenes Haar hatten sich viele weiße Fäden geschlichen. Außerdem war sie inzwischen genauso dünn wie Marlene Hunt. Nur, dass die geschmeidig und wohlgeformt war, Italia aber nur Haut und Knochen.
Gegen Ende des Abendessens bat mein Vater um Aufmerksamkeit.
»Morgen gehen wir angeln, Jungs. Vor meiner Insel La Moneta befindet sich eine Untiefe, die sich sowohl zum Speerfischen als zum Schleppfischen eignet. Salim hat mich auf die Idee gebracht.«
Sogar Alberto war überrascht.
»Papa, morgen wird eine Höllenhitze herrschen, und der Gibli wird mit zwanzig Knoten pfeifen.«
»Eben. Hier wird das unerträglich mit dem ganzen Sand. In Tripolis ist es schon angenehmer, und draußen auf dem Meer wird es noch viel kühler sein.«
Es war nicht zu übersehen, dass mein Vater großen Wert darauf legte. Die Insel war sein neues Kronjuwel. Doch Nico hatte noch ganz andere Bedenken.
»Die Zufahrt von Sidi el-Masri nach Tripolis über die Sciara Ben Asciur und die Gartenstadt wird morgen von zehn bis ein Uhr gesperrt sein. Wegen einer Kamelparade. Sie soll sich von der Kathedrale bis zur Piazza Italia ziehen. Sogar das italienische Fernsehen kommt.«
Über solche Dinge war Nico immer bestens informiert, doch mein Vater ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen.
»Dann müsst ihr eben vor zehn in die Stadt fahren. Ich besuche morgen früh um sieben nicht die Messe in der Kathedrale, sondern bei Don Eugenio, zusammen mit Alberto und Großvater. Danach gehe ich zum Barbier neben dem Markt, auf der Sciara Mizran. Denkst du an meine Zeitung, Nico?«
Eine von Nicos neuen Aufgaben bestand darin, meinem Vater sonntags um acht Uhr das druckfrische Giornale di Tripoli zum Barbier zu bringen.
Eigentlich öffnete der Barbier seinen Laden erst um diese Zeit, aber für Ingegner Salvatore Balistreri kam er schon eine Viertelstunde früher, um ihm gleich nach der Messe Haar und Schnurrbart zu stutzen. Danach setzte sich Papa dann mit der Zeitung auf die Terrasse des Uaddan-Hotels, um zu frühstücken und sich ein paar Stunden mit einflussreichen Italienern zu unterhalten.
»Selbstverständlich, Ingegnere, keine Sorge.«
»Pünktlich, Nico, nicht vergessen.«
»Aber wir müssten noch die Tauchflaschen auffüllen«, wandte Salim ein. »In der Untiefe fischt man am besten dicht über dem Meeresgrund.«
Ich war nicht gerade begeistert. Weder darüber, bei dem Gibli angeln zu gehen, noch darüber, früh aufstehen zu dürfen, um die Flaschen aufzufüllen.
»Jetzt ist es schon halb eins. Vor neun stehe ich morgen nicht auf. Tauchen wir ohne Flaschen.«
Wie üblich sah mein Vater nur den Faulpelz in mir. Er wandte sich an Ahmed, als hätte ich gar nichts gesagt.
»Kümmerst du dich darum, Ahmed?«
»In Ordnung. Wenn Nico sie zur Tankstelle bringt, hole ich sie morgen früh dort ab.«
»Okay«, sagte Nico. »Ich lade sie noch heute Abend in den Bus und bringe sie morgen um Viertel nach acht zur Tankstelle. Du kümmerst dich um den Sauerstoff, und ich hole Alberto und Mike hier ab.«
Dieser ganze Aktivismus ging mir auf die Nerven.
»Aber nicht zu früh, Nico. Ich hab doch gesagt, dass ich ausschlafen will.«
Mein Vater warf mir einen bösen Blick zu, aber Alberto kam mir zu Hilfe.
»Wir haben ja keine Eile. Nico und ich frühstücken zusammen, und wenn Mike so weit ist, fahren wir nach Tripolis rein, bevor sie die Straßen sperren.«
Nun war mein Vater zufrieden. Er wandte sich an Busi. »Sehen wir uns beim Barbier?«
»Nein, diesmal halte ich es wie Mike und schlafe auch aus. Ich komme dann gegen zehn ins Uaddan.«
Papa sah die Amerikaner an.
»William?«
Hunt schüttelte den Kopf.
»Danke, aber wir können nicht. Morgen ist in Wheelus Field das Endspiel im Baseball-Turnier und ein Brunch. Das lassen Marlene, Laura und ich uns nie entgehen. Wir sind erst nachmittags zurück, nach dem Brunch.«
Papa war ein wenig enttäuscht.
Er möchte ihr seine Insel zeigen.
»Mohammed, um das Büro kümmerst du dich, oder?«
Der Sonntag war für die Araber ein Arbeitstag.
»Sicher, Ingegnere. Um halb neun bin ich wie immer im Büro.«
»Und ihr?«, fragte Papa Farid und Salim.
Farid fuhr sich mit der Hand durchs krause Haar und schüttelte den Kopf.
»Danke, aber wir fahren heute Nacht zum Fischen raus. Wenn Salim etwas fängt, kann ich morgen auf dem Markt hoffentlich ordentlich was verkaufen.«
Meine Mutter und Großvater fragte Papa gar nicht erst. Er wusste, dass die beiden nicht gern angelten. Die Familie Bruseghin war mehr der Erde und den Oliven verbunden. Mama würde in der Villa bleiben und die Klimaanlage aufdrehen. Und Großvater wollte nach der Messe wie immer eine Runde über den Markt drehen und anschließend im Circolo Italia Boccia spielen.
So fand dieser endlose Abend schließlich ein Ende, während draußen der Gibli Luft holte für den dritten Tag.