Mittwoch, 17. Juni 1970

Im Juni nahmen Touristen und Römer die Piazza Navona in Beschlag. Auf der Terrasse des Tre Scalini gab es keinen freien Sitzplatz mehr, während es drinnen ziemlich ruhig war.

Busi rauchte. Unter dem karierten Hemd schaute sein Unterhemd hervor. Don Eugenio las den Wirtschaftsteil des Corriere della Sera.

Salvatore Balistreri informierte sie über die Lage in Tripolis.

»Die Depeschen des neuen Botschafters sind beruhigend. Der Exodus der Italiener schreitet voran, und die Amerikaner müssen das Land bald verlassen.«

»Ich weiß, dass William Hunt die Verhandlungen zur Räumung von Wheelus Field in Kürze abschließen wird«, sagte Busi. »Ist er weich geworden?«

»Ja, ich habe mit ihm geredet«, sagte Balistreri. »Die amerikanischen Schwestern und Schwesterchen sind jetzt mit der Aufteilung einverstanden.«

»Natürlich«, sagte Busi. »Die Ölvorkommen werden ja auch nur dem Schein nach verstaatlicht. Der einzige Unterschied zu früher wird sein, dass sie die Torte mit uns teilen müssen. Das ist zwar nicht ganz das, was Enrico Mattei sich vorgestellt hat, aber unsere Ansprechpartner wollen nicht zu viele Probleme mit den Amerikanern. Die Yankees hängen am Geld. Sie wären glatt in der Lage, Tripolis zu bombardieren, um ihre Interessen zu verteidigen.«

Balistreri wusste, dass der Ex-Carabiniere und heutige Kommunist völlig recht hatte. Auch seine Brüder und ihre Freunde in Sizilien pflegten enge Kontakte nach Übersee und wollten keinen Ärger.

»Nur die alten imperialistischen Engländer und die aufgeblasenen Franzosen lassen wir außen vor«, folgerte Busi.

»Gut«, sagte Balistreri. »Bleibt also nur das Problem, wie Aldo Moro reagiert, wenn Gaddafi es an die Öffentlichkeit bringt.«

Busi warf dem Ingenieur einen flüchtigen Blick zu. Ja, der Tod seiner Frau und die Streitigkeiten mit Mike hatten ihm arg zugesetzt. Er machte sich einfach zu viele Sorgen. Dabei war Eile geboten.

Don Eugenio beruhigte ihn.

»Onorevole Moro wird bestimmt nicht erfreut sein. Aber just in dem Moment, wo in Libyen der Schlamassel losgeht, werden er und die DC sich mit ganz anderen Problemen herumschlagen müssen.«

»Können wir uns darauf verlassen?«, fragte Balistreri.

»Wir unterstützen die Befürworter des Scheidungsgesetzes. Unter der Hand natürlich, schließlich bediene ich mich auch aus den Töpfen des Vatikans. Diese Gelder tauchen in keiner offiziellen Bilanz auf, die verwalte ich höchstpersönlich. Alles für einen guten Zweck. Ist das Recht auf Scheidung denn nicht ein Zeichen für Zivilisiertheit?«

Balistreri hätte nicht sagen können, ob das ironisch oder eine Anspielung sein sollte. Vielleicht meinte es Don Eugenio sogar so, schließlich war er ein progressiver Priester. Und Balistreri hatte es immer schon gewusst. Bereits als er noch dem Barbier zur Hand ging, um sein Studium zu finanzieren, hatten seine großen Brüder ihn immer gewarnt.

Vertraue nie diesen Blödmännern von Kommunisten und Priestern, Salvo. Geschäfte ja, Freundschaft nie.

»Dann ist also für Juli alles klar?«, fragte Balistreri.

»Ja«, sagte Don Eugenio. »Ich benachrichtige den Präsidenten. Er ist nicht glücklich über diese Lösung, aber er vertraut uns. Leider müssen wir eine kleine Minderheit für das Wohl der Mehrheit opfern.«

Er vertraut uns!

Der Präsident weiß nur zu gut, dass es keine Alternative gibt, dachte Balistreri verbittert.

»Ist unten in Tripolis alles in Ordnung?«, fragte Busi.

Balistreri zögerte. Er hätte es verschweigen können, aber Busi hatte den Geheimdienst hinter sich und Don Eugenio den Präsidenten, also ebenfalls den Geheimdienst. Vielleicht wussten sie längst Bescheid. Lügen wäre zu gefährlich.

»Mike war bei General Jalloun. Er will ihn dazu bringen, die Ermittlungen zum Tod von Nadia und Italia wiederaufzunehmen. Mohammed hat natürlich seine Spione bei der Polizei. Wir haben ihn unter Kontrolle.«

Ein Schatten wanderte über Don Eugenios himmelblaue Augen.

»Der Junge ist ein Problem, immer schon.«

Busi stieß eine Rauchwolke aus. Auch er wirkte alles andere als gelassen.

»Ihr Sohn ist mir sehr ähnlich. Er ist ein Idealist. Jedenfalls können wir wegen eines Jungen keinen Ärger riskieren.«

Balistreri sah ihnen fest in die Augen. Er musste die beiden daran erinnern, mit wem sie es zu tun hatten und wer hinter ihm stand.

»Ich habe schon genug Opfer gebracht, Signori.« Er fasste sich an den schwarzen Trauerknopf an seinem Revers. »Um meinen Sohn kümmere ich mich selbst.«

Busi und Don Eugenio schwiegen. Die Botschaft war mehr als deutlich. Dennoch beschloss Balistreri, sie zu beruhigen.

»Mohammed wird dafür sorgen, dass Jalloun in Kürze abgelöst wird. Dann hat Mike keine Kontaktperson mehr, und die Mank verliert ihren Beschützer. Ich hoffe wirklich, dass er Libyen dann endlich den Rücken kehrt und zum Studieren nach Italien kommt.«

Salvatore Balistreri betrachtete die prächtige Piazza Navona. Ein langer Sommer erwartete die Italiener. Wirtschaftsboom, Fahrzeuge, Autobahnen und billiges Benzin. An den Brunnen und auf den Terrassen der Cafés wimmelte es von unbeschwerten jungen Leuten.

Italien wächst. Unsere Zukunft kennt keine Grenzen.

»Gut«, sagte Busi, »dann können wir ja heute Abend das Fußballspiel genießen.«

Die azzurri würden in Mexiko-Stadt gegen die Deutschen zum Halbfinale der Weltmeisterschaft antreten.

Salvatore Balistreri hasste Fußball. Ein dummer und sinnloser Sport, der die Leute um den Verstand brachte.

Am Ende denken die Italiener noch, sie lebten in einem großartigen Land.

Es war fast Nacht. Der Präsident beobachtete das Geschehen auf den Straßen von Rom. Dort draußen fand ein rauschendes Fest statt. Die Partie Italien gegen Deutschland war vor wenigen Minuten abgepfiffen worden, nach Verlängerung und sieben Toren, die viele Italiener an den Rand eines Herzinfarkts gebracht hatten.

Der Präsident hatte das Spiel nur nebenher verfolgt, ohne Ton. Stattdessen hatte er ein wunderschönes Symphoniekonzert gehört und sich dabei über seine Papiere gebeugt. Dieses Spektakel jetzt war aber interessant. Er hatte sogar den Fernseher lauter gestellt, um die Feierlichkeiten auf den Plätzen überall im Land live mitzuerleben.

Millionen Italiener in Partystimmung. Das war Wohlstand. Millionen Menschen auf der Straße, Millionen Fiats, Vespas, Lambrettas. Millionen Liter Benzin und Champagner wegen eines Fußballspiels. Auch ihm und der Democrazia cristiana hatten es die Italiener zu verdanken, dass sie den Sieg über die deutschen Invasoren so ausgelassen feiern konnten.

Nun ja, der Präsident wusste schon, dass es nicht ganz so war, aber die Geschichte wurde nun mal von den Siegern geschrieben.

Die politische Klasse im Italien der Nachkriegszeit, und da schloss er seine Person nicht aus, bestand fraglos aus Leuten, die für eine gute Sache gekämpft hatten: die Befreiung von diesem durchgeknallten Mussolini und einem schwachen König. Und dennoch hatten sie die Regierung des eigenen Landes und ihre Verbündeten verraten. In Deutschland war das nicht geschehen, und auch in Japan nicht.

In Italien und für die Italiener ist Ehre weniger wert als persönlicher Nutzen. Weil wir ihnen vorgemacht haben, wie man durch Verrat profitiert und die Macht an sich reißt.

Und nun waren da noch diese zwanzigtausend armen Schlucker in Libyen. Unterm Strich war dieser Verrat sehr viel unbedeutender, da musste man kein großes Gewese machen. Nur auf Salvatore Balistreri und seine Verwandten und Freunde in Sizilien musste man aufpassen. Und auf seinen Sohn Michele, diesen Hitzkopf.

Er stellte den Ton aus und konzentrierte sich auf seine Papiere. Ein Schreiben aus dem Außenministerium, von seinem Vertrauensmann. Ein Antrag auf Genehmigung einer Libyen-Delegation.

»Michele Achilli, Sozialist. Giorgio Granzotto, Unità Proletaria. Michele Pistillo, Kommunist.«

Moro würde ihnen sicher keine Genehmigung erteilen. Der Präsident ließ sich von seinem persönlichen Assistenten mit Ingegner Balistreri verbinden.

»Haben Sie das Spiel gesehen, Ingegnere?«

»Selbstverständlich«, log Balistreri. »Ein wunderbarer Sieg!«

Der Präsident lächelte. Er hatte ein Gespür dafür, wann jemand log. Ingegner Balistreri interessierte sich nicht im Geringsten für Italien, außer es ging um Geld.

Er berichtete ihm von den drei linken Parlamentariern, die nach Tripolis reisen wollten.

»Wenn irgend möglich, genehmigen Sie die Delegation. Ich werde Mohammed bitten, dafür zu sorgen, dass sie ein paar Vertreter des pro-palästinensischen Flügels des Revolutionären Kommandorats treffen und dass Gaddafi davon erfährt.«

»Der Oberst wird sehr wütend auf die Italiener sein, Balistreri.«

»Genau. Er wird beschließen, der Sache endlich ein Ende zu bereiten.«

Der Präsident verabschiedete sich. Na bitte, Salvatore Balistreri war der Prototyp des Italiens, das aus dem großen Verrat entstanden war.

Raffiniert, frei von Idealen und zu jedem Kompromiss bereit.

Costantini R.,Die Saat des Bösen
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