Montag, 29. Mai 1967
Vor drei Jahren war Nico Geraces Vater gestorben, überrollt von einem Lastwagen, der im Rückwärtsgang an die Esso-Zapfsäule herangefahren war. Alles vor den Augen von Nico.
Papa, der immer einflussreichere Ingegner Balistreri, war seiner verwitweten Cousine Santuzza und Nico zu Hilfe geeilt. Er hatte die Tankstelle aufgekauft, und Nico bekam nun einen festen Lohn dafür, dass er nachmittags und an den Wochenenden dort arbeitete. Im Gegenzug verlangte Papa, dass er weiter zur Schule ging. Die Bücher und das Schulgeld bezahlte er. Und die eleganten Anzüge, die Papa und seine Freunde trugen, waren allesamt Maßanfertigungen von Santuzza.
Die Erklärung meines Vaters für so viel Großzügigkeit war einfach.
»Santuzza ist meine Cousine zweiten Grades. Die Geraces sind aus demselben Viertel in Palermo wie ich, und ich war es, der sie dazu überredet hat, nach Tripolis zu kommen. Außerdem gehört sich das bei uns so – wer helfen kann, der hilft.«
Vielleicht hoffte Papa, dass sich Nicos Gesellschaft positiv auf seinen dummen und aufsässigen Sohn, den bekennenden Faschisten, auswirken würde. Ein Sohn von solcher Gesinnung war nicht förderlich, wenn man Geschäfte mit Arabern, Juden, italienischen Priestern und Kommunisten machen wollte.
Im Ausland dauerte das italienische Gymnasium nur vier Jahre statt fünf. Die ersten beiden waren schnell vergangen, aber das dritte war ein Drama, nicht zuletzt weil mein Bruder Alberto mit der Bestnote abgegangen war und nun in Rom die Universität besuchte. Ohne seine Hilfe waren Nico und ich aufgeschmissen.
Nicos Lispeln, seine buschigen Augenbrauen, die starke Körperbehaarung und der Benzingeruch machten ihn auch auf dem Gymnasium zum Gegenstand des Spotts. Die Mädchen in unserer Klasse küssten jeden, mich zuallererst, nur ihn nicht. Und die größeren Jungen drangsalierten ihn. Am schlimmsten trieben es einige Papasöhnchen aus der Basketballmannschaft unserer Klasse, fünf muskelbepackte, arrogante Bohnenstangen.
Sie nannten ihn nur »Benzin«, weil er an der Tankstelle arbeitete, oder »Busch« wegen seiner Augenbrauen und der vielen Haare überall.
Nico tröstete sich, indem er seine Bücher und Hefte mit aus Zeitschriften ausgeschnittenen Fotos von Schauspielerinnen und Sängerinnen spickte und sich modische Kleidung kaufte. Das ganze Geld, das er bei Esso verdiente, gab er für geblümte Hemden, Stretchhosen und einen Beatles-Haarschnitt aus.
Finanziell war er von meinem Vater abhängig, psychologisch von mir. Aber den Terror, dem die fünf Basketballer ihn täglich unterzogen, würde er nicht mehr lang aushalten.
He, Busch, lass mal dein Gesäusel hören!
He, Benzin, wie kann man sich mit derart stinkenden Händen überhaupt einen runterholen?
Die Blutsbrüder beschlossen, dass das ein Ende haben musste. Endgültig. Eine Entscheidung, die einstimmig gefällt wurde, in nur zwei Minuten.
Nach einem Spiel begaben Nico, Ahmed, Karim und ich uns in den Umkleideraum. Die Basketballer standen nackt unter der Dusche und warfen uns verächtliche Blicke zu.
»Araber und Benzin wollen wir hier nicht, Mike«, sagte der Center-Spieler der Mannschaft.
Ich versetzte ihm einen tae in die Hoden, dass er sich krümmte, dann verpasste Nico ihm einen kwon, dass er der Länge nach im Duschraum hinschlug. Als die anderen vier dazwischengehen wollten, stand Ahmed schon mit gezücktem Messer da.
Wir hatten nicht vor, uns mit ihnen zu prügeln, das hinterließ nur blaue Flecken und vielleicht sogar eine gebrochene Nase. Kein Problem für mich, aber Ahmed, Karim und Nico würden natürlich Ärger bekommen. Nein, eine andere Methode musste her.
Ein unsichtbarer blauer Fleck, den man niemandem zeigen konnte. Panische Angst.
Als der Center sich wieder aufzurappeln begann, ging Ahmed hin und hielt ihm das Messer an die Kehle, wie er es Jahre zuvor bei Don Eugenio getan hatte. Die Basketballer waren starr vor Schreck. Sie glotzten mich an, den einzigen Beteiligten auf Augenhöhe, den einzigen Zivilisierten. Also stellte ich gleich etwas klar.
»Wenn ihr euren Eltern auch nur ein Wort erzählt oder Nico weiter drangsaliert, bringen wir euch alle um.«
Um unserer Forderung Nachdruck zu verleihen, fügte Ahmed dem Center einen kleinen Schnitt an der Kehle zu. Ein wenig Blut quoll hervor.
»Mike hat nicht gesagt, dass wir euch verprügeln, sondern dass wir euch umbringen. Verstanden?«
Sie nickten eifrig. Von diesem Tag an wagte es niemand mehr, sich über Nico lustig zu machen. Und irgendetwas musste durchgesickert sein, denn auf der italienischen Schule und auf den Straßen von Tripolis machten alle einen großen Bogen um uns. Da ich der unantastbare Sohn von Ingegner Salvatore Balistreri war, ließ keiner der Eltern ein Wort verlauten.
Nico Gerace hörte irgendwann auf zu lispeln, kleidete sich immer extravaganter und klebte Fotos von nackten Playmates unter seine Bank. In diesem Schuljahr nannte ihn niemand mehr »Benzin« oder »Busch«.