Dienstag, 30. Mai 1967

Die letzte Schulwoche hatte begonnen. Der junge Geschichtslehrer aus Rom mit langem Bart und Parka erläuterte uns die Verheerungen des Faschismus.

»Die Kolonisierung Libyens zum Beispiel.«

Er musterte uns, als erwarte er Widerspruch. Dann fuhr er fort.

»Sie wurde von einer Bande von Verbrechern geplant und ausgeführt.«

Ich hob die Hand, doch er ignorierte mich und schickte uns in die Pause auf den Hof.

Während die anderen plauderten, stand ich mit Nico etwas abseits. Ich dachte an meinen Großvater und an die vielen Jahre, die er geschuftet hatte, um seine Olivenplantage anzulegen. Wut stieg in mir auf.

Dann fiel mir wieder ein, was Emilio Busi, der Kommunist, gesagt hatte.

Der Reichtum liegt unter dem Sand, nicht darüber. Die Olivenplantage von Großvater hat keine Zukunft.

Unser Geschichtslehrer stand in einer Ecke und rauchte, was uns Schülern streng untersagt war.

Ich ging zu ihm, Nico zwei Schritte hinter mir.

»Mein Großvater war einer der Siedler, Professore. Halten Sie ihn auch für einen Verbrecher?«

Er würdigte mich kaum eines Blickes.

»Darüber reden wir beim nächsten Mal, Balistreri.«

»Nein. Antworten Sie jetzt.«

Um uns herum scharte sich schon eine Gruppe von Schülern. Ich spürte die Spannung steigen, aber ich wollte nur eine Antwort, nur eine verdammte Antwort.

»Wenn dein Großvater Faschist war, dann war er ein Verbrecher, Balistreri. Vielleicht hat er den ein oder anderen Libyer erhängt, vielleicht auch nicht. Jedenfalls wäre er besser zu Hause geblieben.«

Die Wut, meine alte Feindin, die ich seit jeher fürchtete und nicht in den Griff bekam, explodierte ohne Vorwarnung. Ich wandte nicht einmal eine Kampftechnik an, sondern stieß ihn einfach zu Boden. Dann packten Nico und ich den Mann an Armen und Beinen und warfen ihn in das Goldfischbecken.

»Arschloch!«, rief Nico leicht lispelnd und spuckte hinterher.

Der Direktor tat sein Bestes, um mich nicht von der Schule jagen zu müssen, doch der Geschichtslehrer hatte sich gleich ans Ministerium für Öffentliche Bildung in Rom gewandt. Am nächsten Tag kam ein Telegramm.

Nico und ich flogen hochkant raus. Allerdings konnte ich mit Papas Geld immer noch auf ein privates Gymnasium in Rom gehen, während es für Nico endgültig aus war. Er würde sein Leben lang Tankwart bleiben.

Als ich an diesem Nachmittag nach Hause kam, bezeichnete mich mein Vater zum ersten Mal als Verlierer.

»Dein Bruder studiert in Rom Ingenieurwesen, aber du kannst nur prügeln und schießen. Du wirst noch als Tankwart enden wie dieser Dummkopf von Nico. Du bist ein Verlierer.«

Meine Mutter sah ihn mit Eiseskälte an.

»Die Verlierer, wie du sie nennst, Salvatore, können den Siegern überlegen sein. Du wirst schon sehen, in was für einer Welt wir in fünfzig Jahren dank deiner Sieger leben werden.«

Am unerbittlichsten war allerdings Großvater, sowohl mit mir als auch mit Papa.

»Mike, ab nächster Woche arbeitest du bei mir auf der Plantage. Und du, Salvatore, musst mehr Geduld haben. In meinem Haus möchte ich dieses Gerede über Sieger und Verlierer nicht hören. Solche Dinge sagt man nur im Krieg.«

Mein Vater erblasste vor Wut. Giuseppe Bruseghin rieb ihm unter die Nase, dass dies immer noch sein Haus war, nicht das von Ingegner Balistreri. Und dass er im Krieg gewesen war, Ingegner Balistreri aber bestenfalls gegen die Armut gekämpft hatte.

Mein Vater war jedoch jemand, der sich beherrschen und auf den richtigen Moment warten konnte. Und da der noch nicht gekommen war, neigte er vor Großvater das Haupt.

Ich ging hinaus und begab mich hinter die Villa der Hunts. Wie ein Feuerball sank die Sonne auf diesen schrecklichen Tag und auf einen Teil meines Lebens nieder.

Vor der Überdachung für die Autos trieb sich Laura mit ihrer neuen Rolleiflex herum. Anstatt mit ihren Freundinnen den Corso auf und ab zu flanieren, fotografierte sie lieber die Ameisen, die in einer langen, geordneten Schlange den Ameisenhaufen verließen und wieder darin verschwanden.

Ich richtete mich auf Vorwürfe ein, da alle von meiner Glanzleistung erfahren hatten. Doch sie stellte keine einzige Frage und zeigte nur auf die Ameisen.

»Die wissen, dass sie nur überleben können, wenn sie sich gegenseitig helfen. Wir sollten uns an ihnen ein Beispiel nehmen.«

Sie ist crazy. Ahmed hat recht.

Sie nahm ihre Rolleiflex. Die Sonne blendete, und ich hob instinktiv den Arm, um meine Augen abzuschirmen. Laura drückte trotzdem ab. Dann sah sie mich mit ihren hellen Augen ernst an, als ginge ihr etwas wirklich Wichtiges durch den Kopf.

»Entschuldige, Mike. Aber dieses Foto wird dir eines Tages nützlich sein.«

Costantini R.,Die Saat des Bösen
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