Sonntag, 23. Januar 1983

Ich hatte mir ein Taxi nach Hause genommen und nachts um eins noch Capuzzo und die beiden Apostel auf den neuesten Stand gebracht. Dann hatte ich sie gebeten, die Beziehungen zwischen Dino Forte, Nico Gerace und den Nastasias und ihre jeweiligen Alibis zu überprüfen. Außerdem sollten sie die Porträtistin Charmene vorladen, um sie zu Anita Messi und Dino Forte zu befragen. Damit brach ich den stillschweigenden Waffenstillstand, der mir am Tag zuvor in Palermo das Leben gerettet hatte. Und wenn die Mörder sich in die Ecke gedrängt fühlten, würden sie auf die Befehle meines Vaters pfeifen und jede Vorsicht aufgeben.

Sie werden nicht warten, bis ich wieder nach Palermo komme, um mich auszuschalten. Sollen sie es ruhig versuchen.

In den Sechsuhrnachrichten kam die aufsehenerregende Meldung, dass Dino Forte in einer seiner Villen in Tivoli festgenommen worden sei.

Um sieben rief ich Capuzzo an. Er sagte, Dino Forte werde immer noch durch die Mangel gedreht. Ich bat ihn, die Apostel zu benachrichtigen. Nach der Vernehmung sollten sie ihn abwechselnd observieren und keinen Moment aus den Augen lassen.

Um acht rief er mich zurück. Das Verhör von Dino Forte sei beendet. Er besaß kein Alibi für den gestrigen Nachmittag, an dem Claudia getötet wurde. Angeblich war er allein in seiner Villa in Tivoli. Sein großartiger Anwalt hatte ihn gut verteidigt. In Claudias Wohnung gab es nicht die geringste Spur von ihm, und niemand hatte ihn in der Gegend gesehen.

Vorläufig hatten sie seinen Reisepass eingezogen und ihm untersagt, die Stadt zu verlassen. Forte war in seine Wohnung an der Piazza Navona gefahren, wo Pietro Position bezogen hatte.

Um halb neun bekam ich einen Anruf von den beiden Aposteln. Sie hatten nur schlechte Nachrichten.

Während Pietro vor Dino Fortes Haus stand, hatte Paolo sein Alibi für den Todestag von Anita Messi überprüft. Er war in seiner berühmten Villa in Tivoli gewesen, im Hügelland vor Rom, zusammen mit Freunden. Keiner von ihnen konnte beschwören, dass er die ganze Zeit über dort war. Ein wackeliges Alibi, wie fast alle Alibis für einen Tag mitten im Sommer.

Pietro hatte Erkundigungen über die Nastasias eingeholt. Sie waren mit dem letzten Flugzeug aus Palermo gekommen, was auch Paolo bestätigte, der die Computer der Alitalia zurate gezogen hatte, und dann zum Tre Peccati gefahren. Sie waren gerade wieder gegangen, als Pietro dort ankam und ein paar Worte mit dem Barmann und einigen Stammgästen wechselte. Dino Forte war noch nie im Tre Peccati gesehen worden.

Die schlechteste Nachricht kam um neun Uhr von Capuzzo. Aus dem Polizeipräsidium hatte er erfahren, dass in der Nacht drei Halunken eine arme Obdachlose, die mit ihren Lumpen in einer Gasse hinter der Piazza Navona schlief, angezündet hatten. Man hatte sie als die Porträtistin Charmene identifiziert. Sie war das einzige Verbindungsglied zwischen Anita Messi und Dino Forte, und nun war sie tot. Ermordet von drei Kriminellen.

Die Nastasias. Drogen. Die Mafia. Die P2. Dino Forte. Die Balistreri-Brüder.

Ich erinnerte mich an ihre weißen Haare, die gelben Zähne, die schönen langen Finger. Und an das sanfte Lächeln, mit dem sie Nico und mich überreden wollte, uns porträtieren zu lassen.

Das reicht jetzt. Wir werden das regeln wie früher bei der Mank. Wie Ahmed und ich es getan haben.

Echte Beweise würden wir bei Anita, Debbie und Claudia Teodori nie finden. Die Kräfte, die sich den Ermittlungen in Italien entgegenstellten, waren zu mächtig.

Der Schwachpunkt meiner Feinde war Nadia al-Bakri. In diesem Fall gab es keine Ermittlungen der Mordkommission, die allerdings auch nichts von den Briefen aus Tripolis wusste.

Du musst Nadias Mörder finden, denn der hat auch alle anderen umgebracht. Bevor sie dich umbringen.

Um halb zehn rief mich der Apostel Pietro an. Dino Forte hatte sein Haus verlassen, allein. Er war mit einem Taxi in die wenige Minuten entfernte Pfarrei von Sant’Anselmo all’Aventino gefahren. Danach war er wieder nach Hause an die Piazza Navona zurückgekehrt. Ins Innere der Kirche hatte Pietro ihm nicht folgen können, also wusste er nicht, was Forte dort gemacht und ob er jemanden getroffen hatte.

Aber ich wusste, bei wem Dino Forte war. Die Pfarrei von Sant’Anselmo. Ein Name, der nur düstere Erinnerungen in mir wachrief.

Es war Zeit zu handeln. Ich kam meinen alten Feinden immer näher.

Die Kirche Sant’Anselmo befand sich in einer der schönsten Gegenden Roms, auf dem Colle dell’Aventino, nicht weit vom Palatin, auf dem das Collegio delle Figlie della Vergine residierte. Monsignor Eugenio Pizza war ein einflussreicher Mann. Wohl aus einer Laune heraus hatte er sich, um hin und wieder die Messe zu lesen, eine Kirche mit demselben Namen wie jene in Tripolis ausgesucht.

Das neoromanische Gebäude zeichnete sich bei meiner Ankunft scharf gegen den kristallklaren Morgenhimmel ab. In den drei Kirchenschiffen im Innern befanden sich nur drei, vier alte Mütterchen und Don Eugenio, der soeben den Gottesdienst beendete.

Die Messe ist aus. Gehet hin in Frieden.

Auch diese Geschichte näherte sich ihrem Ende. Die Brücke wurde nicht gebaut, mein Vater ging fort, blieb nur der Mörder der Mädchen. Danach würden wir dann in Frieden hingehen.

Monsignor Pizza schien weder überrascht noch erfreut, mich zu sehen.

»Gehen wir nach draußen, Michele. Das ist ein Ort des Gebets.«

Wir gingen in den Giardino degli Aranci. Unter uns lag die Stadt, die aus der Ferne betrachtet die schönste auf der Welt und in ihrem Innern eine Schlangengrube war. Die Dächer von Trastevere, der Fluss, der sich zwischen den antiken Palazzi dahinschlängelte, die Tiberinsel, die vielen Kuppeln der Altstadt. Um uns herum war keine Menschenseele, nur Orangenbäume, die die Luft mit ihrem Duft erfüllten. Und zwischen uns herrschte Schweigen, ein Schweigen, das seit jenem Tag in der Schule unüberwindbar war.

Als du den Sohn von Salvatore Balistreri hast laufen lassen und den armen Nico Gerace dabehalten hast.

»Ich bin ganz Ohr, Michele.«

Das war nicht mehr der überlegene Ton eines Lehrers gegenüber seinem Schüler oder eines Monsignore gegenüber einem jungen Polizisten. Don Eugenio war beunruhigt. Gründe hatte er reichlich. Das gescheiterte Projekt der Brücke über die Straße von Messina, der Fortgang meines Vaters und natürlich sein Mündel Dino Forte.

Ich kam gleich zur Sache.

»Ich weiß, dass Dino Forte hier war. Ich möchte wissen, wo er gestern Nachmittag war. Andernfalls wird er wegen des Mordes an Claudia Teodori verhaftet.«

Immer noch Schweigen.

»Wenn er kein Alibi hat, steht für Dino Forte viel auf dem Spiel, Monsignore. Sie könnten ihm helfen.«

»Wie kommst du darauf, Michele?«

»Weil Sie sein Freund sind. Und sein Beichtvater. Niemand kennt ihn so gut wie Sie.«

»Er hat kürzlich gebeichtet, aber die Beichte ist ein Sakrament, Michele.«

»Auf Mord steht Gefängnis, Monsignore. Und Dino Forte kann ich mir nur schlecht hinter Gittern vorstellen, nicht einmal für eine Nacht.«

Es folgte ein ausgedehntes Schweigen. Monsignor Pizza sah zur Kuppel des Petersdoms hinüber, und seine Stimme verwandelte sich in ein Flüstern.

»Dino Forte hat ein Geheimnis, Michele. Wie wir alle.«

Sicher. Wie ich. Wie du.

Diesmal verharrte ich in Schweigen.

»Ein Laster, das man nur einem Priester anvertrauen kann.«

»Das glaub ich gern. Wenn er ein Alibi hätte, könnte er ja sonst einfach damit herausrücken. Drogen? Eine Geliebte?«

»Schlimmer.«

»Schlimmer?«

Ein langer Seufzer.

»Er macht gelegentlich einen Abstecher nach Tor di Quinto.«

Ich erstarrte. Das war doch nicht zu fassen.

»Er könnte jede Frau haben, und er geht zu Nutten?«

Ein weiterer Seufzer.

»In Tor di Quinto stehen nicht nur Frauen.«

Jetzt fiel der Groschen. Ein Abenteuer mit einem Transsexuellen zuzugeben, hätte für Dino Forte das Ende seiner Karriere im erzkatholischen italienischen Fernsehen und eine öffentliche Hinrichtung bedeutet. Vorhang zu. Für immer.

»Kennen Sie den Namen des Transsexuellen?«

»Sie heißt Marybelle. Aber so richtest du ihn zugrunde, Michele.«

»Ich rette ihn vor dem Knast. Da würde er nämlich sonst heute Nacht schlafen.«

Don Eugenio nickte.

»Das habe ich ihm auch gesagt. Er hat keine Wahl. Er muss seine Karriere ruinieren oder ins Gefängnis gehen.«

Eine bittere Entscheidung für einen Mann wie Dino Forte. Ich musste Capuzzo benachrichtigen, dass er sofort seine Festnahme in die Wege leiten sollte.

Aber da war noch etwas anderes.

»Ich hätte noch eine Frage, Monsignore. Sie betrifft den 3. August 1969.«

Don Eugenio schwieg. Vielleicht begann er zu verstehen, dass Dino Fortes Problem ein kleines war im Vergleich zu dem, was da noch kam.

»An jenem Morgen sind Sie mit meinem Vater nach Sidi el-Masri gefahren. War Emilio Busi auch bei Ihnen?«

Seine Antwort kam zügig, ohne einen Anflug von Verlegenheit.

»Dein Vater und ich haben Dino Forte in Sidi el-Masri im Hause der Contessa getroffen, aber Busi war nicht dabei.«

»Und danach?«

»Forte ist nur ein paar Minuten geblieben. Ich habe der Contessa noch die Beichte abgenommen, aber vor zehn sind wir auch in die Stadt zurückgefahren, immer hinter eurem Bus her. Am Markt in der Sciara Mizran, wo ihr Farid hinten habt aussteigen lassen, sind wir dann in Richtung des Uaddan abgebogen, wo wir auf Busi gewartet haben.«

»Und wo war Busi?«

Er sah mich mit eisigem Blick an und schüttelte den Kopf.

»Wieso soll das von Bedeutung sein?«

Es war von entscheidender Bedeutung. In diesem Moment kam allerdings der Apostel Paolo in den Garten gerannt.

»Dino Forte hat sich erhängt!«

Monsignor Eugenio Pizza bekreuzigte sich, hob die Hand zum Abschied und eilte auf die Kirche zu.

Die eine oder andere Rechnung werden wir noch begleichen, früher oder später.

Ich trommelte Capuzzo und die beiden Apostel zusammen. Um elf hockten wir alle in meinem engen Apartment in Garbatella, inmitten von Capuzzos Unterlagen, Pietros Traktaten und Paolos verdammtem Computer, den er unter großen Mühen angeschleppt hatte.

Dino Forte hatte sich angesichts der unmöglichen Entscheidung in seiner schönen Wohnung an der Piazza Navona erhängt. Zwischen physischer Unversehrtheit und moralischem Abgrund hatte er sich für den Tod entschieden. Capuzzo informierte mich, dass die Mordkommission weder Zweifel an einem Selbstmord hege noch an Dino Fortes Schuld. Und der Apostel Pietro versicherte mir, dass seit Dino Fortes Rückkehr aus der Kirche von Sant’Anselmo niemand sein Haus betreten habe.

Dass Dino Forte sich umgebracht hatte, konnte ich mir sogar vorstellen, nicht aber, dass er Claudia Teodori getötet haben sollte. Ich beauftragte Pietro damit, nach Marybelle zu suchen und Fortes Alibi für den Zeitraum von Claudias Ermordung zu überprüfen. Aber ich hatte keine Zweifel daran, dass Don Eugenio wenigstens in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte. Was der Suizid ja bestätigte. Dass Dino Forte sich dieser Schande und dem ruhmlosen Ende seiner Karriere nicht zu stellen vermochte, hieß doch, dass Marybelle wirklich existierte.

Wenn wir uns auf die jüngsten Mordfälle versteiften, würden wir keinen Schritt weiterkommen. Zu viele Kräfte arbeiteten gegen die Wahrheit. Wir beschlossen, uns ganz auf die Vergangenheit zu konzentrieren. Auf Nadia al-Bakri, ein Verbrechen, das vor über dreizehn Jahren und auf einem anderen Kontinent geschehen war.

Diesmal erzählte ich die Geschichte in all ihren Einzelheiten. Angefangen damit, wie ich Nadia anvertraut hatte, dass die beiden in der Jauchegrube aufgefundenen Leichen dunkelhäutig waren, bis hin zu meiner Flucht aus Tripolis mit Nico Gerace. Ahmeds Tod und meine Geschichten mit Laura und Marlene Hunt ließ ich aus, die hatten nichts mit der Sache zu tun, aber alles andere teilte ich ihnen haarklein mit. Auch meine Mutmaßungen über den Komplott meines Vaters und seiner Freunde und das Attentat auf Gaddafi.

Außerdem ließ ich sie die Briefe lesen, die ich in den vergangenen Monaten aus Tripolis erhalten hatte.

Sie lauschten aufmerksam, als hätte ich sie in die Welt der Schatzinsel oder des Kriegs der Sterne entführt.

Im Anschluss machte der Apostel Pietro eine einzige Bemerkung.

»Nadias Mörder hat auch die beiden Dunkelhäutigen ermordet. Und Anita Messi, Deborah Reggiani und Claudia Teodori.«

Inzwischen war ich nicht mehr so misstrauisch wie anfangs. Er lag mit seinen Intuitionen oftmals goldrichtig.

»Warum? Wegen des Fingers?«, wollte Capuzzo wissen.

»Nicht nur«, antwortete Pietro. »Der Plan hinter all diesen Verbrechen macht mich hellhörig. Als wäre es jedes Mal nur eine Instanz einer sehr komplexen Idee.«

»Außer im Fall Teodori, der ist anders«, bemerkte ich.

Pietro nickte.

»Möglich, Balistreri. Diese Tat war nicht sehr durchdacht. Aber das Markenzeichen, der verstümmelte Finger, taucht auch hier wieder auf.«

»Kann ich mal das Original haben, Balistreri?«, fragte Paolo.

Er betrachtete die Fotokopie des berühmten karierten Blatts, die ich nach Tripolis geschickt hatte. Ich holte das Nietzsche-Buch und zog den alten Zettel und das mit Nadias Blut verschmierte Taschentuch heraus.

Paolo nahm das Papier und setzte sich vor seinen Computer.

Pietro mahnte mich, das Taschentuch sorgsam zu behandeln.

»Warum?«

»Weil sich die Wissenschaft in Riesenschritten weiterentwickelt, Balistreri. Sie halten nicht viel vom Fortschritt, aber schon sehr bald könnten uns die Blutflecken auf diesem Taschentuch etwas Wichtiges mitteilen. Verwahren Sie es weiterhin schön trocken in dem Buch auf, wie Sie es all die Jahre getan haben.«

»Balistreri, können Sie bitte mal kommen?«

Ich sah zu Paolo hinüber. Er hatte das karierte Blatt umgedreht.

»Was ist das hier?«, fragte er mich.

Sie kannten sich – m kontrollieren.

»Wie schon gesagt, meine Mutter hat ein paar Nachforschungen angestellt. Diese Notiz ist von ihr.«

Paolo musterte das Blatt mit hochgezogener Augenbraue und verglich es mit den grünen Buchstaben auf dem Bildschirm seines Rechners.

»Seltsam, wie Ihre Mutter das m geschrieben hat.«

Ich hatte keine Ahnung, was die beiden da schwatzten. Paolo mit seinem m und Pietro mit dem Taschentuch. Sie verschwendeten nur meine Zeit.

Es war halb eins, als ich sie allesamt hinauswarf. Sie hatten viel zu überprüfen, und ich hatte einiges zu überdenken.

Seit Tagen schon hatte ich nichts Anständiges mehr gegessen. Wenn ich mich weiter von Whisky, Kaffee und Zigaretten ernährte, bekam ich noch ein übles Magengeschwür. Die Wohnung verließ ich nur widerwillig, aber ich musste unbedingt etwas essen. Krank zu werden, konnte ich mir nicht leisten. Zum Glück war mein Stammlokal nur zwei Häuser entfernt.

Der Wirt stand mit dem Metzger und dem Obsthändler an der Tür. Er deutete auf den Bürgersteig gegenüber und schimpfte.

»Diese verdammten Amis! Jetzt kommen sie schon nach Garbatella. Der Duce hätte euch einen Tritt in den Hintern verpasst!«

Ich schaute zur anderen Straßenseite hinüber. Seit über einem Monat renovierte dort ein Trupp Bauarbeiter ein großes Ladenlokal, das lange Zeit leer gestanden hatte. Einer der Männer reichte einem anderen, der auf einer Aluleiter stand, das Schild mit dem Logo des neuen Mieters, das über dem Eingang angebracht werden sollte.

»Scheiß-McDonald’s!«, schrie der Barmann, der sich schon kurz vor dem Bankrott sah.

In dem Moment krachte der erste Donner und der Bauarbeiter auf der Leiter erstarrte, das Schild um neunzig Grad gekippt.

Ich sah es und traute meinen Augen nicht.

Seltsam, wie Ihre Mutter das m geschrieben hat.

Es war in der Tat seltsam. So seltsam, dass ich es erst nach dreizehn Jahren und den Flüchen des Barmanns verstand. Mama hatte ihr Versprechen gehalten und Erkundigungen eingezogen. Und sie hatte ihre Notizen ganz bewusst verschlüsselt.

Um dich zu schützen, falls du sie liest, Mike. Leider hat sie damit ungewollt dreizehn Jahre lang den Mörder gedeckt und auch noch Debbie, Anita und Claudia in den Tod geschickt.

Die ersten Regengüsse gingen nieder. Der Hunger war mir vergangen. Jetzt empfand ich nur noch Zorn. Die alte Wut und das Adrenalin brachten mein Blut in Wallung.

Jetzt weißt du alles und kannst trotzdem nichts tun. Du hast nicht den Ansatz eines Beweises. Dieses merkwürdige m war ein E… Und ich habe Mohammed noch gefragt, ob Nadia jemanden kennt, dessen Name mit M beginnt …

Der Lärm aus dem Viertel drang zu mir herein, gedämpft vom pladdernden Regen im Hintergrund. Autos, Mofas, lautstarke Grüße und in der Ferne immer noch Donnergrollen. Der Alltag ging weiter, dem Regen und allem anderen zum Trotz. Das ganz normale Leben, das all diesen jungen Frauen genommen worden war.

Mit Zigaretten und Kaffee überließ ich mich meinen trüben Gedanken.

All das hätte ich schon damals sehen können, dann wäre meine Mutter vielleicht nicht gestorben. Ganz sicher aber wären Deborah Reggiani, Anita Messi und Claudia Teodori nicht gestorben. Es jetzt zu sehen, nützte allerdings nichts mehr. Ich hatte keine Beweise, um dafür zu sorgen, dass der Mörder verhaftet und verurteilt wurde.

Es klingelte an der Tür. Ein Bote brachte eine Eilzustellung.

Ich habe dir auch ein Geschenk geschickt. Das bekommst du aber nach Hause.

Ich riss dem Boten das Päckchen aus der Hand, unterschrieb die Quittung und schlug ihm mit einem knappen Dankeschön die Tür vor der Nase zu.

Das Päckchen war rosa und völlig schnörkellos. Während ich es vorsichtig auspackte, dachte ich an Claudia, die keine verwöhnte Göre, keine Schlampe und auch keine karrieregeile Minderbegabte gewesen war. Es war Michele Balistreris Brille, die alle Frauen zu solchen Figuren deformierte, ein Geschenk von Marlene und Laura Hunt.

Als ich das Papier entfernt hatte, hielt ich einen kleinen Kalender und ein Täschchen mit Reißverschluss in der Hand.

In Deborah Reggianis Kalender war die Seite mit dem Buchstaben E eingeknickt. Die Eintragung Er samt der Telefonnummer, die ich bestens kannte, war eingekringelt.

In dem Täschchen fand ich schließlich das Geschenk, das Claudia angekündigt hatte.

Das Geschenk war ein Leben. Ihr Leben. Das Leben der unschuldigen Opfer.

Claudia Teodori war ein unglaublich mutiges Mädchen. Fast eine Heldin, eine Märtyrerin.

Ein Zettel lag dabei, beschrieben mit ihrer geschwungenen, kindlichen Schrift.

Von Claudia für Michele. Glaub an das Unmögliche. Tu es für mich.

Ich weinte und lachte, lachte und weinte.

Ja, das Unmögliche war möglich.

Ich rief bei meinem Vater in Isola delle Femmine an. Nur vierundzwanzig Stunden zuvor war ich bei ihm gewesen und hatte ihn aus Italien verjagt. Eine freundliche Stimme antwortete mir. Es war der Alte, der mich am Tag zuvor empfangen hatte.

»Dein Vater ist in Rom, Michè. Er wohnt im Excelsior. Er ist gestern gleich nach der Pressekonferenz abgereist.«

»Aber vor dem meinen gab es doch gar keinen Flug nach Rom«, sagte ich.

»Salvo hat doch einen Privatjet, Michè.«

Klar. Der Cavaliere del Lavoro Salvatore Balistreri hatte es nicht nötig, wie andere Normalsterbliche auf die Maschinen der Alitalia zu warten. Papa war also direkt mit seinem eigenen Flugzeug nach Rom geflogen und bestimmt noch vor mir angekommen, vielleicht sogar am Flughafen Ciampino, der näher an der Stadt lag als Fiumicino.

Ich rief im Excelsior an. Sie verbanden mich mit einem Sekretär, der mich an meinen Vater weiterreichte.

»Du hast mir zwei Wochen gegeben, Michele. Ich bin in Rom, um vor meiner Abreise noch einiges zu organisieren. Mein Flug für den 6. Februar ist schon gebucht.«

»Ich rufe nicht an, um dich zu drängen. Mir ist klar, dass du dich an dein Versprechen halten wirst, weil ich die Pressekonferenz gesehen habe.«

Und weil du dafür gesorgt hast, dass ich Palermo lebendig verlassen kann.

Mein Vater sagte nichts. Er wartete auf meine Frage. Ich hätte ihn fragen können, was er nach seiner Landung in Rom als Erstes getan hatte. Ob er Claudia Teodori jemals begegnet war. Aber darum ging es jetzt nicht. Es ging um Nadia al-Bakri.

»Don Eugenio hat deine Version vom 3. August 1969 bestätigt. Ihr wart an diesem Morgen allein bei Dino Forte, ohne Busi. Auch er hat Farid hinten aus unserem Kleinbus herausspringen sehen. Genau, wie du gesagt hast.«

»Ja, er ist mitten in diesem Sandsturm aus eurem Auto gestiegen und in Richtung Markt gerannt, Mike …«

Ich schnitt ihm das Wort ab. »Gestern habe ich dich nach den Nastasias gefragt. Hast du das irgendeinem deiner Gäste erzählt? Busi und Don Eugenio sind sicher mit dir in deinem Jet zurückgeflogen, oder?«

»Ja, warum?«

»Weil die Nastasias nach Palermo gekommen waren, um mich umzubringen. Aber nach unserem Gespräch haben sie es sich anders überlegt.«

»Was mich sehr freut, Michele.«

Ja, das glaube ich dir sogar. Du hast sie schließlich selbst davon abgehalten. Heute wird das allerdings anders sein.

»Aber irgendwer muss sich zu Tode erschrocken haben. Die Nastasias sind nach Rom zurückgekehrt, und noch in der Nacht wurde eine Obdachlose verbrannt, die eine wichtige Zeugin in diesem Fall war. Wusstest du das?«

Das folgende Schweigen war kürzer, aber massiver.

Er trifft eine Entscheidung.

»Pass auf dich auf, Mike.«

Die Verbindung wurde unterbrochen. Ich hatte meine Antwort. Es gab nichts mehr zu sagen.

Inzwischen waren die Nastasias wohl instruiert worden.

Schluss mit Michele Balistreri. Ein für alle Mal.

Bis zum Abend würde ich entweder tot sein oder wieder zu leben anfangen. Alles war besser als das, was aus mir geworden war. Ein bird on the wire, der kleine Vogel auf der Leitung in dem Lied von Cohen, weder Junge noch Mann. Es wurde höchste Zeit, das zu ändern.

Nur ein paar Stunden war es her, dass ich Nico unterstellt hatte, Deborah Reggiani, Anita Messi und Claudia Teodori ermordet zu haben, obwohl ich wusste, dass er es unmöglich getan haben konnte. Es hatte mich aber weitergebracht. Nico war zusammengebrochen und hatte zugegeben, dass er die Nastasias kannte und im Fernsehmilieu Drogen vertickte. Aber der eigentliche Knackpunkt war Nadia al-Bakri. Wer sie getötet hatte, wusste ich mittlerweile, aber ich wollte noch eine Antwort auf meine andere Frage, und die konnte mir nur einer geben.

Wer hat Italia von der Klippe gestoßen?

Ich rief ihn in seiner Agentur an der Piazza Navona an. Er ging dran, seine Stimme klang unsicher.

»Ich muss dich sehen, Nico.«

Sofort war er wieder besorgt.

»Willst du mich wegen Dealerei verhaften, Mike?«

»Nein. Ich brauche eine Information, die nur du mir geben kannst.«

»Ich bin auf dem Weg ins Polizeipräsidium. Der Untersuchungsrichter will mich noch einmal zu der Beziehung von Claudia Teodori und Dino Forte befragen. Nach seinem Selbstmord gehen alle davon aus, dass er es getan hat.«

Ich sagte nichts, und Nico wurde nervös.

»Mike, du weißt ganz genau, dass ich Claudia nicht umgebracht habe.«

»Ich weiß, Nico. Du warst es nicht.«

Niemand wusste das besser als ich, weil ich noch mit Claudia telefoniert hatte, als Nico längst auf dem Kommissariat war. Und wenn mir noch irgendein Zweifel geblieben wäre, hätte spätestens Claudias Geschenk ihn ausgeräumt.

Nico hat sie nicht getötet. Aber er besitzt den Schlüssel zum Geheimnis des August 1969.

Das Motorrad hatte ich unten in der Tiefgarage, die über den Keller erreichbar war, abgestellt. Die Ausfahrt befand sich auf der Rückseite des Hauses, und selbst wenn die Nastasias dort auf mich warteten, würde ich sie im nachmittäglichen Berufsverkehr ohne Schwierigkeiten abhängen können. Bei Dunkelheit und Regen verwandelte sich Rom in ein undurchdringliches Verkehrsknäuel.

Ich ging in die Bar unten an der Ecke und legte es darauf an, dass mich die Nastasias dort sahen. In der Bar tummelten sich die üblichen Stammgäste aus dem Viertel, die über die Fußballspieler von AS Rom und Lazio Rom diskutierten und sich die Mittagspause vertrieben.

Ich diskutierte ein bisschen mit. Zu essen rührte ich nichts an. Stattdessen trank ich gleich mehrere Espressi und rauchte entsprechend viele Zigaretten, die mir in Kehle und Magen brannten. Gegen drei ging ich gemächlich im Regen heim. Der schwarze Jaguar, der unübersehbar mitten auf dem Gehweg vor meiner Haustür stand, war leer.

Schluss, ein für alle Mal.

Um halb sechs, viel zu früh, brach ich auf. Ich schob die geladene Beretta unter die Lederjacke und ging hinunter in die Tiefgarage. Claudias Geschenk und eine Mappe mit ein paar Dokumenten verstaute ich in der Seitentasche meiner Triumph. Dann setzte ich den Helm auf und fuhr los.

Draußen war es schon dunkel, und es goss in Strömen. An der Ausfahrt der Tiefgarage hefteten sich zwei Nastasias auf einer schweren Maschine, einer Laverda 750, an meine Fersen und folgten mir aus Garbatella heraus und dann über die Colombo in Richtung Appia Antica. Offenbar hatte ich sie unterschätzt, auf diesem Gebiet erfreuten sie sich jahrelanger Erfahrung. Den Jaguar hatten sie nur vor meinem Haus abgestellt, um mich in Sicherheit zu wiegen. In Wirklichkeit hatten sie sich längst mit ihren Motorrädern an allen Ausfahrten postiert, um meine Verfolgung aufnehmen zu können. Der dritte wartete bestimmt vor meiner Haustür.

Sie schienen nicht geneigt, viel Zeit mit der Vortäuschung eines komplizierten Unfalls zu vergeuden.

Sie werden mich einfach erschießen.

Nach einem spontanen Richtungswechsel fuhr ich die Colombo stadteinwärts. Die erste Ampel nahm ich mit hundertdreißig Sachen bei Gelb, und trotzdem klebte mir die Laverda weiter an den Fersen. Die anderen Ampeln bis zum Viale delle Terme di Caracalla standen alle auf Grün. Ich verlangte meiner Triumph alles ab und schlängelte mich im Zickzack zwischen den Autos hindurch, doch der Scheinwerfer der Laverda wollte nicht aus meinen Rückspiegeln verschwinden.

Mit Sicherheit war die lang gestreckte Kurve um das Kolosseum herum mit Autos vollgestopft. Wenn ich dort abbremsen musste, würde der Killer auf dem Rücksitz bestimmt versuchen, mich zu erschießen.

Am Konstantinsbogen verlangsamte ich das Tempo und zog die Pistole unter der Jacke hervor. Die Rücklichter der Autos, die am Kolosseum im Stau standen, sah ich schon, während die Maschine mit den Nastasias immer näher kam.

Plötzlich tauchte in meinem Rückspiegel hinter der Laverda der Scheinwerfer eines weiteren Motorrads auf. Modell und Motorengeräusch kannte ich: eine Kawasaki 900. Dann hörte ich den Feuerstoß, trocken, kurz, präzise.

Kawasaki und Kalaschnikow. Das Markenzeichen.

Die Nastasias stürzten auf den regennassen Asphalt, während die Laverda unkontrolliert auf die stehenden Autos zuraste und gegen einen Reisebus krachte. Ich hielt fünfzig Meter weiter an. Die Kawasaki stand nun neben den beiden leblosen Körpern.

Der Mann, der mit der Kalaschnikow in der Hand auf dem Rücksitz saß, gab eine weitere Salve auf die Nastasias ab. Dann machte die Kawasaki eine jähe Kehrtwende und verschwand wie eine Rakete im Verkehrsgetümmel in Richtung Cestiuspyramide und Via Ostiense.

Sie haben die Porträtzeichnerin auf Befehl ihres direkten Vorgesetzten, des Mörders, getötet. Gegen den Willen der eigentlichen Bosse allerdings, und das hat irgendwem gar nicht gefallen.

Ich wendete meine Triumph ebenfalls, aber ich dachte nicht im Traum daran, der Kawasaki zu folgen. Für mich gab es keinen Zweifel, dass auch der dritte Nastasia längst von den Kugeln einer Kalaschnikow durchsiebt worden war.

Unterm Strich ist auch das eine Art von Gerechtigkeit.

Ich fuhr in Richtung Appia Antica. Zu meiner Verabredung mit Nico und dem Pakt der Mank, dem Pakt aus Sand und Blut.

In der Via Appia parkte ich das Motorrad auf einem Platz ein paar Hundert Meter vor Nicos Villa. Die Temperatur war nicht unter null, aber durch den feuchten Regen fühlte sich die Luft eiskalt an.

Von meinem letzten Besuch wusste ich, dass die Alarmanlage nur die Villa, nicht aber den Park ringsum schützte. Und auch nicht die Garage.

Die rückwärtige Mauer war fast zu leicht zu überwinden. Im Park gab es nichts zu stehlen, und der Ferrari Mondial war gut versichert. Wie vermutet war das Garagentor unverschlossen.

Der rote Fiat 850 T mit der Aufschrift Mank und dem Poster von Barbra Streisand stand neben dem Ferrari. Ich öffnete die Heckklappe und zog Überschuhe, Handschuhe und Plastikhaube an. Dann tauchte ich in die Vergangenheit ein.

Alles war genau wie früher. Die nackten Playmates, das Matratzenlager, auf dem es Nico an der Esso-Tankstelle mit den Nutten getrieben hatte, und an der Seitenwand das von Ahmeds Messer durchlöcherte Poster.

Es wird nicht einfach gewesen sein, den Kleinbus aus Tripolis herauszubekommen. Uns hat Gaddafi nicht einmal die Matratzen gegönnt, aber du hattest einen Beschützer, Nico. Einen sehr einflussreichen Beschützer. Den hattest du zeit deines Lebens.

Ich musste vorsichtig sein und alles mit den Augen abtasten statt mit den Händen. Wut spürte ich nicht in mir aufsteigen, stattdessen senkte sich eisige Kälte auf mich herab. Es war dieselbe Kälte, mit der Ahmed und ich in Kairo drei junge Männer abgestochen hatten. Mit der ich Salim und den Löwen erschossen hatte. Mit der wir dem Dobermann des Maltesers die Augen ausgestochen hatten.

Ich kletterte wieder über die Mauer, holte die Aktenmappe aus der Seitentasche meines Motorrads, ging zum Tor des Anwesens und klingelte. Nico trat vor die Tür, um mir zu öffnen, in Hemd und Jeans, als könnte die nassfeuchte Kälte ihm nichts anhaben. Er hatte dunkle Ränder unter den Augen, war aber rasiert und wirkte im Vergleich zu gestern einigermaßen gefasst. Er schien weder eingeschüchtert noch gewillt, sich erneut irgendwelche Unterstellungen anzuhören.

Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Von den Sesseln hatte man einen guten Blick auf den vom Regen sauber gewaschenen Park und die kahlen Äste der Bäume. Er bot mir nichts zu trinken an, und ich hatte auch keine Zeit mehr zu verschwenden. Ich nahm die Mappe und zog das Foto heraus.

Eine kleine, dunkle, schlammverkrustete Hand mit eingerissenen Fingernägeln. Ohne Mittelfinger.

Ich drehte es um, damit Nico einen Blick darauf werfen konnte.

»Ist das die Hand von dieser Anita Messi?«

»Schau mal genauer hin.«

Er musterte sie schweigend. Und in diesem Schweigen breitete sich nach und nach der Argwohn in ihm aus, wie schleichendes Gift im Blut. Fasziniert betrachtete Nico das Foto von der Hand.

»Ist es nun die von Anita Messi oder nicht?«, fragte er mit einem ersten Anflug von Besorgnis.

»Nein, Nico. Das ist die Hand von Nadia al-Bakri, die am 3. August 1969 in Tripolis ermordet wurde.«

Am Abend zuvor, als ich ihm vorgeworfen hatte, Anita, Debbie und Claudia getötet zu haben, hatte er keine Angst bekommen. Diesmal huschte ein Schatten über sein Gesicht, der von viel weiter herkam.

Du hast es jetzt nicht mehr mit Commissario Balistreri zu tun, sondern mit Mike. Und der macht auch seine Freunde kalt, wenn sie ihn verraten.

Er lächelte mich an. Hinter diesem Lächeln verbarg sich die freche Überheblichkeit eines Verrückten. Als könnte die Aufdeckung des teuflischen Plans, mit dem Farid und er Nadia entführt und getötet hatten, seinem einstigen Freund und Boss der Mank endlich vor Augen führen, wie sehr er ihn unterschätzt hatte. Im Übrigen wusste er, dass er nicht viel zu befürchten hatte, da der Fall Nadia al-Bakri einer anderen Gerichtsbarkeit unterstand.

»Bravo, Mike. Obwohl du ziemlich lange gebraucht hast. Wie hast du es herausgefunden?«

»Mein Vater und Don Eugenio haben gesehen, wie Farid mitten im Sandsturm hinten aus unserem Kleinbus heraussprang. Aber sie haben das nicht für wichtig erachtet, weil alle den Hirten Jamaal für den Täter hielten.«

»Aber entschuldige mal, Jamaal ist schließlich mit Nadia in der Nähe der Ölmühle gesehen worden, oder nicht?«

»Ja. Darüber habe ich lange nachgedacht. Und als ich daran zu zweifeln begann, ob Farid zur Tatzeit wirklich auf dem Markt war, warf diese verdammte Zeugenaussage alles wieder über den Haufen.«

»Aber jetzt hast du es verstanden?«

Ich deutete zum Fenster. In der Dunkelheit und im strömenden Regen konnte man kaum etwas erkennen.

»Damals hat es nicht geregnet, aber überall war Sand. Sonst hätte Farid nicht einmal einen halb blinden Hirten täuschen können, als er sich als Nadia verkleidet hat.«

Nico lächelte selbstzufrieden und deutete Applaus an.

»Sehr gut, Mike. Du bist ein bisschen schwer von Begriff, aber besser spät als nie.«

»Warum, Nico? Mit diesen beiden Schweinen!«

»Farid und Salim hatten ihre eigenen Gründe. Nadia hatte sie Jahre zuvor mit dem dunkelhäutigen Mädchen und ihrem Baby gesehen.«

»Die sie dann in die Jauchegrube gestoßen haben.«

»Nicht sofort, Mike. Erst wurden sie gemeinsam erhängt. Sie waren schon tot, als sie in der Jauchegrube landeten.«

»Und du, Nico? Was hatte Nadia dir getan?«

Er zuckte mit den Schultern und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

»Ich hab’s mal bei ihr versucht, aber sie hat mich zum Teufel geschickt. Diese widerliche kleine Araberin hat mir sogar den Stinkefinger gezeigt. Wenn sie das diesem Psychopathen von Ahmed gepetzt hätte, wäre ich geliefert gewesen. Also habe ich mich von Farid und Salim überreden lassen, ihnen zu helfen.«

»Nadia hatte aber mit meiner Mutter gesprochen. Über die dunkelhäutigen Mädchen und über deinen Annäherungsversuch.«

Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache.

»Woher weißt du das?«

»Aus den Notizen, die Italia hinterlassen hat. Sie kannten sich und m kontrollieren

»Soll das ein Quiz werden?«

»So etwas in der Art, Nico. Meine Mutter hat ihre Notizen verschlüsselt, für den Fall, dass ich sie in die Hände bekommen sollte.«

»Mag ja sein, aber was hab ich damit zu tun? Mit Sie kannten sich sind die beiden Dunkelhäutigen und Farid und Salim gemeint, oder nicht?«

»Ja, Nico. Aber das m bezieht sich auf dich.«

»Das m? Was redest du da für einen Blödsinn?«

Ich zog die Fotokopie des karierten Blatts hervor und zeigte sie ihm.

»Siehst du, wie das m geschrieben ist, mit den zwei geschwungenen Bögen? Das ist nicht der Anfangsbuchstabe eines Namens, Nico. Schau genau hin.«

»Sieht aus wie das Logo von McDonald’s.«

»Genau, Nico, so ist es!«

Ich drehte das Blatt ein Stück gegen den Uhrzeigersinn.

»Und was ist es jetzt?«

Er dachte kurz nach.

»Mist! Das E von Esso!«

»Richtig. Deine Esso-Tankstelle, Nico. Du warst derjenige, den meine Mutter kontrollieren wollte.«

»Stimmt, sie kam zu mir und hat mir ein paar Fragen gestellt.«

»Hast du sie deshalb von der Klippe gestoßen?«

Nico wurde kreidebleich. Es war wie bei meinem Vater. Sogar jemand wie Nico Gerace, der so viele Frauen auf dem Gewissen hatte, empfand die Unterstellung, Italia getötet zu haben, als beschämend.

Er schüttelte heftig den Kopf und hatte offenbar panische Angst, dass ich ihn massakrieren könnte.

»Nein, Mike. Ich habe Farid geholfen und ihn in unserem Bus mitgenommen, aber deine Mutter habe ich nicht angerührt. Das schwöre ich bei Santuzza.«

Ich blickte ihm in die Augen. Er würde nie beim Namen seiner Mutter schwören, wenn er log. Italias Tod war nicht sein Werk.

Aber da waren die vielen anderen.

Tu es für mich, Mike. Und für Nadia, für Debbie, für Anita. Und für dich. Gerechtigkeit.

»Du kommst mit mir, Nico. Du bist verhaftet.«

Er lachte. Ihm ging auf, dass ich ihn nicht kaltblütig hinrichten wollte. Was Anita und Debbie betraf, wusste er, dass ich nur Indizien hatte. Und dass ich mehr auch nicht finden würde.

»Du willst mich wegen der Ermordung einer dreckigen Araberin in dieser Sandkiste vor dreizehn Jahren verhaften?«

»Nein, ich verhafte dich wegen des Mordes an Claudia Teodori.«

»Red keinen Schwachsinn, Mike. Als ich von ihr weggegangen bin, hat sie noch gelebt, das weißt du genau. Du hast selbst gesagt, dass du noch mit Claudia telefoniert hast, als ich schon bei Capuzzo auf dem Kommissariat war. Und ich habe mich nicht von der Stelle gerührt.«

»Na so was. Ich kann mich gar nicht erinnern, mit Claudia telefoniert zu haben, Nico.«

Er starrte mich fassungslos an.

»Was erzählst du da?«

»Ich erinnere mich nicht. So wie du dich nicht daran erinnerst, Anita und Debbie getötet zu haben.«

»Was Claudia angeht, hast du keinen einzigen Beweis.«

Ich zeigte ihm Debbies Kalender.

»Hier steht deine Privatnummer drin. Unter E wie Er mit großem E.«

»Toller Beweis. Du hast nichts in der Hand. Weder zu Claudia noch zu Debbie noch zu Anita.«

»Bei Anita warst du wirklich clever, Nico. Du hast sie zu Dino Fortes Porträtistin gebracht, dieser armen Charmene. Vermutlich hast du ihr einen saftigen Preis dafür gezahlt, dass sie Anita porträtiert und das Bild aushängt. Und dann hast du mich ganz zufällig daran vorbeigeführt, damit ich es sehe und Dino Forte verdächtige.«

»Alles Blödsinn. Gehen wir doch zu Charmene und fragen sie. Na los!«

Das war also aus Nico Gerace geworden. Der kleine Gauner aus Tripolis war jetzt ein erbarmungsloser Mörder.

»Die haben deine Freunde, die Nastasias, längst kaltgestellt, Nico. Auf deinen Wunsch.«

Nico sah instinktiv zum Eingangstor der Villa hinüber.

»Die Nastasias werden nicht kommen, Nico. Die sind tot.«

Er sah mich schockiert an.

»Was?«

»Tot, Nico. Kawasaki und Kalaschnikow. Zio Tano war wohl nicht damit einverstanden, dass sie die arme Obdachlose umgebracht haben.«

Er ging langsam zu seiner Hausbar hinüber und hantierte beim Einschenken des Whiskys umständlich mit den Eiswürfeln und den Gläsern herum, um zu verbergen, dass er sich im Rücken eine Pistole hinter den Gürtel schob.

Offenbar hatte er beschlossen, dass es an der Zeit sei, mich auf die Probe zu stellen.

»Na gut, Anita und Debbie habe ich umgebracht. Aber du hast keinen einzigen Beweis. Und mit Claudias Tod habe ich nichts zu tun, das weißt du.«

»Und wer war es dann?«

»Das weißt du genau. Das hat diese Schlampe absichtlich gemacht.«

»Was hat sie absichtlich gemacht, Nico?«

»Alles, Mike, alles. Sie hat mich nach Hause gelockt und alles geplant, das mit dem Koks, das mit dem Messer, das mit dem Sex. Und dass sie mich mit diesem Zettel, auf dem überhaupt nichts stand, ins Kommissariat geschickt hat.«

»Da stand der Name des Mörders drauf, Nico.«

»Von wegen! Sie hatte nur irgendeinen Mist hingekritzelt. Tu es für mich!«

Genau. Tu es für mich.

Es war Zeit, Nico Gerace zu erledigen.

»Wir haben einen Beweis, der dich hundertprozentig festnagelt.«

Er geriet ins Wanken, war sich seiner Sache aber immer noch einigermaßen sicher.

»Dann zeig mir deinen beschissenen Beweis doch mal!«

Ich zog ein Foto aus der Aktenmappe und hielt es ihm hin. Es war eine Aufnahme von Claudias Leiche. Ihre linke Hand mit dem fehlenden Mittelfinger war deutlich zu erkennen.

Nico starrte es ungläubig an, und in seinen Augen spiegelten sich erst Zweifel, dann Bestürzung, Wut und Angst.

»Unmöglich, das kann nicht sein«, lispelte er wie früher.

Glaub an das Unmögliche, Michele. Tu es für mich.

Claudia Teodori hatte mir den Mörder von Debbie und von den anderen Mädchen ausgeliefert. Diese junge Frau, die ich immer für ein Flittchen gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine Heldin und hatte sich für die Gerechtigkeit geopfert.

Sie hatte nur eines von mir verlangt. Tu es für mich.

»Oh doch, Nico, und ob das sein kann. Dieser Finger wird dir zum Verhängnis werden.«

Er starrte mich an. Dann deutete er auf die helle Linie an seinem und meinem Handgelenk.

»Du kannst mir doch kein Verbrechen anhängen, das ich nicht begangen habe. Du bist Polizist. Wir haben vor vielen Jahren einen Blutspakt geschlossen, erinnerst du dich?«

»Ich bin Polizist, aber ich bin auch Mike. Und dieser Pakt war hinfällig, als du dich in Tripolis an meine Feinde verkauft und mich daran gehindert hast, Gaddafi zu töten. Du warst der Verräter, nicht Ahmed.«

Nico Geraces Gesicht verwandelte sich in eine Maske aus Wut und Hass.

»Ahmed, dein Liebling. Und ich zählte gar nichts, Mike, nicht wahr? Aber wenn Don Eugenio damals dich an meiner Stelle dabehalten hätte …«

»Ist das der Grund, warum du das alles ausgesponnen hast? Hast du mir deshalb in Barcelona deine Visitenkarte gegeben und die Nastasias auf mich angesetzt? Gehörte das alles zu deinem Racheplan? Wolltest du den Zorn der Brüder meines Vaters auf mich lenken?«

Er starrte mich an, als müsse ich den Grund für all seinen Hass kennen. Und er hatte recht.

Seit ich dich an meiner Stelle in den Händen von Don Eugenio zurückließ, seit diesem Moment waren wir keine Freunde mehr.

In der Ferne heulte das Martinshorn auf. Capuzzo war pünktlich wie immer.

Ich stand auf. Mir blieben wenige Minuten, mehr nicht.

»Die Polizei ist auf dem Weg. Und der Finger ist hier. Ich habe ihn vorhin im Mank-Bus versteckt, in dem Farid seine Schwester getötet hat.«

Nico sprang auf, und ich sah, wie er hinter seinen Rücken griff. Und diesmal war seine Pistole geladen.

Ich warf mich zur Seite und ließ ihn zuerst schießen. Aber er hatte keine Chance.

In diesem Film war ich der Gute und er der Böse.

Der Untersuchungsrichter und der Leiter der Mordkommission waren alles andere als gut gelaunt, als sie am Tatort erschienen. Dabei hatten sie die Schießerei in der Innenstadt, bei der die Nastasias um Leben gekommen waren, noch gar nicht mit Nico Gerace in Verbindung gebracht.

Meine Erklärung war einfach. Ich hätte meinen alten Freund Nico Gerace besucht, um ihn zu fragen, was Claudia Teodori ihm erzählt habe. Weil ich ihm Vorwürfe gemacht hätte, sei das Gespräch bald unangenehm geworden. Der Gebrauch der Pistole, mit der mir Nico einen Streifschuss an der Schulter verpasst hatte, habe es gerechtfertigt erscheinen lassen, mich zu verteidigen.

Ich erklärte, nichts davon zu wissen, dass die drei Nastasias zwei Stunden zuvor ermordet worden seien. Was im Grunde ja auch stimmte. Ich sagte, sie hätten für Nico Gerace gearbeitet und er habe mir gegenüber eingeräumt, dass sie ihm geholfen hatten, Anita Messi und Deborah Reggiani zu töten. Was absolut der Wahrheit entsprach.

Der Untersuchungsrichter und der Leiter der Mordkommission wirkten nicht sehr überzeugt, doch im Laufe der langen Nacht klärten sich ein paar Dinge. Marybelle, die Transsexuelle, bestätigte Dino Fortes Alibi. Ein Zeuge hatte beobachtet, wie die Nastasias die arme Porträtmalerin angezündet hatten. Der Barmann des Tre Peccati knickte ein und offenbarte, dass die Nastasias mit Nico Gerace bekannt waren.

Während der Hausdurchsuchung fand die Spurensicherung Blutspuren von Anita Messi im Mank-Bus. Und in einem Kühlbeutel fand sie den Mittelfinger von Claudia Teodori.

Im Morgengrauen gratulierte mir der Untersuchungsrichter, leicht verbissen.

»Na dann, Glückwunsch, Balistreri. Sie haben uns davor bewahrt, im Fall Dino Forte eine ziemlich erbärmliche Figur abzugeben.«

Der Blick, den der Leiter der Mordkommission mir zuwarf, spiegelte eine Mischung aus Bewunderung und grimmigem Amüsement.

»Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, Balistreri, aber aus dir wird mal ein großer Polizist.«

Costantini R.,Die Saat des Bösen
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