Montag, 15. September 1969

Der Verkehr in Tripolis hatte wieder zugenommen, und die Ausländer waren zurückgekehrt. Die halbe Welt hatte das neue Regime anerkannt und schickte seine Botschafter, um diesen jungen Gaddafi kennenzulernen. Nur an den Straßenschildern war eine Veränderung zu erkennen. Die italienischen Namen waren verschwunden. Der Corso Vittorio Emanuele hieß nun nur noch Sciara Istiklal, die Piazza Italia nur noch Maydan as-Suhada und so weiter.

Im Radio war die Einrichtung eines offiziellen Regierungsorgans unter Führung von Oberst Gaddafi verkündet worden. Dieser Revolutionäre Kommandorat bestand ausschließlich aus Soldaten. Als Vertreter der Zivilbevölkerung wurde ein einziges externes Mitglied in den Rat aufgenommen, das allerdings nicht an den Versammlungen teilnehmen durfte. Diese Person, die namentlich nie genannt wurde, stand Gaddafi hinter den Kulissen zur Seite.

Mit kaltem Nieselregen verabschiedete sich Rom vom Sommer und ging in den Herbst über. In der Galleria Alberto Sordi und der großen Bar Berardo vor dem Parlament und auf der Piazza Colonna herrschte Gedränge. Mit Schirmen und Regenjacken schoben sich die Römer über die Gehsteige und in die Geschäfte in der Via del Corso. Viele strömten ins Kaufhaus Rinascente.

Begleitet von Don Eugenio und Busi betrat Salvatore Balistreri durch einen Privateingang den Senat und ließ sich von einem Amtsdiener zu den Diensträumen des Präsidenten führen.

Der Raum war groß und schmucklos, aber gemütlich. Die Sekretärin bot ihnen Kaffee an.

Der Präsident kam einige Minuten später durch eine kleine Seitentür. Salvatore Balistreri kannte ihn nur aus Zeitung und Fernsehen. Ein unauffälliger, zurückhaltender Mann, der nicht viele Worte machte, aber sehr viel mächtiger war als der Ministerpräsident.

Balistreri ging einen Schritt auf ihn zu und stellte sich vor. Er hatte seine Kleidung sorgfältig ausgewählt.

Unaufdringlich und dezent, hatten ihm Don Eugenio und Busi geraten.

Ein Priester in einer abgewetzten schwarzen Soutane und ein Kommunist, der seine ärmliche Garderobe wie eine Fahne vor sich hertrug, hatten leicht reden. Er aber war anders, er war Salvatore Balistreri und würde eines Tages ein erfolgreicher Unternehmer und ein mächtiger Mann sein.

Er hatte auf Markenkleidung verzichtet und sich mit einem perfekt geschnittenen dunkelgrauen Jackett begnügt, dazu ein weißes Hemd und eine nachtblaue Krawatte. Am Revers trug er zum Zeichen der Trauer einen schwarzen Knopf.

Der Präsident streckte ihm die Hände entgegen.

»Mein aufrichtiges Beileid, Ingegnere. Ihre Gattin war eine außergewöhnliche Frau.«

Balistreri meinte eine Warnung aus diesen Worten herauszuhören.

»Vielen Dank, Presidente«, antwortete er vorsichtig.

»Glauben Sie an Gott, Balistreri?«

»Selbstverständlich, Presidente.«

Der Präsident ließ seine Hände wieder los.

»Gut, dann werden wir uns leichter verstehen.«

Er wandte sich an Busi.

»Im Abgeordnetenhaus ist alles in Ordnung, wie mir scheint.«

Busi nickte.

»Ja, bestens. Heute hat Moro verkündet, dass Italien mit Gaddafis Regierung zusammenarbeiten muss. Ihm wurden nur absolut beruhigende Informationen zugespielt.«

»Was ist mit den Ägyptern?«, erkundigte sich der Präsident bei Balistreri.

Balistreri war ein bisschen aufgeregt und sehr stolz. Dieser allmächtige Mann war sein Vorbild, die Quintessenz seiner Philosophie, seit er ein Junge war.

»Alles in Ordnung. Im Revolutionsrat sind mehr proägyptische Mitglieder als propalästinensische. Unser Mann steht in täglichem Austausch mit den Ägyptern, sie unterstützen Gaddafi.«

Der Präsident trank einen Schluck Wasser.

»Nasser wird als Gegenleistung für diese Unterstützung einiges verlangen. Was wissen Sie darüber, Ingegnere?«

Balistreri erinnerte sich gut, was Mohammed ihm nach einem Treffen mit den Abgesandten von Nasser berichtet hatte.

Wir wollen Häuser und Arbeitsplätze. Sofort. Kein Erdöl für einen weiteren Krieg.

»Möglicherweise«, sagte er langsam, »werden da gewisse Tauschgeschäfte nötig werden.«

Der Blick, mit dem der Präsident ihn musterte, machte Balistreri klar, warum dieser farblose Mann so geachtet und gefürchtet war. Plötzlich fühlte er sich nackt vor ihm.

»Tauschgeschäfte, die für die in Libyen lebenden Italiener sehr schmerzhaft sein könnten«, fuhr der Präsident fort.

»Es handelt sich um zwanzigtausend faschistische Ex-Siedler«, mischte Busi sich ein, »die den Interessen von fünfzig Millionen antifaschistischen Italienern im Weg stehen.«

Der Präsident würdigte ihn keines Blickes. Er wusste nur zu gut, dass es sich bei diesen fünfzig Millionen antifaschistischen Italienern meist um Menschen handelte, die Mussolini nur den Rücken gekehrt hatten, weil der Krieg einen schlechten Verlauf nahm. Und jemandem Leid zuzufügen, behagte ihm, der aufrichtig an den Allmächtigen glaubte, ganz und gar nicht. Für solche Skrupel hatten Atheisten kein Verständnis.

»Ich hoffe doch sehr, dass wir da eine bessere Lösung finden«, sagte der Präsident kühl zu Busi. »Wir Katholiken mögen es nicht, wenn jemandem Leid zugefügt wird, nicht wahr, Balistreri?«

Der Ingegnere zögerte. Der Präsident war bekanntlich sehr raffiniert.

Macht er sich wirklich Sorgen um die zwanzigtausend Italiener in Libyen? Oder stellt er mich nur auf die Probe?

Busi war nicht erfreut über diese Bedenken. Das war nichts als die alte Leier der Katholiken, die sich Vorteile verschaffen wollten, ohne ihr Gewissen zu kompromittieren.

»Presidente, Sie wissen doch: Für die Eni ist eine Einigung unabdingbar, damit sie damit beginnen kann, das riesige Erdölvorkommen A100 zu exploitieren. Wir reden hier nicht von persönlichen Vorteilen, sondern von Allgemeininteressen des Landes.«

Sogar Don Eugenio eilte ihm zu Hilfe.

»Presidente, Italien hat keine Alternative zu libyschem Erdöl und Erdgas. Das gesamte Öl, das wir derzeit aus Libyen importieren, wird von den Amerikanern gefördert. Wenn wir Gaddafi helfen, werden die italienischen Unternehmen ihre Energiekosten senken können und die Bürger weniger für Benzin und Heizöl zahlen. Das bedeutet Wachstum und Arbeitsplätze für Millionen von Menschen. Und Kapital, mit dem man verdienstvolle Hilfsprojekte für Bedürftige in der ganzen Welt finanzieren kann.«

Der Präsident lächelte abschätzig.

»Machen Ihre Freunde sich große Sorgen, Busi?«

Busi ließ sich nicht einschüchtern.

»Viele davon sind auch Ihre Freunde, Presidente. Sämtliche Industrielle geben Ihnen ihre Stimme.«

»Nein, Busi. Die unterstützen meine Partei nur, weil sie Angst vor euch Kommunisten haben. Sollte die Kommunistische Partei eines Tages zulegen, würden sie plötzlich entdecken, wie links sie sind. Sie können aber alle beruhigen. Wir werden keine Kriegsschiffe schicken, um Gaddafi zu bombardieren.«

Busi wollte sichergehen, alle Karten gespielt zu haben.

»Presidente, diese Verträge dienen auch der Finanzierung der …«

Der Präsident brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Er wusste sehr gut, dass ein Teil dieses Geldes sich in Schmiergeld verwandeln würde, mit dem die Parteien sich finanzierten. Damit die Politik funktionierte. Ihn daran zu erinnern, war eine ausgemachte Frechheit von diesem Extremisten. Und im Beisein von Salvatore Balistreri überflüssiger Leichtsinn.

Der Präsident sah aus dem Fenster. Er hatte sie nicht vergessen, die ersten Wahlgänge im vom Krieg verwüsteten Italien. Menschen ohne Zuhause, ohne Lebensmittel, ohne Arbeit.

Unter seinem Fenster strömten die Römer in Scharen ins Kaufhaus Rinascente mit seinen blinkenden, funkelnden Schaufenstern. Sie krochen in ihren Fiats die Via del Corso entlang und bevölkerten die Bürgersteige vor den Bars. Das war der Fortschritt, der Boom, den die Democrazia cristiana dem Land beschert hatte. Und der musste erhalten bleiben – koste es, was es wolle.

Der Präsident wandte sich an Salvatore Balistreri.

»Sie haben sich sehr für dieses Projekt eingesetzt, obwohl Sie einer dieser zwanzigtausend Italiener sind. Sie haben kürzlich Ihre Frau verloren. Und Sie glauben an Gott. Entscheiden Sie, Ihnen steht das am ehesten zu. Ich vertraue Ihrem Urteil.«

Damit stand er auf und verließ grußlos den Raum.

Salvatore Balistreri dachte einen Augenblick an die Tage, die er als Kind in Palermo verbracht hatte. Die fünf Brüder hatten sich ein Zimmer geteilt, und während er über seinen Büchern gehockt hatte, waren die anderen auf Raubzug gegangen. Nein, er konnte auf keinen Fall zurück und seinen Brüdern und ihren Freunden erklären, dass er es sich anders überlegt hatte.

Er sah Busi und Don Eugenio an, die gespannt auf seine Reaktion warteten.

»Ich denke, wir sollten unbedingt weitermachen«, sagte er leise.

Plötzlich kam ihm sein Sohn Michele in den Sinn.

Mein Gott, ich flehe dich an, dass Mike nie erfahren wird, was ich getan habe.

Costantini R.,Die Saat des Bösen
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