Mittwoch, 24. Dezember 1969

Papa und Alberto kamen am Nachmittag vor Weihnachten aus Rom nach Tripolis. Obwohl Mama und Großvater nicht mehr lebten, hing Papa immer noch der Vorstellung von einer intakten Familie nach. Womöglich träumte er davon, an der Seite seiner beiden Söhne die Mitternachtsmesse in der Kathedrale zu besuchen, wie damals, als sie noch Kinder waren. Ich war schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen, und einem gemeinsamen Abendessen stimmte ich nur zu, weil ich meinen Bruder nicht enttäuschen wollte.

Alberto nahm ein Zimmer, Papa eine Suite im Uaddan. Wir aßen im Hotel, auf der Terrasse an der Strandpromenade. In unserer Kindheit waren wir oft hier gewesen, damals allerdings mit Großvater und meiner Mutter. So vieles hatte sich verändert. Nur Papa tat so, als würden Erinnerung und Wirklichkeit nicht weit auseinanderklaffen.

An den Tischen saßen nur wenige Italiener. Von der Atmosphäre der Tanzveranstaltungen, der großen Empfänge mit Live-Orchester, der Konzerte von Pippo Baudo und Caterina Caselli war nichts geblieben. Es war viel stiller, und man sah weniger Gäste in Zivil und mehr Soldaten.

Papa hatte sich verändert. In den Monaten nach Italias Tod waren seine Haare, seine Gesichtszüge und seine Worte grau geworden. Er wirkte nicht mehr so warmherzig, als habe ihn das Leben in eine Welt geführt, in der mit härteren Bandagen gekämpft wurde.

Er erzählte uns von seinen Geschäften in verschiedenen italienischen Industriezweigen: Erdöl, Automobile, Lebensmittel. Hin und wieder entschlüpften ihm Begriffe wie joint venture und puts and calls. Vielleicht spekulierte er darauf, dass mich dieses Zeug interessieren könnte. In Wirklichkeit aber sprach er nur mit Alberto, dem das ein bisschen unangenehm zu sein schien.

Mein armer Bruder. In was für eine abscheuliche Welt mein Vater dich da hineingezogen hat.

Dann kommentierte er die Lage in Tripolis und die Tatsache, dass die Amerikaner nun auf Wheelus Field verzichten mussten.

»Aber werden die Amerikaner denn einfach so aus Libyen verschwinden?«, fragte Alberto.

Clark Gable lächelte.

»Die Amerikaner sind business men. Man wird sich schon einigen.«

Mir kamen die Worte in den Sinn, die William Hunt auf der Beerdigung meines Großvaters gesagt hatte.

Wir müssen morgen reden, Salvo.

»Und du, Papa?«, fragte ich dazwischen. »Hast du mit William Hunt geredet? Habt ihr euch geeinigt?«

Wegen Marlene Hunt.

Clark Gable erblasste leicht.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Mike.«

Aber ich wollte noch etwas anderes wissen. Etwas, das Tripolis betraf.

»Du hast unseren gesamten Immobilienbesitz verkauft, Papa. La Moneta, die Villen in Sidi el-Masri, die Olivenplantage, die Wohnungen in der Stadt. Sogar in der Gartenstadt wohnen wir zur Miete, warum?«

Meine Frage kam überraschend und war auch nicht erwünscht. Er fuhr sich durchs volle Haar und strich sich über den gepflegten Schnauzer. Dort und an den Schläfen machten sich die ersten weißen Haare bemerkbar. Die Falten in den Augenwinkeln zeichneten sich deutlicher ab, und die Augenringe waren dunkler geworden. Mein Vater wurde alt.

»Die Situation hier könnte sich verändern, Michele. Aktien von ausländischen Unternehmen sind eine Sache, Immobilien, Grundstücke und Handelsgeschäfte eine ganz andere.«

»Was soll das heißen?«

»Dass Libyen nicht uns Italienern gehört. Wir haben es eines Tages überfallen, und eines Tages müssen wir es auch wieder verlassen.«

Ich sah das von den kleinen Lichtern der Fischerboote gesprenkelte Meer. Ich sah die Kutschen auf der Strandpromenade. Ich sah Palmen, die sich im frischen Dezemberwind hin und her wiegten.

»Libyen ist unser Zuhause, Papa. Tausende von tüchtigen Menschen wie Großvater haben es aufgebaut, ohne Erdöl, ohne joint ventures und ohne puts and calls. Ich werde niemals aus Tripolis fortgehen. Übrigens läuft es hier für die Mank noch besser als in Ägypten.«

Papa sah mich schweigend an. In seinem Blick lag weder Feindseligkeit noch Ironie. Auch die alte Ablehnung, die ich immer als eine Art Verachtung empfunden hatte, war verschwunden. Sie war mit Mamas Tod gestorben.

Was blieb, war die Angst um diesen verrückten Sohn, der aus viel zu geringer Entfernung auf den Löwen geschossen hatte, und die Angst vor seinen kleinen Geschäften, die Salvatore Balistreris großen Geschäften in Libyen gefährlich werden könnten.

Vergiss nicht, dass er immer alles weiß. Er lässt dich nur gewähren, um sich deine Zuneigung zu sichern.

Papa tupfte sich mit der Serviette sorgfältig den Bierschaum vom Mund, dann musterte er mich mit dieser Miene, die ich nur zu gut kannte. Hinter der Maske aus Güte und Geduld lauerte Grausamkeit, selbst in dieser Zeit der Trauer, die er mit dem schwarzen Knopf am Revers zelebrierte. Sie verbarg sich hinter seinen Worten, die er so sanft sprach wie ein Priester, der die Letzte Ölung erteilt.

»Das freut mich für dich, Michele. Solange deine Geschäfte nicht dem guten Ruf der Familie schaden.«

Keine Drohung. Das war auch nicht nötig. Die einschlägigen Waffen standen ihm alle zur Verfügung. Er lächelte, wie gewohnt. Er zahlte die Rechnung wie gewohnt. Er ging fort. Alles wie gewohnt.

Alberto und ich blieben allein am Tisch zurück.

»Alberto, ich muss dich etwas fragen.«

Sein Blick ruhte auf den Lichtpunkten entlang der Küste. Hinter der Zitadelle, am Ende der Strandpromenade, an den Festungswällen, an den Stränden, vor La Moneta.

»Muss das wirklich sein, Mike?«

Seine Stimme war immer noch die des liebevollen großen Bruders, aber diesmal hörte ich einen Anflug von Sorge darin, die ich nicht von ihm kannte. Er wusste, worum es ging, doch ich konnte es ihm nicht ersparen, es gab keine Alternative.

»An jenem Nachmittag …«

Ich ließ die Frage in der Schwebe. In Wirklichkeit wusste ich nicht, wie ich sie beenden sollte. Mein großzügiger Bruder schüttelte den Kopf.

»Du findest einfach keine Ruhe, Mike.«

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ich kann nicht anders, Alberto. Erzähl mir von dem Nachmittag.«

»Ich war mit den anderen Jungs zwei Stunden lang am Strand. Vor vier haben wir uns getrennt, und ich habe den restlichen Nachmittag über in meinem Zimmer gelernt. Gegen Viertel nach fünf sah ich Farid und Salim am Steg anlegen, um Mohammed abzuholen. Ich bin zum Strand gegangen, um sie zu begrüßen.«

»War noch jemand am Strand?«

Er dachte nach. »Ahmed war dort. Nico und Karim kamen vielleicht etwas später, das weiß ich nicht mehr.«

»Und die Erwachsenen?«

Er sah mich resigniert an.

»Die kamen später dazu, nach und nach. Du musst dich damit abfinden, Mike: Unsere Mutter hat sich das Leben genommen.«

Sogar mir, der ich nicht so ein rationaler Mensch war wie Alberto, war klar, dass diese Feststellung wenig mit Verstand und viel mit Hoffnung zu tun hatte.

Das kannst du gar nicht wissen, mein Bruder. Die Erwachsenen waren lange genug allein, um auf die andere Seite der Insel zu laufen und wieder zurück. Don Eugenio, Busi, Mohammed, bevor er abgeholt wurde. Und natürlich Papa.

Mit einem Mal war die Luft erfüllt von der klagenden Stimme des Muezzin, die aus der Moschee zu uns drang. Allah akhbar.

Costantini R.,Die Saat des Bösen
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