Donnerstag, 23. September 1982
Meine große Chance ist gekommen. Rossellini hat sich eine kleine Rolle für mich ausgedacht, an der Seite des Moderators, der kein Promi ist, aber auch kein Unbekannter.
Inzwischen darf ich das jeden Abend nach der Sendung ertragen, Rossellinis Alte-Männer-Atem und seine aufdringlichen Ratschläge. In seinem verkorksten Kopf bildet er sich ein, dass er mich rettet und ich mich auf alles einlasse.
Nach dem Essen chauffiert er mich immer in seinem Lancia Coupé, in dem er sich unheimlich jung vorkommt, bis vor die Haustür und erwartet jedes Mal, dass ich von mir aus vorschlage, mit zu ihm zu gehen. Er ist zu feige, es selbst vorzuschlagen, und zu aufgeblasen, um Hohngelächter zu riskieren. Aber ich lasse ihn schmoren, bis er selbst einen Schritt macht. Gestern beim Abendessen dann die Wende. Morgen werde ein besonderer Gast in die Sendung kommen, verkündet er. Das ist deine große Chance, Claudia. Untertitel: die du mir, deinem Mentor, zu verdanken hast.
Dino Forte ist einer der Starmoderatoren der RAI, wie Mike Bongiorno, Pippo Baudo, Corrado. Er ist das Fernsehen mit großem F. Das Fernsehen, das mit dem Festival von Sanremo und Canzonissima riesige Mengen von Zuschauern und Werbegeldern anlockt und in die Heime der Italiener die Kultur gebracht hat, stets mit Anstand und Stil, wobei es sich jetzt allerdings der aggressiven und skrupellosen Konkurrenz der Privatsender ausgesetzt sieht.
Noch dazu ist Dino Forte gut aussehend, elegant, tadellos, der heimliche Traum aller Damen eines gewissen Alters. Aber auch frommer Katholik und hochanständig und seiner Frau, die er auf der Schulbank kennengelernt hat, anscheinend absolut treu. Er kommt fünf Minuten vor der Sendung ins Studio, in Begleitung einer kleinen, dicken Frau, die zehn Jahre älter und seine Sekretärin ist.
Im Studio wird er mit Applaus und übertriebenem Lampenfieber empfangen. Alle wuseln wie durchgedrehte Ameisen umher, vom Regisseur bis zum letzten Elektriker.
Während er in der Regie auf seinen Gastauftritt wartet, verfolgt er zerstreut die Sendung und quasselt mit der Dicken. Ich weiß, dass er da unten sitzt, und vielleicht wird er mich nachher eines Blickes oder eines Wortes würdigen. Ich scheiß auf ihn und auf die anderen.
Als ich mitten in der Sendung meinen kurzen Auftritt an der Seite des Moderators habe, gesellt er sich zu uns Normalsterblichen. Ich denke an Mama und daran, was für eine riesige Sache es für sie gewesen wäre, mich hier im Studio neben Dino Forte zu sehen. Der Gipfel der Glückseligkeit.
Aber ich mache das nur für Debbie. Sie hat mit Dino Forte zusammengearbeitet und in höchsten Tönen von ihm geschwärmt, ein echter Profi und absoluter Gentleman. Dann kam nichts mehr. Sie war schon hier und sogar weiter, als ich sie getötet habe.
Ich weiß nicht, was mich bei meinem Auftritt erwartet. Inzwischen ist das reine Routine. Schauspielern ist für mich so natürlich wie lügen. Als ich Dino Fortes Blick spüre, versuche ich, nicht zu übertreiben. Übertreibungen und überzogene Töne kann er nicht leiden. Auch das weiß ich von Debbie.
Als es zu Ende ist, drehe ich mich nicht zu ihm um. Und nach der Sendung gehe ich auch nicht hin, um zu gratulieren. Ich ziehe mich in die Garderobe zurück, die ich mir mit den anderen Sprecherinnen von Extra TV teile.
Nach einer Weile schaut Rossellini herein, furchtbar aufgeregt.
»Du bist gut angekommen, Claudia, ich wusste es doch.«
»Bei wem?«
»Bei ihr.«
»Wer, ihr?«
»Der Dicken. Sie trifft die Entscheidungen für ihn.«
Dann kommt Dino Fortes Sekretärin und fragt mich nach meiner Telefonnummer. Genauso, wie sie es bei Debbie gemacht hat. Höflich und professionell.