Donnerstag, 25. November 1982
Um sechs Uhr nachmittags breche ich von zu Hause auf, eine Stunde vor der Verabredung mit Giangiacomo Zingaretti bei der RAI. In eleganter, aber dezenter Aufmachung.
Dino Forte betont es immer wieder, ohne irgendwelche Anzüglichkeiten.
»Denk dran, Claudia, du bist ein Star für die ganze Familie mit einem Hauch von Sexappeal. Wenn du ein Sexsymbol wirst, müssen wir dich absägen.«
Der November geht zu Ende, es ist schon dunkel und regnet. Morgen habe ich die letzte Probe und übermorgen die dritte Sendung der Show.
Zum ersten Mal in meinem Leben nehme ich ein Taxi. Ich verdiene plötzlich eine Menge überflüssiges Geld. Als ich den Taxifahrer bitte, mich zur RAI in den Viale Mazzini zu bringen, antwortet er: »Auf zum Pferd.«
Vor der RAI ergießt sich ein Sturzregen auf das riesige sterbende Bronzepferd, das sich vor dem modernen Gebäude erhebt. Viereinhalb Meter hoch und fünfeinhalb Meter lang ist die Skulptur, die ich unzählige Male im Fernsehen gesehen habe, an der Seite meiner Mutter. »Das ist dein Platz, Claudia, da musst du hin!«, hat sie immer geseufzt.
Nun sehe ich das Pferd zum ersten Mal in natura. Was wollte der große Künstler uns damit sagen? Ich weiß es nicht, aber der Tod dieses wundervollen Tiers ist der Auftakt zu einer strahlenden Zukunft. Für die italienische Kultur, für meine Karriere. Und für meine Suche nach Gerechtigkeit.
Hinter der Glasscheibe am Empfang sitzen zwei würdevolle ältere Luxusportiers. Ich murmele den Namen »Giangiacomo Zingaretti«. Ein kurzer Blick, pure Neugier. Sie verlangen meinen Ausweis und überreichen mir ein Kärtchen mit einem grünen Streifen, als würden sie mir eine Reliquie aushändigen. Darauf stehen die Etage und die Büronummer von Giangiacomo Zingaretti.
Sie kündigen mich telefonisch an und deuten auf die Fahrstühle. Ich gehe quer durch das große Atrium mit dem hübschen Gärtchen in der Mitte. Tropische Gewächse und kleine Springbrunnen, genau wie Debbie es beschrieben hatte. Der Garten Eden, um dich immer daran zu erinnern, dass du hier das Paradies betrittst.
Niemand begleitet mich. Ich fahre nach oben, mache das Büro ausfindig. In dem kleinen Vorzimmer seiner dürren Sekretärin Renata, die eindeutig eine alte Jungfer ist, sitzen vier Personen, alles ziemlich wichtige Schauspieler, die ich schon seit Jahren aus dem Fernsehen kenne. Sie warten hier jeden Tag. Sie warten auf ihn, um kurz mit ihm zu reden, nur ganz kurz, zwei Worte mit dem großen Mann, der darüber entscheidet, ob sie einen neuen Vertrag bekommen oder ob sie pausieren müssen, ein Weilchen oder vielleicht auch länger.
Sobald sie mich erblickt, führt mich die Sekretärin zu der gepolsterten Tür aus Leder und Mahagoni.
»Bitte schön, Signorina Teodori, der Direttore erwartet Sie bereits.«
Als ich die Schwelle überschreite, spüre ich die neidischen Blicke der Wartenden im Rücken, die vielleicht schon lange bei der RAI arbeiten. Das Büro ist groß, mit Holztäfelung an den Wänden. Die Einrichtung ist kostspielig, aber sehr geschmackvoll. Anders als bei Extra TV strahlt der Komfort hier Kultur aus statt plumper Protzerei.
Der breite Schreibtisch ist überfüllt mit Papierstapeln und Fotos, auch von seiner Frau und den drei Kindern. Gegenüber stehen zwei braune Ledersessel. Die Fensterfront mit den stahlgrauen Lamellenvorhängen geht auf den Viale Mazzini hinaus.
Neben der Tür sind zwei Reihen Bildschirme in die Wand eingelassen. Was macht er mit so vielen Monitoren, wo die RAI doch nur drei Sender hat? Aber dann begreife ich. Sie sind mit den Aufnahmestudios verbunden, auch per Lautsprecher. Zingaretti folgt einem Ballett, bewegt die Hand zur Musik. Als die Tänzerin stehen bleibt, drückt er auf eine Taste.
»Entsetzlich. Streicht das!« Seine Stimme hallt laut im Aufnahmestudio wider und lässt die Mienen des Regisseurs, des Choreografen und der Primaballerina, alle drei prominente Gesichter, vor Schreck erstarren.
»Aber Gian…«, versucht der Regisseur zu kontern. Zingaretti drückt auf eine weitere Taste und unterbricht die Audioverbindung.
Er sieht mich an, zwei graue Augen über der aristokratischen Adlernase, schmale Lippen, hohe Stirn, das lichte schwarze Haar nach hinten gekämmt. Unwillkürlich schweift sein Blick über das rote Sofa unter den Bildschirmen.
»Vorsicht vor dem roten Sofa!«, hat Dino Forte mich gewarnt.
Zingaretti lächelt. »Freut mich, dich kennenzulernen, Claudia Teodori.«
Ich kenne dieses Lächeln, seit ich ein kleines Mädchen bin. Das Lächeln des bösen Wolfs in der Verkleidung von Rotkäppchens Großmutter.
Er drückt auf eine Taste der Sprechanlage. Sofort meldet sich die dürre alte Jungfer von nebenan.
»Schick die Nervensägen weg, Renata. Ich bin nicht zu sprechen.«
Dann taxiert er mich mit einem prüfenden Blick, als wäre ich eine Statue. Ein fanatischer Perfektionist.
»Du musst noch viel an dir arbeiten, Claudia Teodori. Aber ich werde dir helfen.«
War er es, Debbie? Bin ich allein mit dem Teufel?