FÜNFUNDZWANZIG

 

Kaum waren wir ins Hier und Jetzt zurückgekehrt, hatte Bodhi es ziemlich eilig, mich loszuwerden. Ich bekam nicht einmal ein Auf Wiedersehen, bis später oder Adios zu hören – nichts, bevor er sich hastig aus dem Staub machte.

»Äh, hallo!«, rief ich ihm hinterher, starrte mit zusammengekniffenen Augen auf seinen Rücken, der fast schon aus meinen Blickfeld verschwunden war, und schüttelte den Kopf. »Hast du nicht etwas vergessen? Etwas, was sich der große Rat nennt?« Sicher versuchte er, etwas zu umgehen, was, wie ich wusste, unvermeidlich war.

Er blieb stehen, drehte sich auf dem Absatz um und sah mir direkt in die Augen. »Wir nehmen keinen Kontakt mit dem großen Rat auf, Riley. Der Rat meldet sich bei uns.«

Oh.

Ich starrte auf den Boden und wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich, trotz meines Draufgängertums auf der Erdebene im Hier und Jetzt noch ziemlich unwissend war.

»Und wie erfahre ich, wenn es so weit ist?«, fragte ich und fühlte mich ziemlich dumm dabei, aber wie sonst sollte ich etwas dazulernen?

»Sie werden mich zu sich rufen, und dann hole ich dich.« Er schaute sich um, als müsse er eilig irgendwohin. »Also, war’s das dann?«, fragte er und schien es noch eiliger zu haben, von mir wegzukommen.

Ich nickte und sah ihm hinterher, während ich Buttercup festhalten musste, damit er ihm nicht nachlief.

Verräter!, wollte ich gerade sagen, aber als ich zu meinem Hund hinunterschaute und er mit diesen großen braunen Augen zu mir hochsah, löste sich das Wort praktisch auf meiner Zunge in nichts auf.

Ich konnte ihm nicht einmal übel nehmen, dass er Bodhi mir vorzog. Bodhi war hier so etwas wie ein Rockstar. Wahrscheinlich hatte er eine Menge Freunde und Groupies, und ein Gefolge von Fans wartete nur darauf, sich mit ihm zu treffen, während ich nur mich hatte.

Okay, vielleicht war das nicht ganz richtig.

Ich hatte noch meine Eltern und Großeltern, die ebenfalls hier waren, irgendwo.

Trotzdem konnte mir das nicht die Freundschaften ersetzen, nach denen ich mich sehnte.

Freundschaften von der Art, wie ich sie auf der Erdebene gehabt hatte.

Wo man miteinander lachte und Spaß hatte und ein gemeinsames Interesse an vielen, wenn auch nicht an allen Dingen hatte.

Um ehrlich zu sein war ich nicht nur total verwirrt von der Art, wie die Dinge hier abliefen, sondern ich konnte auch meine Gedanken und Ansichten, die ich nur als voreingenommen und oberflächlich beschreiben kann, nicht kontrollieren. Offenbar konnte hier sie jeder hören, und daher wusste ich nicht, wie ich es anfangen sollte, mich mit jemandem zu befreunden.

Also schlenderte ich weiter. Und sagte mir, dass es mir helfen würde, ein wenig die Lage zu sondieren, aber in Wahrheit machte ich mir selbst etwas vor, und tief in meinem Inneren wusste ich, dass es eine Lüge war.

Ich wusste genau, wohin ich steuerte, also war es keine Überraschung, als ich mich direkt vor dem Aussichtsraum wiederfand. Mir war klar, dass es nicht gern gesehen war, wenn nicht sogar regelrecht missbilligt wurde. Und ich wusste, dass ich damit meine Eltern, den großen Rat und wahrscheinlich auch Bodhi enttäuschen würde. Und mein Hund scheute davor zurück – er weigerte sich, mein Komplize zu sein und auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er sah mich mit einem Blick an, der sagte: Oh, nein, das kann sie nicht tun. Aber ich schlich mich trotzdem hinein.

Ich zog eine Nummer aus dem Automaten und stellte mich in der ziemlich langen Schlange an. Und ich log mir wieder selbst etwas vor, als ich mir schwor, nur einen ganz kurzen Blick auf meine Schwester und vielleicht ein paar alte Freunde zu werfen und dann sofort wieder zu verschwinden.

Ich wartete, bis ich an der Reihe war, und betrachtete all diese Köpfe mit den bläulich schimmernden Haaren. Einige von ihnen erkannte ich von meinem letzten verbotenen Besuch hier, und ich fragte mich unwillkürlich, warum es ihnen erlaubt war, einen Blick auf die Erdebene zu werfen, mir hingegen jedoch nicht.

Vielleicht weil sie alle behaupteten, lediglich nachschauen zu wollen, wie es ihren Enkeln ging, während ich begierig alles reinzog, was sie so machten, als wäre das eine Realfilm-Seifenoper?

Oder war das eine Art Doppelmoral im Hier und Jetzt, die es nur Greisen erlaubte, wehmütig zurückzuschauen, während die jungen Leute ständig ermahnt wurden, alles zu vergessen?

Die Schlange wurde immer länger, während ich mich Zentimeter für Zentimeter nach vorne schob. Ich war fest entschlossen, mich nur um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, als ich einen alten Mann hinter mir sagen hörte: »Sie macht sich immer noch Sorgen um mich. Nach all dieser Zeit trauert sie nach wie vor um mich. Ich habe sie so oft in ihren Träumen besucht, ihre Hand gehalten und ihr gesagt: ›Helen, hör mir zu, ich schwöre dir, es geht mir gut. Und jetzt lebe endlich wieder dein Leben!‹. Aber sobald sie aufwacht, ist sie der festen Überzeugung, dass es nicht wirklich ich war, der zu ihr gesprochen hat, und ihre Trauer beginnt von Neuem. Und manchmal …« Er hielt inne, und ich beäugte verstohlen seine glänzenden schwarzen Abendschuhe und die dazu passenden schwarzen Socken, die er zu seinen karierten Bermuda-Shorts trug. »Ich sage dir, Mort, manchmal frage ich mich wirklich, ob ich nicht alles nur noch schlimmer mache.«

Ich drehte mich um. Ich konnte nicht anders. Ich wandte mich ihm zu und starrte ihn ungeniert an.

Davon hatte ich noch nie etwas gehört.

Ich hatte nicht gewusst, dass es möglich war, eine Person in ihren Träumen zu besuchen.

Bevor ich ihn bitten konnte, mir mehr darüber zu erzählen, sah er mich an und fragte: »Kann ich dir helfen?«

Diese Worte schienen, oberflächlich betrachtet, nett gemeint zu sein, aber, glaubt mir, so waren sie nicht gedacht – das war damit ganz und gar nicht beabsichtigt. Der Ton seiner Stimme ließ mich laut und klar und ganz eindeutig wissen, dass er von meiner Anwesenheit nicht begeistert war. Ganz offensichtlich ärgerte er sich darüber, dass ich gelauscht hatte.

»Ähm, tut mir leid«, sagte ich und schaute zwischen ihm und seinem Freund hin und her. »Ich habe nur zufällig mitbekommen, dass Sie etwas darüber erzählt haben, wie man den Traum von jemandem betritt.«

Er kniff seine faltigen Lider zusammen und musterte mich gründlich, während sein Freund in dem grellen lila und orangefarbenen Hawaiihemd, den er Mort genannt hatte, beschloss, an seiner Stelle zu antworten. »Ein Besuch in einem Traum, das stimmt.« Er betrachtete mich eingehend.

Meine Gedanken drehten sich im Kreis, und ich dachte über all die Möglichkeiten nach, wie sich so etwas abspielen konnte. »Und, ähm, könnten Sie mir vielleicht sagen, wie jemand so etwas machen kann?«, fragte ich dann. Ich presste meine Lippen aufeinander und hoffte inständig, dass sich meine Frage in ihren Ohren nicht so verzweifelt anhörte wie in meinen.

Sie sahen mich prüfend an, schienen mich auf eine Art zu analysieren, die mir signalisierte, dass sie mir eigentlich nicht helfen wollten. Und ich fragte mich, ob jetzt vielleicht mein Glühen auf dem Spiel stand.

Es ging um mein blasses Grün, kaum ein sichtbares Glühen, das, wie Bodhi meinte, mich eindeutig als Mitglied des Teams auf Levels 1.5 auszeichnete – also in ihren Augen als Anfängerin.

Obwohl ich keine Möglichkeit gehabt hatte, das zu überprüfen, nachzuschauen, ob das, was ich auf St. John erreicht hatte, irgendeinen Einfluss darauf hatte, verriet mir ein Blick auf dieses sanfte, heitere gelbe Strahlen, das die beiden umgab, dass ihr Wissen wohl für jemanden, der sich so weit unten in der Rangordnung befand wie ich, in ihren Augen zu fortgeschritten für mich war.

Ich wollte mich schon abwenden, da sie offensichtlich nicht bereit waren, mir zu helfen. Doch dann schaute Mort mich an, kratzte sich mit erstaunlich gepflegten Fingernägeln am Kinn und sagte: »Nun ja, zuerst musst du an den Ort gehen, an dem alle deine Träume stattfinden. «

Ich schluckte und kniff die Augen zusammen, bemühte mich aber, ganz ruhig zu bleiben. Ich wollte sie nicht sehen lassen, dass ich bis zu diesem Moment keine Ahnung gehabt hatte, dass ein solcher Ort existierte.

Aber der Blick, den er seinem Freund zuwarf, verriet mir deutlich, dass sie mich beide durchschaut hatten.

Und deshalb war ich sehr überrascht, als sein Freund ihm kräftig seinen Ellbogen in die Rippen stieß und sagte: »So schwer ist der Ort nicht zu finden. Man muss einfach nur …«

Ich beugte mich vor, erpicht darauf, jedes einzelne Detail darüber zu hören, aber dann wurde er von jemandem unterbrochen, der rief: »Der Nächste!«

Ich drehte mich um und sah meine Nummer auf dem Bildschirm aufleuchten.

»Sieht so aus, als ob du jetzt an der Reihe wärst.« Mort und sein Freund zuckten die Schultern.

Ich war hin- und hergerissen. Einerseits wollte ich einen Blick auf die Erdebene werfen, um zu sehen, wie es meiner Schwester und meinen Freunden ging, andererseits wollte ich unbedingt mehr über den Ort erfahren, wo die Träume stattfanden.

Ich wollte gerade noch einmal nachhaken, als Morts Freund mich fragte: »Hör mal, du bist dran, also gehst du jetzt, oder nicht?«

Ich schaute von einem zum anderen, und beim Anblick ihrer Mienen wurde mir klar, dass keiner von beiden vorhatte, mir mehr zu verraten, als sie bereits getan hatten.

Trotzdem – der Moment mochte verflogen sein, aber die Saat war aufgegangen.

Und was mich betraf, reichte das, um mich auf den Weg zu machen.

Ich drückte Mort mein Ticket in die Hand und hastete zum Ausgang, in der Hoffnung, eine Art Bücherei oder Forschungszentrum zu finden, einen Ehrfurcht einflößenden Ort, an dem ich vielleicht einige Antworten finden konnte. Aber Buttercup wartete genau an der Stelle auf mich, an der ich ihn zurückgelassen hatte. Und direkt neben ihm stand Bodhi und kaute heftig auf seinem Strohhalm.

»Es ist nicht so, wie du denkst!«, krächzte ich und bedauerte diese Worte in dem Moment, in dem ich sie ausgesprochen hatte. Ich meine, mal im Ernst, es ist nicht so, als wüsste ich es nicht besser. Dass es nicht funktionierte, auf diese Weise etwas zu leugnen, war mir durchaus bekannt.

»Wir sind vorgeladen worden«, sagte Bodhi und ignorierte meine lächerlich durchschaubare Bemerkung. »Das heißt, dass du dich vielleicht ein bisschen zurechtmachen möchtest. Oh, und vielleicht nimmst du dir einen Moment Zeit und hoffst und betest, dass niemand herausfindet, dass du nach deiner Rückkehr als Erstes hierhergekommen bist.«

Ich verzog das Gesicht, verärgert über seine Worte, tat aber trotzdem, was er mir gesagt hatte. Ich entledigte mich meines ziemlich schmutzigen Badeanzugs und des Kaftans und manifestierte mir stattdessen eine coole Jeans, Ballerinas und ein supertolles T-Shirt.

»Besser?« Ich zog eine Augenbraue hoch und reckte mein Kinn nach oben.

Bodhi murmelte nur etwas vor sich hin und lief los. Dann warf er einen Blick über seine Schulter und sagte: »Was immer du auch tust, folge meinen Anweisungen, okay? Bitte. Tu dir selbst einen Gefallen und …«

Er hielt inne, bis ich ihn eingeholt hatte.

»Tu dir selbst einen Gefallen und lass mich das alles machen.«

Er bog um eine Ecke, dann um noch eine, bis er uns über eine lange Treppe zu dem mit Rauchglas verkleideten Gebäude führte, in dem ich mir den Rückblick auf mein Leben hatte anschauen müssen.

Ehrlich, wenn ich noch einen Magen gehabt hätte, hätte er sich genau in diesem Moment zusammengekrampft und Purzelbäume geschlagen.

Dort drin saßen sie.

Aurora, Claude, Samson, Celie und Royce – der gesamte große Rat hatte sich versammelt und wartete darauf, sich meine Sicht der Dinge anzuhören.

Es gab kein Entkommen.

Ich hatte keine andere Wahl, als mich ihnen zu stellen.

Ich hatte eigensinnig, übereilt und dickköpfig gehandelt und es mir nicht nehmen lassen, meinen freien Willen durchzusetzen, obwohl man mich gewarnt hatte, das zu tun.

Ganz gleich, wie gut es letztendlich ausgegangen war, es war definitiv kein Auftrag gewesen. Eigentlich eher das Gegenteil. Mein Führer hatte mir es streng verboten.

Ich straffte meine Schultern, überprüfte meine Körperhaltung und schwor mir, dass ich alles tun würde, um Bodhis Anweisungen zu folgen und nicht alles noch schlimmer zu machen, als es ohnehin schon war, egal was auf der anderen Seite der Tür geschehen würde.

Bodhi schaute mich an, und ich nickte verstehend, so als wäre ich bereit, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass das nicht der Fall war.

Meine Hände zitterten, als er die Hand auf die Glastür legte, um sie aufzustoßen, dann aber meine Handfläche fest dagegendrückte, damit ich mich besser darin sehen konnte.

Mein Blick heftete sich auf mein Spiegelbild. Es sah überhaupt nicht so aus wie beim letzten Mal.

Klar, die üblichen Merkmale waren alle da: blondes Haar, blaue Augen, Stupsnase, flache Brust – alles ziemlich genauso wie beim letzten Mal, als ich mich betrachtet hatte. Aber das Glühen, das mich umgab, war vollkommen anders.

Okay, vielleicht übertreibe ich etwas.

Vielleicht war es nicht vollkommen anders.

Ich meine, immerhin war es immer noch grün.

Aber der Grünton war anders. Der Farbton hatte sich verändert.

Die Veränderung war, na ja, deutlich, beachtlich.

Das ließ sich nicht bestreiten.

»Gratulation.« Bodhi schenkte mir ein kurzes Lächeln. Doch dann wurde seine Miene wieder ernst, und er schüttelte den Kopf. »Bevor du dich von der Begeisterung über dich selbst hinreißen lässt, solltest du wissen, dass unser Handeln Konsequenzen haben wird – wie du gleich feststellen wirst.«

Ich nickte. Ich verstand die Worte und die Warnung, die er damit ausdrückte, aber ich war immer noch zu gebannt von meinem Spiegelbild, um ihnen gebührende Beachtung zu schenken. Ich betrachtete, wie dieser tiefere, kräftigere Grünton glühte und um mich herumschwebte, und ich wusste, er war das unmittelbare Ergebnis der Entscheidungen, die ich getroffen hatte.

»Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe«, ermahnte er mich. Sein Blick zeigte mir, dass er mir nicht traute. Er glaubte nicht, dass ich ihm das Wort überlassen würde – nicht einen Moment lang.

Ich runzelte die Stirn und wollte mich an ihm vorbeidrängen, während ich zusah, wie mein Glühen sich wellenartig vor- und zurückbewegte. Er trat einen Schritt zur Seite und führte mich hinein.

»Falls du es noch nicht bemerkt hast«, sagte ich und hielt kurz inne, um ihm in die Augen zu sehen. »Ich habe mein Glühen an mir. Also, wie schlimm kann es schon werden?«

Ich überprüfte noch einmal mein Spiegelbild und war überzeugt davon, dass, ganz gleich, was geschehen würde, ganz gleich, was der große Rat sagen würde, dieses Glühen bei mir bleiben würde. Es war etwas, das ich mir verdient hatte. Und es würde nicht mehr verschwinden.

Mein Gedankengang wurde abrupt von Bodhis Stimme beendet, als er mir ins Ohr flüsterte: »Schon wieder falsch, Riley. Was immer der große Rat uns gibt, kann er uns auch wieder nehmen. Und wenn wir hier rausgehen, kann es sein, dass wir deinetwegen nie wieder glühen werden.«

Riley - Im Schein der Finsternis -
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