DREI

 

Ich kauerte mich zusammen, schlug die Hände über meinem Kopf zusammen, um ihn zu schützen, und wartete auf den Aufprall.

Ich wartete auf den Hieb dieser Pfoten, den Biss dieser rasiermesserscharfen Zähne, die Hitze dieses starren Blicks, der sich direkt in mein Herz brennen würde.

Doch nichts dergleichen geschah.

Und, mal ehrlich, warum sollte auch etwas passieren, wenn es diese eine Sache gab, die mich vor der Attacke schützte?

Eine wesentliche Tatsache, die mich vor jedem Angriff bewahrte.

Eine Tatsache, an die ich mich immer noch nicht gewöhnt hatte – oder zumindest nicht, wenn ich mich in einer Situation befand, in der ich vor Angst wie erstarrt war.

Die Tatsache, dass ich tot war.

Mausetot.

Tot und begraben.

Tot wie … na ja, mehr oder weniger so tot, wie man es nur sein konnte.

Ironischerweise fühlte ich mich lebendiger als je zuvor, obwohl mein Körper tatsächlich vor über einem Jahr gestorben war. Und mich mit dieser neuen, zarten und leicht durchscheinenden Version zurückgelassen hatte, die der ursprünglichen, der Schwerkraft unterlegenen Ausführung auf erschreckende Weise glich. Mit dem Unterschied, dass nun alle Dinge mit Leichtigkeit durch mich hindurchglitten, was früher nicht der Fall gewesen war.

Zum Beispiel Wesen wie überdimensionale Höllenhunde mit verfilztem schwarzem Fell und einem tiefen, bedrohlichen Knurren.

Und, wie der Zufall es so wollte, fiel mir das erst wieder ein, als Bodhi mich bereits beinahe eingeholt hatte.

Oder eigentlich sollte ich sagen, Bodhi und Buttercup, mein süßer Labrador, der mich nicht nur schon fast mein ganzes Leben lang kennt, sondern der auch bei dem Autounfall an meiner Seite starb. Wenn man das alles bedenkt, sollte man glauben, dass er mir treu ergeben war.

Aber neiiiiiin.

So etwas wie Loyalität existierte für Buttercup nicht. Er war nur allzu bereit, jedem die Finger zu lecken, der ihn streichelte, ihn fütterte oder mit ihm Stöckchenwerfen spielte. Und das galt auch für meinen Geisterführer Bodhi. Und während Bodhi sich bei dem Anblick totlachte, wie ich, ein kleines, blondes Geistermädchen, im Sand kauerte und mich verängstigt zu einem Ball zusammenrollte, bellte Buttercup begeistert und wedelte freudig mit dem Schwanz. Er sprang so aufgeregt um ihn herum, dass ich ernsthaft meine Loyalität ihm gegenüber überdachte. Und ich hasste Bodhi beinahe genauso wie an dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren.

An dem Tag hatte er mich buchstäblich in diesen schrecklichen Raum gestoßen, wo ich gezwungen wurde, einen superpeinlichen, sehr schmerzhaften Rückblick auf mein Leben über mich ergehen zu lassen.

Einen superpeinlichen, äußerst qualvollen Rückblick, bei dem ich feststellte, dass meine gesamte Existenz, die kurzen zwölf Jahre, die ich auf der Erdebene verbracht hatte, nicht mehr als ein Witz gewesen waren – und dieser Witz ging auf meine Kosten.

Die ganze Sache war eine totale Pleite.

Eine Verschwendung.

Eine jahrzehntelange Existenz, in der ich versucht hatte, meine ältere Schwester Ever nachzuahmen, in der Hoffnung, genau wie sie zu sein.

Und das hatte lediglich zu einem absolut lächerlichen, extrem görenhaften Verhalten geführt, das an Stalking grenzte und für das ich mich letztendlich nicht mehr rechtfertigen konnte.

Dieser superpeinliche, äußerst qualvolle Rückblick wurde von den verschiedenen Mitgliedern des großen Rats überwacht, die mir mitteilten, dass ich eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Diese gründete sich auf die Zeit, die ich auf der Erdebene vertrödelt hatte und mich hartnäckig geweigert hatte, die Brücke ins Hier und Jetzt zu überqueren. Ich blieb lieber zurück, um meine Schwester, einige berühmte Persönlichkeiten, ehemalige Lehrer und Freunde auszuspionieren. Und auch alle anderen Personen, die mir irgendwie interessant erschienen, aber ansonsten ahnungslos waren. Nun sollte ich also zögernde Geister überzeugen und dazu überreden, die Brücke zu ihrem neuen Zuhause zu überqueren und sozusagen als Seelenfängerin agieren. Und, was noch schlimmer war, man hatte mir einen Führer, Lehrer, Trainer, Berater, Boss zugeteilt – so beschrieb sich Bodhi zumindest gern selbst –, dem ich nicht nur Rechenschaft ablegen musste, sondern von dem ich möglicherweise auch noch etwas lernen sollte.

Obwohl er seine Streberklamotten gegen viel coolere Sachen getauscht hatte, obwohl er seine Haare jetzt fransig und locker trug, so dass sie ihm in einer coolen Welle ins Gesicht fielen, und obwohl ich bei jedem Blick in seine strahlend blauen Augen an das Poster von Zac Efron denken musste, das in meinem alten Zimmer hing, fand ich es nicht in Ordnung, dass er mich auf diese Art und Weise auslachte.

Ich blieb einfach liegen und wünschte mir mit jeder Faser meines Körpers, er würde damit aufhören und endlich weitergehen. Aber mir wurde klar, dass er das nicht vorhatte – er versuchte lediglich, genug Luft zu holen, um mich dann auch noch mit Worten zu verspotten. Ich sprang rasch auf, zog mein weißes Baumwollkleid zurecht, zupfte an den Trägern meines rosa-türkisen Badeanzugs, den ich darunter trug, und starrte ihn an. »Ja, ja, lach nur, so viel du willst.« Ich warf erst ihm und dann Buttercup einen finsteren Blick zu. Buttercup senkte sofort den Kopf, klemmte den Schwanz zwischen seine Beine und sah mit diesen großen Augen, denen man unmöglich widerstehen konnte, zu mir auf. »Aber wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe … na ja, dann … Ich bin mir sicher, dass du dann auch geschrien hättest«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ich machte mich auf einen Streit gefasst, auf eine dieser nicht immer ganz gutartigen Hänseleien, doch er legte nur eine Hand auf meine Schulter und sah mich auf die für ihn typische ernsthafte Art an.

»Ich habe geschrien.« Er hielt meinem Blick stand. »Aber anstatt stehen zu bleiben, mich hinzuwerfen und zusammenzurollen, wie du es getan hast, bin ich gerannt wie der Blitz.«

Ich kniff die Augen zusammen und zuckte meine Schulter, um seine Hand abzuschütteln. Ich war nicht sicher, worauf er hinauswollte, und noch nicht davon überzeugt, dass er sich nicht doch über mich lustig machen wollte.

»Wenn ich mich recht erinnere, war ich zurück in England – in Devon.« Er blinzelte, als versuchte er, sich an das genaue Datum zu erinnern, so als läge es Jahrhunderte zurück. Dabei wussten wir beide, dass er erst vor etwa einem Jahrzehnt im Jahr 1999 dank einer Krebserkrankung den Löffel abgegeben hatte, und das auch noch einige Tage vor dem Millennium. »Wie auch immer, man sieht sie häufig in Devon, Norfolk, Suffolk und Essex, aber trotzdem …«

»Warte mal – was meinst du mit sie?«, fragte ich, während Buttercup zu mir herankroch und mein Bein mit der Nase anstupste, in dem verzweifelten Versuch, vor meinen Augen wieder Gnade zu finden. »Soll das heißen, es gibt nicht nur einen davon?«

»Von den Snarly Yows?« Bodhi neigte den Kopf so, dass sein Pony ihm in die Augen fiel. »Ja, davon gibt es jede Menge.« Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar und schob sich einige Strähnen aus der Stirn.

»Snarly … was?«, fragte ich mit kieksender Stimme. Das Wort ergab für mich keinen Sinn.

»Snarly Yow, Black Shuck, Phantomhund, Galley-trot, Shug Monkey, Hateful Thing, Höllenhund …« Er zuckte die Schultern, manifestierte rasch einen grünen Strohhalm und begann darauf herumzukauen, während er sich nach allen Seiten umschaute. Seine Miene war angespannt, als würde er damit rechnen, dass eine ganze Meute über den Strand auf ihn zugestürmt kommen könnte. Als er jedoch nicht mehr als dichten Nebelschleier sah, wandte er sich wieder mir zu. »Sie haben viele verschiedene Namen. Und obwohl sich die Legenden leicht voneinander unterscheiden, wenn man sich genauer damit beschäftigt, läuft es im Grunde genommen immer auf das Gleiche hinaus. Es handelt sich um einen großen, schwarzen, bedrohlichen Hund mit glühenden Augen. Manchmal sitzt nur eines in der Mitte seiner Stirn, manchmal dort, wo sein Kopf wäre, wenn er nicht fehlen würde …« Er sah mich an. »So etwas in der Art. Allerdings sind sie nicht nur in England zu finden. Als ich bei einem Einsatz in Ägypten war, entdeckte ich dort ein riesiges Exemplar, viel größer als das Biest, das du gesehen hast. Es war richtig wild. Du kannst dir nicht vorstellen, wie groß dieses Tier war.« Er schüttelte den Kopf bei der Erinnerung daran. »Wie auch immer, es bewachte eine jahrhundertealte Grabstätte. Das ist es, was sie üblicherweise tun, wie man sagt – sie bewachen alte Gräber, Grüfte und solche Sachen.«

Er warf mir unter seinen dichten Wimpern einen Blick zu – Wimpern, die er wahrscheinlich irgendwie verlängert hatte, um sie unwiderstehlich aussehen zu lassen. Nach dem, was ich am Tag der Abschlussfeier – oder wie immer man diesen Tag auch nennen mochte – gesehen hatte, erzielte er damit eine erstaunliche Wirkung. Damals war er zum ersten Mal von diesem tiefgrünen Schimmer umgeben gewesen, der jedem deutlich gezeigt hatte, dass er jetzt bereit dafür war, seine Aufgabe als mein Führer zu übernehmen. Und er hatte auf seinem Weg von seinem Platz hinunter zur Tribüne Jubelrufe und Pfiffe geerntet.

Zumindest auf weniger anspruchsvolle Gemüter machte das Eindruck.

Ich hingegen war ziemlich immun dagegen.

Er hielt seinen Blick auf mich geheftet und flehte mich praktisch an, mich von seiner exotischen Reise beeindruckt zu zeigen. Aber den Gefallen würde ich ihm nicht tun. Diese Befriedigung gönnte ich ihm nicht.

Dann war er eben nach Ägypten gereist. Um einen Auftrag zu erledigen. Wo er dann einem Geisterhund begegnet war, der sogar noch größer war, als der, den ich gerade gesehen hatte.

Großartig.

Und wenn schon.

In der kurzen Zeit, seit ich die Brücke überquert hatte, hatte ich bereits ganz locker einen Auftrag in einem ziemlich beeindruckenden Landschloss in England erledigt, war schon hoch am Himmel direkt über die belebten Straßen Londons geflogen und genoss im Augenblick einen netten Urlaub auf einer der Virgin Islands – all das war innerhalb einer sehr, wirklich sehr kurzen Zeitspanne passiert, vielen Dank auch.

Daher zweifelte ich keine Sekunde, dass mir eine Menge weiterer Reisen bevorstanden, bei all den Aufträgen, die noch auf mich warteten, und all den zurückgebliebenen Seelen, die ich über die Brücke bringen sollte.

»Wie auch immer«, sagte er schließlich und kaute weiter auf dem grünen Strohhalm herum. Das war eindeutig eine Unsitte, die noch aus seiner Zeit auf der Erdebene stammte. »Der Legende nach ist es allerdings ein schlechtes Zeichen, wenn man einem von ihnen begegnet – ein Todesomen, ein Menetekel …«

»Ein Menetekel?« Ich sah ihn stirnrunzelnd an, fest davon überzeugt, dass er wieder versuchte, sich wichtig zu machen.

»Ein Omen, also ein Zeichen, ein …«

»Ich weiß, was das bedeutet.« Ich verdrehte die Augen und winkte ab, wischte mit einer Handbewegung seinen schwachen Versuch, mich mit seinem ach so großen Wortschatz einzuschüchtern, vom Tisch.

»Auf jeden Fall ist die Sache die«, fuhr er fort, kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick erneut über den Strand gleiten. »Selbst wenn der Sage nach jeder, der einem Black Shuck begegnet, innerhalb eines Jahres sterben wird, ist das offensichtlich eine Sache, wegen der du dir keine Sorgen machen musst. Ich meine, schließlich bist du ja bereits tot …«

»Das war’s dann also?« Ich stemmte meine Hände in die Hüften und starrte ihn an. »Du willst also diesen Psycho, diesen Geisterhund aus der Hölle Amok laufen und alle Leute an diesem Strand terrorisieren lassen und nichts dagegen unternehmen?«

Er zuckte die Schultern. Offensichtlich schien ihn die Aussicht darauf nicht annähernd so zu beunruhigen wie mich. »Ich schätze, ich verstehe dein Argument nicht so recht. Ich meine, mach dir nichts vor, Riley – die einzige Person, die sich anscheinend vor dem Hund fürchtet, bist du.«

Ich betrachtete forschend sein Gesicht und suchte nach deutlichen Zeichen von Spott (Omen!), konnte aber keine entdecken. »Und was ist mit Buttercup?«, fragte ich. »Was ist mit dem Aufjaulen, das ich gehört habe? Er hörte sich an, als sei er zu Tode erschrocken – sozusagen.«

Doch Bodhi lachte nur. »Er war vielleicht verärgert, aber er hatte ganz sicher keine Angst. Ich habe seinen Ball in der Luft aufgefangen und bin mit ihm davongeflogen. Davon war er nicht gerade begeistert. Aber du hast es verschmerzt, nicht wahr, mein Junge?« Seine Stimme wurde ganz sanft und weich, als er Buttercup zwischen den Ohren kraulte. Beinahe wäre ich zusammengezuckt, als ich sah, wie schnell mein Hund von meiner Seite zu Bodhis rutschte, wo er Platz machte und begeistert zu ihm aufsah.

»Außerdem sollst du alle umherirrenden Geister, denen du hier begegnest, in Ruhe lassen. Ganz gleich, was passiert. Denk daran: Solange es sich nicht um einen Auftrag des großen Rats handelt, geht es dich nichts an.« Seine Miene wurde finster. Offensichtlich wollte er mir klarmachen, dass er es wirklich ernst meinte. Als er dann annahm, dass er seine Aufgabe erledigt und ein überzeugendes Argument vorgebracht hatte, fügte er hinzu: »Na komm schon. Was hältst du davon, wenn wir diese Bestie vergessen, von diesem vernebelten Strand verschwinden und uns die Stadt anschauen?«

Ich starrte in den Nebel, der nicht so aussah, als würde er sich bald verziehen. Trotzdem, wenn man wusste, wohin man schauen musste, entdeckte man hier und da einige wenige Lichtflecken. Ich deutete sie als Anzeichen dafür, dass sich ein wunderschöner Tag anbahnte.

Eigentlich machten wir hier Ferien; der Rat hatte uns diesen kleinen Ausflug als Belohnung für einen erfolgreich erledigten Auftrag geschenkt. Wir hatten einige Geister über die Brücke geführt, die viel zu lange in einem Schloss herumspukten – Geister, die kein anderer Seelenfänger, einschließlich Bodhi, zu einem Umzug hatte bewegen können, bevor ich die Sache in die Hand nahm. Bodhi hatte mir netterweise die Wahl des Ortes überlassen und sich mit keinem Wort beschwert, als ich mir St. John ausgesucht hatte. Meine Eltern hatten hier ihre Flitterwochen verbracht und so oft und so wehmütig davon gesprochen, dass ich diese Gelegenheit einfach ergreifen musste, um mir die Insel selbst anzuschauen. Allerdings hatten wir nicht viel Zeit, bevor wir wieder ins Hier und Jetzt zurückkehren, vor dem großen Rat erscheinen und uns um unseren nächsten Auftrag kümmern mussten. Und obwohl mir das alles bewusst war, sah ich ihn an und sagte: »Ich werde nirgendwo hingehen, bevor ich diesen Höllenhund nicht davon überzeugt habe weiterzuziehen.«

Riley - Im Schein der Finsternis -
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