ZEHN

 

Ich war von Nebel umgeben. Von dichtem, weißem, schimmerndem Nebel.

Angestrengt versuchte ich, durch ihn hindurchzusehen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass sich auf der anderen Seite ein Ort befand, an dem ich sein sollte.

Irgendein wichtiges Ziel, zu dem er mich unbedingt bringen wollte.

Ich schob mich voran, fuhr mit den Händen durch die Luft, um mir freie Sicht zu verschaffen, indem ich den Dunst wegschlug. Meine ersten Versuche zeigten keinerlei Erfolg. Tatsächlich schien der Nebel dadurch sogar noch dicker zu werden, aber dann begann er, sich nach und nach zu verziehen, bis ich schließlich vor einem einfachen, aber trotzdem sehr beeindruckenden Schloss stand, einer Art Festung mit einer massiven Steinmauer rundherum.

»Ist es das? Wolltest du mir das zeigen?« Ich warf Prinz Kanta einen Blick über die Schulter zu und sah, dass er bestätigend nickte.

Und irgendetwas an der Art, wie er es betrachtete, an der Art, wie er seine Augen zusammenkniff und wie sein Kehlkopf sich leicht auf und ab bewegte – an der Art, wie er ganz stumm und still dastand –, sagte mir, dass es zumindest für ihn mehr war als irgendein alter Palast, über den wir zufällig gestolpert waren.

Sein Gesicht trug einen Ausdruck, den ich nur allzu gut kannte.

Es war der gleiche Ausdruck, den mein Gesicht manchmal trug, wenn ich mich in den Aussichtsraum schlich, mich in eine der Kabinen stahl, mich darin auf einem der harten Metallhocker niederließ, meinen gewünschten Ort eingab und das Alltagsleben meiner Schwester und meiner Freunde auf der Erdebene verfolgte.

Der Ausdruck einer unüberwindbaren Sehnsucht.

Der Ausdruck, den dein Gesicht annimmt, wenn du begreifst, dass das, was du am meisten auf der Welt geliebt hast, niemals dir gehören wird.

»Du warst also wirklich ein Prinz.« Ich schaute ihn mit neuer Ehrfurcht, aber auch mit einer gewaltigen Dosis Schuldgefühlen an. Ich fühlte mich schrecklich, weil ich meine Lektion immer noch nicht gelernt hatte – nämlich, dass man andere nicht nach dem Äußeren beurteilt, und weil ich an ihm gezweifelt hat, und das nur wegen seiner Klamotten und der Hütte, die er als Behausung gewählt hatte. Trotzdem konnte man mir dieses Urteil nicht vorwerfen. Schließlich hatten alle Beweise eindeutig gegen ihn gesprochen.

»Das war ich tatsächlich.« Er nickte und drehte dem Ort den Rücken zu. »Das war ich tatsächlich.«

Er winkte mich zu sich und wollte uns wegführen, aber nachdem ich so hart dafür gearbeitet hatte hierherzukommen, war ich noch nicht bereit, so schnell wieder abzuhauen.

»Das war’s?« Meine Augenbrauen schossen nach oben, ich hob den Kopf und warf die Hände in die Luft. »Du hast dir ernsthaft die ganze Mühe gemacht, mich mit deinem speziellen Tee unter Drogen zu setzen, nur damit ich einen kurzen Blick auf irgendein altes Schloss werfen kann? Und jetzt willst du, dass ich wieder gehe? Entschuldige, wenn ich das so sage, aber ich finde, dass du mich, nachdem du mir das alles zugemutet hast, zumindest ein wenig herumführen könntest, mir ein bisschen was zeigen könntest. Du könntest mich wenigstens durch das riesige Tor führen. Ich meine – das ist doch nicht zu fassen!«

Ich schüttelte den Kopf und begann, meine Augen zu verdrehen und war kurz vor dem kompletten Looping, als er sagte: »Es gibt noch viel mehr zu sehen, das kannst du mir glauben. Aber nicht hier. Dieses Gebäude existiert nicht mehr. Es ist schon seit vielen Jahrhunderten verschwunden. Du musst verstehen, dass alles auf der Erdebene nicht von Dauer ist. Alles. Die einzige Sache, auf die du in der physischen Welt zählen kannst, ist die Veränderung. Veränderung ist die einzige Konstante, die es gibt.«

Er deutete auf etwas hinter meiner Schulter. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass der Himmel, der einen Augenblick zuvor nur leicht dunstig gewesen, nun mit dicken Rauchwolken verhangen war. Der Ort, wo der Palast gestanden hatte, bestand nur noch aus einem Haufen Schutt und Asche. Die Erde war rot von Blut.

»Wir wurden überfallen«, erklärte er mit fester Stimme. Und als ich mich ihm wieder zuwandte, sah ich, dass die alten, abgerissenen Lumpen wieder da waren und die elegante Tunika ersetzten, die er vorher manifestiert hatte. »Infolgedessen bin ich hier gelandet.«

»Auf der Insel?« Ich rümpfte die Nase und stellte überrascht fest, dass wir plötzlich wieder an den Strand zurückgekehrt waren. Nur dass er irgendwie anders war. Allerdings konnte ich nicht genau sagen, auf welche Weise.

Er nickte und deutete wortlos auf ein riesiges Haus auf einem Hügel. Ein großes Gebäude wie auf einer Plantage – in der Art, wie man sie aus Filmen oder Schulbüchern kennt. Es war zwar nicht annähernd so groß wie der Palast, den er mir gerade gezeigt hatte, hatte aber eine ordentliche Wohnfläche zu bieten, soweit ich das sehen konnte.

Ich schaute zwischen Prinz Kanta und dem Haus hin und her, und mir wurde klar, dass es etwas zu bedeuten hatte. Es symbolisierte etwas, aber ich war nicht sicher, was das war. »Also bist du im Grunde genommen von einem afrikanischen Palast auf eine karibische Plantage gezogen und dann in die Strohhütte am Strand, wo du, aus welchem Grund auch immer, beschlossen hast, jetzt zu wohnen.« Ich drehte mich um und ließ meinen Blick über seine große Gestalt wandern, aber er schwieg und blieb unbewegt stehen. »Ich meine, du hast dich doch dafür entschieden, dort zu leben, richtig? Denn wenn nicht, also wenn du nicht zufrieden bist in dieser Art von …« Ich hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort, das sich nicht zu abwertend oder beleidigend anhören würde. Auf die Schnelle fiel mir nichts ein, also fuhr ich rasch fort. »Wie auch immer, du weißt doch, dass du dir ein neues Heim manifestieren kannst – ebenso leicht, wie du deine Kleidung manifestieren kannst, die du tragen willst?« Ich versuchte, seine Miene zu deuten, aber ich konnte nicht viel damit anfangen. »Ein Steinhaus, ein Schloss, es gibt keine Grenzen. Alles, was du tun musst, ist, es dir vorzustellen, dir auszumalen, dass du es besitzt, und schon gehört es dir – kinderleicht!«

Er wandte sich ab und drehte mir den Rücken zu. Ich muss sagen, dass mich das ziemlich nervte, denn ich war mit meinem Vortrag noch nicht am Ende. Im Gegenteil, ich fing erst damit an, wollte ihm von meiner Stellung als Seelenfängerin berichten und ihm anbieten, ihn zur Brücke zu begleiten, sobald wir hier fertig waren.

Aber als ich gerade dazu ansetzen wollte, warf er mir einen Blick über die Schulter zu, legte einen Finger an die Lippen und deutete nach vorne. »Du machst zu viel Lärm, Miss Riley Bloom«, flüsterte er. »Und deswegen begreifst du das Wesentliche nicht. Schau einfach nur zu. Sprich nicht. Lass die Geschichte auf dich zukommen.«

Okay, im Ernst, das vervierfachte in etwa meine Verärgerung. Ich meine, er hatte mich von meinen Freunden weggeführt, die dringend meine Hilfe brauchten, und mich von ihnen ferngehalten, indem er mir einen komischen Tee serviert und eine beliebige Ansammlung von nicht ganz so beeindruckenden Immobilienobjekten vorgeführt hatte.

Und jetzt sagte er mir, dass ich zu viel redete und besser den Mund halten sollte?

Zumindest hatte sich das für mich so angehört.

Und trotz alldem presste ich unwillkürlich die Lippen aufeinander und folgte mit dem Blick der Spitze seines Zeigefingers, bis ich einen Mann sah, der Prinz Kanta ähnelte, einen Mann, der, wie sich nach wenigen Momenten genauerer Betrachtung herausstellte, tatsächlich Prinz Kanta war, und der offensichtlich seine Tage mit Knochenarbeit auf dem Feld verbrachte.

»Das … das verstehe ich nicht«, platzte ich heraus und erinnerte mich zu spät daran, dass er mich gebeten hatte, nicht zu sprechen. Aber ich war verwirrt und brauchte dringend einige Antworten, und er war der Einzige in der Gegend, der sie mir geben konnte. »Ich dachte, du seiest ein Prinz? Ich dachte, du lebtest in einem Schloss in Afrika?« Er sah mich an und nickte bestätigend. »Also warum würdest du ein so bequemes Leben aufgeben und hierherkommen, wo du geschlagen und ausgepeitscht wirst, egal, wie hart du auch arbeitest?«

Und in diesem Moment wurde es mir schlagartig klar.

Bevor er antworten konnte, erkannte ich den Grund.

Prinz Kanta mochte zwar auf diese Insel gekommen sein, aber er hatte sich das nicht ausgesucht.

Prinz Kanta mochte ein Herrscher in Afrika gewesen sein, aber an diesem Ort regierte er nicht einmal sein eigenes Leben.

Er hatte sein luxuriöses Leben gegen das grauenhafte Leben eines Sklaven eintauschen müssen.

Er war gezwungen worden, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf der Plantage zu schuften und hatte grausame Schläge einstecken müssen, wann immer er unglücklicherweise seinem Herrn missfallen hatte.

»Vergänglichkeit.« Er nickte und riss sich von der trostlosen Szene los, um mir in die Augen zu schauen. »Wie ich dir vorher bereits sagte, Riley, nichts hält für die Ewigkeit. Wo wir beginnen, ist nicht immer das Gleiche wie das, wo wir enden.«

Ich schluckte – eine alte Gewohnheit von meiner Zeit auf der Erdebene –, wandte mich von dem Prinzen ab und beobachtete die schreckliche Szene, die sich vor mir entfaltete. Ich beobachtete eine Reihe von Verprügelungen, unmenschliche Folterungen, wobei eine davon so unaussprechlich, so barbarisch, so unvorstellbar grausam war, dass ich sie einfach nicht für echt halten konnte. Ich war sicher, dass er absichtlich die Wahrheit übertrieb, um mich zu beeindrucken.

Aber obwohl ich mich anstrengte wegzusehen, mich abwendete, meine Augen schloss und meine Hände auf meine Ohren presste, um diese schrecklichen, gequälten Schmerzensschreie auszublenden – trotz all der Vermeidungstechniken, die ich anwendete –, konnte ich alldem nicht entkommen.

Ganz gleich, wie sehr ich mich auch bemühte, mich abzuschirmen, die Szene spielte sich vor mir ab – hinter mir – um mich herum – in meinem Inneren.

Und da es keine Möglichkeit gab, sie anzuhalten, kein Mittel, um sie auszublenden, blieb mir keine andere Wahl, als sie bis zum Ende zu ertragen.

Also sah ich zu.

Ich beobachtete, wie eine Gruppe von Sklaven zusammengetrieben wurde. Es waren Sklaven, die sich anscheinend ungehorsam und aufrührerisch verhalten und damit den Plantagenbesitzer erzürnt hatten.

Ich sah zu, wie sie zu einem langen, unberührten Strand geschleppt wurden und dort bis zum Hals in den weißen Sand eingegraben wurden.

Ich schaute zu, wie sich ein grausamer und sadistischer Herr mit seinen Freunden bei einem »Bowlingspiel« amüsierte, bei dem die ungeschützten Köpfe der Sklaven als Kegel dienten.

Ich musste mir ansehen, wie ein Sklave nach dem anderen auf tragische, grauenhafte Weise viel zu früh sein Leben verlor.

Es war abscheulich.

Die wahre Bedeutung des Wortes grauenhaft.

Und ich konnte einfach nicht begreifen, dass jemand an etwas so Grausamem Spaß haben konnte.

Dennoch war es ein abstoßendes Stück Zeitgeschichte, das sich hier vor meinen Augen abspielte. Ich war dankbar, als Prinz Kanta nach einigen Minuten so mitfühlend war und die Szene aus meiner Sicht entfernte.

Und obwohl ich nicht länger dazu gezwungen war, mir das anzuschauen, blieben die Bilder haften und wollten mir nicht aus dem Kopf gehen. Sie erregten Übelkeit in mir und machten mich traurig und unglaublich wütend, wenn ich daran dachte, dass niemand versucht hatte, dem Einhalt zu gebieten.

Ich wollte gerade diese Gedanken äußern und dem Prinzen sagen, wie sehr mir das alles leidtat, als eine neue Szene auftauchte.

Eine, in der die Rollen vertauscht waren.

Die Unterdrückten erhoben sich, schlossen sich zusammen und bezwangen systematisch ihre Unterdrücker.

Eine Revolte war im Gang – Sklaven gegen ihre Herren.

Und hätte in meiner Brust noch ein Herz geschlagen, dann wäre es in diesem Augenblick sicher vor Freude gehüpft. Ich war mir sicher, dass ich gleich einige Beispiele für die dringend nötige Gerechtigkeit sehen würde.

Der Erste, der dran glauben musste, war der sadistische Plantagenbesitzer. Und ich würde lügen, wenn ich nicht zugäbe, dass ich eine Hand zur Siegerfaust ballte und sie begeistert in die Luft streckte.

Aber meine Freude dauerte nicht lange an, denn Prinz Kanta legte seine Hand auf meine und schob sie langsam zurück nach unten. Dann deutete er schweigend mit einer Kopfbewegung auf die Szene, die als nächste erschien.

Sie handelte von der Tochter des Herrn – und sie folgte ihrem Dad direkt danach.

Ein Mädchen, das meiner Schätzung nach etwa so alt war wie ich.

Ein Mädchen mit braunen Locken, ausdrucksvollen haselnussbraunen Augen, einer langen, aparten Nase, einem übertrieben verzierten Kleid mit einer großen gelben Schleife, die um die Mitte gebunden war, und einem kleinen schwarzen Hund an ihrer Seite.

Ein Mädchen, das ich sofort als Rebecca erkannte.

Riley - Im Schein der Finsternis -
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