DREIZEHN

 

Es war anders als zuvor.

Zuvor war es eine Hölle gewesen, ganz speziell für mich gemacht. Und ich war sehr erleichtert, eine eher allgemein gehaltene, weniger auf mich persönlich zugeschnittene Form vorzufinden.

Obwohl ich mich nicht in einer Hölle mit Flammen, Dreizacken und Teufelshörnern befand, was man bei einem Besuch an einem solchen Ort erwarten könnte, war alles hier dunkel, düster und erinnerte auf eine eigene Art und Weise an die Hölle.

Es war so ruhig, verlassen und still, dass ich das merkwürdige Gefühl hatte, mitten in einem Stillleben oder in einem Landschaftsgemälde gelandet zu sein. Anstelle der glitzernden Bäche und von der Sonne durchfluteten Gärten, die man oft auf Ölbildern sieht, befand sich hier jedoch eine total vertrocknete, öde Landschaft. Gemalt mit einer Palette, auf der sich nur verschiedene Schwarz-, Grau- und dunkle Rotbrauntöne befanden. Wie ein Wald, der sich noch nicht von den bleibenden Schäden eines Feuers erholt hatte, das bereits vor langer Zeit dort gewütet hatte. Und nichts hinterlassen hatte, außer verkohlten, kahlen Bäumen, ausgetrockneten Seebetten und einer unendlichen Flut von Ascheblättern, die sich in Luft hoben, kreisten, herumwirbelten und dann wieder nach unten schwebten.

»Wo sind wir?«, flüsterte ich. Obwohl ich weder Rebecca noch sonst jemanden sehen konnte, hatte ich aus irgendeinem Grund Angst, belauscht zu werden.

»Wir befinden uns in ihrer Welt«, antwortete Prinz Kanta ernst. »Rebeccas Herz und auch ihre Seele sind voller Zorn und Hass. Und das ist das Ergebnis.«

Ich schaute mich um, neugierig, was es hier sonst noch geben könnte und ob es tatsächlich möglich war, die gerundeten, glatten Wände, die uns von allem anderen abtrennten, zu sehen. Außer verbrannter Erde konnte ich nicht viel entdecken, doch meine Neugier war nicht so groß, um mich auf eigene Faust auf den Weg zu machen. Es widerstrebte mir, dem Prinzen von der Seite zu weichen, und, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie schlimm es noch werden würde, war ich ziemlich sicher, dass das hier nur der Anfang von dem war, was das böse Geistermädchen im Schilde führte.

Außerdem hatte ich keine Zeit für eine Besichtigungstour. Ich musste Bodhi und Buttercup finden, damit wir von hier verschwinden konnten.

»Weiß sie, dass wir hier sind?«, fragte ich und ahnte seine Antwort bereits, bevor er nickte.

»O ja. Das ist ihre Welt. Sie weiß alles, was hier vor sich geht.«

»Und was nun?« Ich sah zu dem Prinzen hoch, biss mir auf die Lippe und hoffte, dass er ein oder zwei gute Ideen hatte, denn ich hatte keinen blassen Schimmer. »Wo finden wir sie? Wohin gehen wir? Was tun wir jetzt?«

Obwohl ich fest entschlossen war, alles zu befolgen, was er vorschlug, sah Prinz Kanta mich nur an und erwiderte: »Die Reise findet hauptsächlich hier statt.« Er tippte sich seitlich an den Kopf, an die Stelle zwischen seiner Schläfe und seinem Ohr. »Und weniger hier«, fügte er hinzu, während er mit seinem ausgestreckten Arm einen Kreis über die weite Fläche verbrannter Erde beschrieb.

Als ich das hörte, kostete es mich so ziemlich meine gesamte Willenskraft, um nicht aufzustöhnen und die Augen zu verdrehen, das muss ich zugeben, aber irgendwie gelang es mir, mich zurückzuhalten. Ich war sehr dankbar, ihn in meiner Nähe zu haben, dennoch war er ohne Zweifel ein Spinner. Allerdings hatte er einiges durchgemacht und Dinge erlebt, die sicher beinahe jeden irgendwann an den Rand seines Verstands bringen würden. Als ich mir das vor Augen führte, bemühte ich mich, so gut ich konnte, ihn nicht zu verurteilen, aber das alles ging mir, wie ich ungern zugebe, ziemlich auf die Nerven.

Also sagte ich stattdessen nur: »Äh, könntest du mir das erklären?«

Ich beobachtete, wie er ein paar Schritte vorwärtsging und sich einen Moment Zeit ließ, um seinen Blick prüfend über den Boden gleiten zu lassen. Er presste dabei eine Hand fest gegen seine Stirn und schützte seine Augen vor dem Ascheregen, der immer noch auf uns herunterfiel. Dann ließ er die Hand unvermittelt sinken, hob einen alten, verbrannten Ast vom Boden auf und zeichnete mit dem spitz zulaufenden, abgebrochenen Ende einen kleinen Kreis in die Ascheschicht. »Der Kreis stellt dich dar«, erklärte er. Er schaute mich an, um sich zu vergewissern, dass ich das verstanden hatte, bevor er einen weiteren, viel größeren Kreis daneben malte. »Und das ist die Seifenblase.«

Ich nickte. So weit, so gut. Das hatte ich begriffen.

Nachdem er eine Zickzacklinie gezeichnet hatte, die den gesamten Raum zwischen dem kleinen und dem großen Kreis ausfüllte, fügte er hinzu: »Und irgendwo hier befinden sich deine Freunde.«

»Ja, Bodhi und Buttercup«, erwiderte ich, erpicht darauf weiterzukommen. Ich war sicher, dass jetzt der gute Teil kommen würde – der Teil, in dem er mir sagen würde, wo genau ich die beiden finden konnte.

»Also, mit dem, was du über diesen Bodhi und über … Buttercup weißt …« Der Name meines Hundes klang aus seinem Mund auf komische Weise fremd. Er tippte mit dem Stock auf die Erde. »Wo würdest du beginnen, nach ihnen zu suchen?«, fragte er. »Was wäre der letzte Ort, an den sie jemals zurückkehren wollen würden? An welchem Ort würde das größte Trauma oder die schlimmste Kränkung auf sie warten?«

Meine Wangen röteten sich, und ich wandte rasch den Blick ab.

Ich hatte keine Ahnung, was ich ihm darauf antworten sollte, und ich fühlte mich unwillkürlich zutiefst beschämt deswegen.

Natürlich, Bodhis viel zu früher Tod durch Knochenkrebs schien die naheliegendste Möglichkeit zu sein, aber, na ja, so ganz sicher war ich mir nicht, denn ich erinnerte mich an die lässige Art, wie er mir davon erzählt hatte, die Art, wie er mit den Schultern gezuckt und es mit einem Spruch abgetan hatte: »So läuft es eben nun manchmal, oder?«

Ich meine, war das nur gespielte Tapferkeit gewesen?

Die Nummer eines großen Aufschneiders, in der er mir den harten Kerl vorspielte, damit ich ihn respektierte und er bei mir einen guten Eindruck machte?

Hatte er seinen frühen Tod wirklich so locker hingenommen?

Oder hatte er ihn erst an dem Punkt akzeptiert, an dem er ohnehin nichts mehr daran ändern konnte – als er bereits tot war und, verflixt noch mal, nichts mehr dagegen tun konnte?

Obwohl ich mich bemühte, meinen Platz und meine Bestimmung auf der anderen Seite zu finden, muss ich offen und ehrlich zugeben, dass es, wenn ich an meinen verfrühten Abgang dachte, immer noch Augenblicke gab, in denen ich stinksauer war, weil ich niemals, niemals das sein würde, was ich mir so sehr gewünscht hatte: dreizehn.

Das einzige wirkliche, tatsächlich realisierbare, anscheinend erreichbare Ziel, das ich hatte, war, ein richtiger, waschechter Teenager zu werden – und das wurde mir mir nichts, dir nichts, gestohlen.

Aber vielleicht empfand auch nur ich so. Soweit ich wusste, sah Bodhi diese Dinge ganz anders als ich.

Ich wandte mich wieder Prinz Kanta zu und zog die Schultern nach oben. »Da war dieses Mädchen«, sagte ich. »Ein sehr hübsches, dunkelhaariges Mädchen. Und obwohl ich weiß, dass es sich um Rebecca in Verkleidung handelte, konnte Bodhi das nicht erkennen. Für ihn war sie jemand, den er wiedererkannte, und er rannte hinter ihr her, als …« Ich hielt inne, um die Szene noch einmal in Gedanken vor mir ablaufen zu lassen und um mich an seinen Gesichtsausdruck und die Sehnsucht in seiner Stimme zu erinnern. »Er rannte hinter ihr her, als hätte er sie sehr, sehr vermisst. Aber mehr weiß ich darüber leider nicht.«

Der Prinz kniff die Augen zusammen und sah sich hastig um, als hätte ihn eine plötzliche Veränderung in der Gegend aufgeschreckt. Er richtete sich auf und straffte die Schultern. »Behalte das im Gedächtnis. Was auch als Nächstes passieren mag, egal, wo du dich wiederfinden wirst, konzentriere dich weiter auf deine Freunde. Lass sie nicht an dich heran. Lass es nicht zu, dass sie eine persönliche Sache ins Spiel bringt. In dem Moment, in dem du dich auf dich selbst konzentrierst und deine Gedanken von deinen Freunden abgelenkt sind, hast du verloren.« Er schaute mich an, und unsere Blicke trafen sich kurz, bevor er sich wieder abwandte. »Schaffst du das?«, fragte er.

Eigentlich wollte ich lächeln und nicken und beide Daumen in die Luft strecken, um Zuversicht zu zeigen: Zum Teufel, ja. Das kann ich, kein Problem – überhaupt kein Problem!

In Wahrheit stand ich einfach nur da und starrte ihn mit offenem Mund an.

Die Worte »in dem Moment, in dem deine Gedanken von deinen Freunden abgelenkt sind, hast du verloren« rasten mir wie wild durch den Kopf.

Denn, ehrlich gesagt, gehörte es nicht gerade zu meinen Stärken, mich auf etwas zu konzentrieren. Eigentlich besaß ich die schlechte Angewohnheit, von einer Sache zur anderen zu springen. Und was meine Gedanken betraf … Na ja, meistens herrschte in meinem Gehirn eine gewaltige Unordnung.

Aber ich bekam unglücklicherweise nicht die Chance, meine Bedenken auszusprechen. Stattdessen stand ich da, stumm und mit weit aufgerissenen Augen, als Prinz Kanta flüsterte: »Sie ist hier.«

Und das war das Letzte, was ich hörte, bevor ich von dem Prinzen getrennt und noch tiefer in ihre Welt hineingezogen wurde.

Riley - Im Schein der Finsternis -
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