EINUNDZWANZIG

 

Buttercup und ich schlugen eine Richtung ein, Bodhi die andere. Wir gingen auf die gequälten Seelen zu, die uns am nächsten standen, nahmen sie an der Hand und tauchten in ihre Welt des Schmerzes ein, bis wir ihnen den kleinen Moment der Stille zeigen konnten, von dem aus sie ihrer Hölle entfliehen konnten.

Und wenn ihr glaubt, das klinge ganz einfach, wenn ihr denkt, das sei kinderleicht, dann lasst mich euch sagen, dass es das keineswegs ist.

Nicht einmal ansatzweise.

In Wahrheit waren wir einigen sehr düsteren Dingen ausgesetzt. Und auch einigen beängstigenden, ziemlich schrecklichen und sehr traurigen Sachen. Und was mich betrifft, kann ich nur sagen, dass ich Leid gesehen habe, das ich mir zuvor niemals hätte vorstellen können – und mir auch niemals hätte ausmalen wollen.

Ich spürte den Schlag der Peitsche auf meinem nackten Rücken, der meine Haut aufplatzen ließ und zum Bluten brachte.

Ich sah mit unbeschreiblicher Angst eine Bowlingkugel vor mir, die absichtlich auf mich zugeschossen wurde, knapp an meinem Gesicht vorbeirollte und mich nur um wenige Zentimeter verfehlte.

Ich hörte das grauenhafte Knacken, als dieselbe Bowlingkugel einen weniger vom Glück begünstigten Freund traf, und ich wusste, dass noch einer meiner Brüder sein Leben hatte lassen müssen.

Ich machte trotzdem einfach weiter, bot Hoffnung, Liebe und Mitgefühl an – die drei stärksten Kräfte im Universum –, und wenn ich sah, dass sich eine kleine Lücke der Stille auftat, dann ermutigte ich sie, diese Chance zu nützen, sich darauf zu konzentrieren und den Spalt zu weiten, bis sie hineinschlüpfen konnten.

Bis er groß genug war, damit sie darin davonfliegen konnten.

Und währenddessen geschah etwas Merkwürdiges.

Jedes Mal, wenn wir eine Seele befreiten, wurde Rebeccas Welt, ihre dunkle, schimmernde Blase des Zorns, ein wenig kleiner.

Obwohl ich sie nicht sehen konnte, wusste ich aufgrund von Buttercups Verhalten – er senkte den Kopf und zog den Schwanz ein –, dass Rebecca sich irgendwo in unserer Nähe befand. Aber bis auf Weiteres wagte sie es nicht, sich uns zu zeigen, und, ehrlich gesagt, fühlte ich mich von der Aufgabe, die ich gerade bewältigte, so bestärkt, dass es mir wahrscheinlich egal gewesen wäre, wenn sie aufgetaucht wäre.

Plötzlich gab es etwas, was mir vorher gefehlt hatte: einen starken Glauben an mich selbst und die Verheißung auf eine Zukunft, an die ich nicht einmal zu denken gewagt hatte. Wenn es wahr war, was Bodhi gesagt hatte, dann würde sich vielleicht mein größter Traum doch noch erfüllen – ich würde dreizehn werden.

Aber vorher musste ich mich noch dieser wichtigen Angelegenheit widmen.

Jede Seele war anders. Keine glich der anderen. Einige waren wütend auf sich selbst, andere hatten einen Zorn auf andere, und wieder andere hatten ein so schreckliches Leben geführt, dass es unmöglich war, sie zu verstehen.

Aber ich war nicht hier, um über sie zu richten. Ich war hier, um ihnen eine gewisse Erleichterung zu verschaffen. Also schritt ich weiter die Reihen ab und durchforstete die Menge, bis ich irgendwann erstaunt feststellte, dass die Welt geschrumpft war und sich nur noch auf Bodhi, Buttercup, Prinz Kanta und mich beschränkte.

Dass ich mich riesig freute, den Prinzen wiederzusehen, wäre untertrieben ausgedrückt. Obwohl ich versuchte, nicht zu viel darüber nachzudenken und mich auf die Seele vor mir zu konzentrieren, würde ich lügen, wenn ich sagte, dass mich sein Verschwinden nicht schwer beunruhigt hätte.

Als ich ihn mit Bodhi bekanntmachen wollte, stellte ich fest, dass sie sich wohl kurz vorher schon begegnet waren.Und obwohl es niemand von uns aussprach, wusste ich, dass wir alle auf der Suche nach Rebecca waren. Ihre Welt war zusammengeschrumpft und hatte ihr nur noch einen Platz gelassen, an dem sie sich verstecken konnte – das große gelbe Haus, eine manifestierte Nachbildung des Gebäudes, in dem sie aufgewachsen war.

Ich starrte auf die Villa, nicht sicher, ob wir den ersten Schritt wagen sollten oder ob wir warten sollten, bis sie zur Vernunft kam, begriff, dass sie eine Niederlage erlitten hatte, und mit der weißen Fahne in der Hand herauskam.

Bodhi schlug vor, das Haus niederzureißen, um an sie heranzukommen, aber ich hatte eine andere Idee.

Ich schlüpfte schnell an den anderen vorbei und lief die Treppe hinauf, dicht gefolgt von meinen Freunden. Ich wusste genau, wo ich sie finden würde, denn ich hatte das ja schon durchlebt.

Geradewegs rannte ich auf den Schrank zu. Und, wie ich zugeben muss, dachte ich den Bruchteil einer Sekunde lang daran, irgendein Bild von einer Figur zu manifestieren, das aussah wie ihr Vater. Ich wusste, dass sie das herauslocken würde, entschied mich jedoch dagegen. Teils, weil es mir nicht richtig vorkam – es erschien mir grausam und hart – und teils, weil ich wirklich keine Ahnung hatte, wie ich das anstellen sollte. (Ich machte mir im Geiste eine Notiz, mich später danach zu erkundigen.)

Vor der Tür blieb ich stehen und warf einen Blick über meine Schulter. Der Prinz und Bodhi nickten mir ermutigend zu, Buttercup klopfte mit seinem Schwanz auf den Boden.

Ich packte den Türknauf und riss die Tür auf. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, mich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Zuerst sah ich nur ihre glänzend braunen Stiefel, den Saum ihres Rüschenkleids und eine Pfote ihres Hundes, den sie an ihre Brust presste. Nachdem ich die Kleider, die an den Bügeln hingen, zur Seite geschoben hatte, konnte ich auch den Rest von ihr sehen.

Unsere Blicke trafen sich. Und einen Augenblick lang war ich mir unsicher, ob ich das wirklich hier zu Ende führen konnte. Aber der Gedanke wurde sofort weggefegt von etwas, was ich nur als Gedankenwelle bezeichnen kann – eine wunderbarere Woge aus Liebe und Unterstützung, die von meinen Freunden kam.

Von dieser Welle gestärkt, sah ich Rebecca an. »Es ist vorbei«, erklärte ich ihr. »Alles ist vorbei. Nur du bist noch hier, und es ist an der Zeit, dass du herauskommst.«

Falls ich mir irgendwelche Illusionen gemacht hatte, dass diese Sache einfach zu lösen sein würde, hatte ich mich gründlich geirrt.

Rebecca hatte nicht vor, irgendwohin zu gehen. Und das gab sie mir deutlich zu verstehen, während sie mich anschrie, mich beschimpfte, fluchte und tobte.

»Er wird nicht kommen«, erklärte ich ihr und wehrte jeden verbalen Angriff ab, indem ich ihn einfach an mir abprallen ließ. »Dein Vater ist gegangen. Er ist schon vor langer Zeit weitergezogen. Das bedeutet, dass es keinen Sinn hat, das alles noch einmal aufleben zu lassen.«

Sie verkroch sich noch tiefer in den Schrank, drückte ihren Hund noch fester an sich und trat mit ihren Stiefeln nach mir. Und als ihr klar wurde, dass ich nicht weggehen würde, dass keiner von uns sich von der Stelle bewegen würde, tat sie das Unvorstellbare.

Sie ließ ihren Hund los und hetzte ihn auf Buttercup.

Ich schrie auf.

Ich konnte nicht anders.

Der Anblick dieses Biests, das auf meinen Hund losging, führte dazu, dass ich mich nicht mehr konzentrieren konnte.

Doch glücklicherweise hatte ich Rückendeckung.

Unterstützung von jemandem, der sich von alldem nicht im Geringsten aus der Fassung bringen ließ.

Und nein, ich spreche nicht von Bodhi oder sogar Prinz Kanta – ich hörte, wie beide nach Luft schnappten – , sondern ich meine Buttercup.

Mein süßer gelber Labrador sah, wie sich der Hund zu seiner hundertfachen Größe entwickelte und reagierte mit dem Apportierspiel, das er, bevor das hier alles begann, gespielt hatte. Er manifestierte einen hellgrünen Tennisball, genau so einen wie den, mit dem wir gespielt hatten, ließ ihn in Richtung Tür springen und den Gang hinunterrollen, bellte dann und wedelte begeistert mit dem Schwanz, während der Höllenhund dem Ball hinterherjagte.

Als Shucky die Treppe hinuntergaloppierte und zur Eingangstür hinausschoss, hörte ich Rebecca aufschreien. »Nein, nein!« Sie begriff, dass ihr Hund, dank meines Labradors, sich nun auf der anderen Seite ihrer Kugel befand.

Wir versuchten, sie davon zu überzeugen, dass sie ihm folgen sollte, aber sie weigerte sich. Selbst nachdem wir den Schrank und anschließend das ganze Haus abgebaut hatten und ihr zeigten, wie klein ihre Welt geworden war, weigerte sie sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.

Stattdessen beschloss sie zurückzuschlagen, indem sie alle möglichen hasserfüllten, Wut entfachenden Erinnerungen und jede Naturkatastrophe, die ihr in den Sinn kam, manifestierte.

Aber wir blieben ruhig, konzentrierten uns und hielten zusammen. Jeder von uns konnte sich glücklicherweise zu dem Moment der Stille zurückziehen, den sie uns nicht mehr nehmen konnte.

»Was nun?« Ich schaute zwischen dem Prinzen und Bodhi hin und her und wartete auf kluge Worte oder eine Anweisung.

»Wir werden sie zurücklassen.« Der Prinz zuckte die Schultern. »Jetzt, da meine Brüder und Schwestern befreit sind, ist es Zeit für mich zu gehen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Platz vor der Kugel, wo alle standen und zu uns hereinschauten. »Ich habe gehofft, sie erreichen zu können, doch das scheint noch nicht möglich zu sein. Und das tut mir sehr leid. Ich habe wohl auf ganzer Linie versagt.«

Bodhi stimmte ihm zu, dass wir alle gehen sollten und möglicherweise an einem anderen Tag zu diesem traurigen, zornigen Mädchen zurückkehren sollten, aber ich hatte eine ganz andere Idee.

»Ich weiß genau, wie wir sie von hier wegbekommen«, erklärte ich. »Folgt mir.«

Riley - Im Schein der Finsternis -
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