DREIUNDZWANZIG

 

Als wir das Sommerland erreichten, setzten sie die Sänfte auf das dichte, weiche Gras. Jeder der Sklaven legte für einen Moment seine Hände auf das Glas und wünschte ihr Frieden. Schließlich trat Prinz Kanta vor und sagte: »Du hast meine Brüder und Schwestern befreit. Dir, Miss Riley Bloom, haben wir es zu verdanken, dass sie jetzt nicht nur körperlich, sondern, was viel wichtiger ist, auch geistig nicht mehr unterjocht sind. Ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass wir dir ewig dafür dankbar sein werden, dass du uns den Weg gezeigt hast.«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte zu verhindern, dass meine Kehle sich vor Rührung zusammenschnürte, während ich meinen Blick über die lange Reihe gleiten ließ. »Ich habe ihnen nur diese kleine Nische der Stille gezeigt. Alles andere haben sie selbst gemacht.«

Ich meinte das ernst, denn ich wusste, dass sie den härtesten Teil der Arbeit geleistet hatten, indem sie sich geistig von all der Wut, dem Hass, den Herabwürdigungen und dem Chaos sowie auch von ihrem durchaus gerechtfertigten Zorn in Bezug auf ihr Schicksal in der Vergangenheit befreit hatte. Aber ich konnte es nicht ändern – ich war trotzdem ein wenig stolz auf mich.

Außerdem konnte ich es kaum erwarten, in einen Spiegel zu schauen, um zu sehen, ob diese ganze Geschichte mein Glühen verändert hatte.

Aber das würde noch eine Weile warten müssen. Eine ganze Weile. Jetzt musste ich noch einige Seelen hinüberbringen.

Als Prinz Kanta von mir zur Brücke schaute – eine ziemlich alte, wackelige Konstruktion aus abgesplittertem Holz und einigen Seilen –, nickte ich nur. »Ja, das ist sie. Auf der anderen Seite wartete das Paradies. Allerdings nennt man es dort nicht so. Dort heißt es das Hier, aber das wirst du alles schon bald erfahren«, erklärte ich.

»Und Rebecca?«, fragte er und drehte sich zu der Kugel um. »Wird sie jemals ihren Frieden finden und sich befreien können?«

Ich zuckte die Schultern. Darauf hatte ich keine Antwort. Da konnten wir alle nur Vermutungen anstellen.

Er bedeutete der Gruppe, vor ihm die Brücke zu betreten, und nachdem er mir und Bodhi die Hand geschüttelt hatte, kniete er sich hin, um Buttercup und Shucky den Kopf zu tätscheln. Dann strafften alle die Schultern und gingen in einer scheinbar endlosen Prozession auf die Brücke zu.

Und obwohl ich wusste, dass es in der Zukunft noch viel mehr Seelen zu fangen galt, und obwohl mir klar war, dass ich schon bald alle möglichen interessanten Aufträge bekommen würde, möglicherweise sogar an noch exotischeren Orten als auf einer der Jungferninseln wie St. John, war mir bewusst, dass die Erinnerung an diesen Auftrag immer einen besonderen Platz in meinem Gedächtnis einnehmen würde.

Nicht weil ich darauf bestanden hatte, meinen freien Willen durchzusetzen und im Alleingang zu handeln.

Nicht weil ich keine Ahnung gehabt hatte, wie das bei Aurora und Royce und dem Rest des großen Rats ankommen würde. Darüber hatte ich mir trotz des Erfolgs meiner Mission ständig Gedanken gemacht.

Sondern weil ich mit großer Wahrscheinlichkeit nie wieder etwas so Beeindruckendes sehen würde.

Während sie ihren Marsch fortsetzten, schwankte die Brücke und senkte sich, doch sie war trotzdem stark genug, um sie alle zu tragen. Schließlich durchbrachen sie auf halbem Weg den dichten Schleier. Dieser spezielle Teil des Sommerlands war eine stets feuchte, dunstige, nebelverhangene Gegend, und nun verwandelte sie sich in etwas Strahlendes, so als wäre es ein warmer Frühlingstag, wie man ihn von der Erdebene kannte.

Und schließlich begann alles zu glühen.

Ich wandte mich dem Prinzen zu und sah, dass er zögerte. Er schaute besorgt auf Rebecca, die immer noch kreischte, tobte und wütete. An ihrem unveränderten Verhalten störte mich am meisten, dass, wie mir klar war, der Prinz das Gefühl hatte, versagt zu haben.

»Das ist nicht gut«, flüsterte ich Bodhi zu. »Ich habe wirklich gedacht, sie würde zur Besinnung kommen, wenn sie diesen Ort erst einmal sieht, aber offensichtlich ist sie schon weiter abgedriftet, als ich geglaubt habe.«

Bodhi sah mich an, und der Strohhalm wippte in seinem Mund auf und ab, als er murmelte: »Vielleicht.«

Ich blinzelte – ich hatte keinen blassen Schimmer, was das heißen sollte.

»Ich meine, wir werden sehen.« Er zuckte die Schultern und nutzte es eindeutig aus, dass ich an seine Gedanken nicht herankam.

Sobald der letzte Sklave über die Brücke gegangen war, musste ich vollkommen verblüfft zusehen, wie Bodhi sich zu dem ehemaligen Höllenhund, der sich in eine winzige, kläffende, undefinierbare Promenadenmischung verwandelt hatte, hinunterbeugte, den hellgrünen Tennisball neben seinen Pfoten aufhob und damit direkt auf die Brücke zielte. Er lächelte triumphierend, als der Ball den Nebel, der die Mitte verschleierte, durchdrang, und der kleine Shucky kläffend und jaulend hinterherjagte.

»Hey! Das ist Betrug!«, rief ich und sah ihn völlig fassungslos an.

Bodhi warf mir jedoch nur einen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Niemand wurde zu irgendetwas gezwungen . Der Hund hat aus seinem eigenen freien Willen gehandelt. Er hat sich dazu entschlossen, dem Ball hinterherzulaufen, ebenso, wie du deinen freien Willen ausgeübt hast, als du hinter ihm hergelaufen bist.« Er ließ seinen Strohhalm in meine Richtung wippen. »Der freie Wille ist eine machtvolle Sache, Riley. Manchmal ist es der einzige Weg, deine wahre Bestimmung zu erkennen. Allerdings erfordert es eine gewisse Portion an Vertrauen – in dich selbst, in das Universum. Aber ich bin sicher, das weißt du bereits.«

Ich nickte, merkte mir sorgfältig seine Worte und speicherte sie für später ab. Ich wusste, dass ich sie noch einmal genau überdenken würde, aber im Augenblick beanspruchte Rebecca meine ganze Aufmerksamkeit.

Ihr fiel das Kinn herunter, ihre Augen wurden unnatürlich groß, und ihre Miene spiegelte Empörung und Überraschung wider, als sie ihren Hund fröhlich auf die andere Seite springen sah.

»Wo ist er hingegangen?«, fragte sie. In ihrer Stimme schwang mehr Verblüffung als Verärgerung.

»Er ist nach Hause gegangen«, erwiderte ich ruhig und sah ihr direkt in die Augen. »Und du darfst ihm gern nachgehen, wenn du möchtest. Die Wahl liegt bei dir.«

Sie schaute zwischen uns hin und her, und was ihre Miene ausdrückte, ließ mich zum ersten Mal an diesem Tag für sie hoffen.

Ich meine, versteht mich nicht falsch – um ihren Mund lag noch immer ein grimmiger Zug, aber trotzdem war es offensichtlich, dass der Kampf, der in ihr tobte, langsam ihren Körper verließ.

Sie schaute uns an, gefangen in einer Welt, in der sie bereits viel zu viel Zeit verbracht hatte. Allmählich öffneten sich ihre Fäuste. Sie starrte in das funkelnde, goldene Licht der Verheißung und flüsterte: »Meine Güte … es ist alles wahr!«

Ich gebe zu, dass ich sie zuerst vollkommen missverstand.

Ich war sicher, dass sie sich auf das Licht bezog, auf das Paradies, das Hier, wie immer man es auch nennen mochte. Es war ein fantastischer Anblick, und wenn man es einmal erblickt hatte, fühlte man sich auf unwiderstehliche Weise davon angezogen.

Aber ich täuschte mich.

Wie sich herausstellte, war es sogar noch besser als das.

Rebecca bezog sich nicht nur auf den wunderbaren goldenen Glanz – sie sprach von der Wahrheit, die sie darin liegen sah.

Eine Wahrheit, die sie so viele Jahre verleugnet hatte, tatsächlich waren es Jahrhunderte. Und nun stellte sich ihr diese Wahrheit auf eine Weise dar, der sie sich nicht mehr verschließen konnte.

Sie sah, wie ihr Leben tatsächlich gewesen war – und auch das Leben von Prinz Kanta. Aber trotz ihres schrecklichen, selbstsüchtigen Verhaltens wurde ihr auch klar, dass es sich nicht um den grauenhaften Ort der Bestrafung handelte, vor dem sie sich insgeheim gefürchtet hatte.

Es war ein Ort der Liebe, Wärme und tief empfundenen Verständnisses.

Ein Ort, an dem sie sich nie wieder so einsam fühlen würde, wie sie es ihr Leben lang getan hatte.

Sie sah auch den verschwommenen Umriss ihrer Mutter, die in der Mitte der Brücke auf sie wartete.

Und bevor ich mich’s versah, brach ihre ganze Welt zusammen.

Ihre Kugel zersplitterte.

Ihre Seifenblase zerplatzte.

Glasartige Scherben gingen wie ein Hagelschauer nieder, schwebten einen Moment in der Luft und glichen einer schimmernden Sternendecke, bevor sie vor ihren Füßen sanft auf die Erde sanken und mit dem Gras verschmolzen.

Sie ging auf den Prinzen zu, und ich spannte mich unwillkürlich an. Aber Bodhi legte mir seine Hand auf den Arm, Buttercup stupste mich leicht von der Seite an, und ich entspannte mich wieder. Und gerade als ich sicher war, dass sie vor ihm einen Knicks machen würde, so wie sie es bei mir getan hatte, machte sie etwas ganz anderes.

Etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.

Sie kniete sich auf den Boden und legte in einer Geste der äußersten Demut ihren Kopf auf seine Füße.

Sie weigerte sich, wieder aufzustehen, bis der Prinz sie sanft dazu drängte. »Kind, bitte. Das ist nicht nötig.«

Er griff nach ihrer Hand und half ihr auf, so dass sie ihm ins Gesicht schauen konnte. Dieses Mal war ihr Zorn verflogen. Er hatte sich mit der Seifenblase aufgelöst, und an ihre Stelle war ein junges Mädchen getreten, das großes Bedauern empfand und sich über alle Maßen beschämt fühlte.

»Es tut mir so leid«, sagte sie. Ihre Stimme war kaum zu hören. »Ich bedauere so sehr, was ich dir angetan habe – und was mein Vater mit dir gemacht hat …« Sie schüttelte den Kopf und wand sich bei der Erinnerung an das, was sie jahrhundertelang geleugnet hatte. Endlich sah sie die ganze Wahrheit, jede grauenhafte Tat, die er über sich hatte ergehen lassen müssen. Und in diesem Moment wusste ich, dass die alte Rebecca verschwunden und eine neue an ihre Stelle getreten war. »Ich habe keine Ahnung, wie ich das jemals wiedergutmachen soll, aber ich verspreche, dass ich das irgendwie tun werde. Ich werde alles tun, was ich kann. Du musst mir nur sagen, womit ich beginnen soll.«

Ihre Augen und ihre Wangen glitzerten, als ein Schwall kristallförmiger Tränen über ihr Gesicht lief. Und ich beobachtete verblüfft, wie der Prinz sich nach vorne beugte, eine dieser Tränen mit der Fingerspitze auffing und sie in einen wunderschönen Olivenzweig verwandelte.

»Das ist nicht nötig.« Er legte den Zweig auf ihre ausgestreckte Hand. »Ich habe dir schon vor langer Zeit vergeben. Ich habe nur darauf gewartet, dass du dich selbst von deinem Zorn befreien kannst. Glaub mir, die körperlichen Qualen, die ich als Sklave erleiden musste, waren nichts im Vergleich zu dem Leid in der Seifenblase, wo mich meine eigenen Gedanken plagten, meine eigenen Erinnerungen an die grauenhaften Dinge, die mir angetan wurden – und auch an die schrecklichen Dinge, die ich anderen zugefügt hatte.« Er hielt inne und vergewisserte sich, dass sie ihn verstanden hatte, bevor er ihr seinen Arm entgegenstreckte. »Also, was sagst du? Sollen wir gehen?«, fragte er.

Sie nickte leicht und hakte sich bei ihm unter. Die beiden blieben vor uns stehen, und Rebecca sah mich an. »Es tut mir so leid, ich …«

Aber ich hob meine Hand und unterbrach sie sofort. »Kein Problem«, erklärte ich. »Glaub mir, das ist bestimmt kein Abschied für immer. Das Hier und Jetzt mag zwar ein riesiger Ort sein, aber ich bin mir sicher, dass ich dich wiedersehen werde. Ich werde mich einfach nach dem Mädchen mit der hellgelben Schleife und dem Glitzerkleid umschauen.«

Sie sah an sich herunter, und es war ihr offensichtlich peinlich, in einem solchen Aufzug dazustehen, während der Prinz Lumpen trug.

Also manifestierte er sofort eine neue Tunika für sich, und sie nützte die Gelegenheit, um sich etwas weniger Auffälliges und nicht ganz so Buntes anzuziehen.

Nachdem wir uns die Hände geschüttelt und uns mit einer Umarmung tränenreich voneinander verabschiedet hatten, wandte ich mich ab. Nun schien alles endgültig vorbei zu sein, doch dann rief der Prinz noch einmal: »Miss Riley!«

Ich warf einen Blick über die Schulter. Rebecca und Prinz Kanta standen kurz vor der Brücke, und erfreut stellte ich fest, dass ich auch mein zweites Ziel erreicht hatte.

Es war mir nicht nur gelungen, diese Seifenblase aufzureißen und all diese verlorenen Seelen ihrem für sie vorgesehenen Schicksal zuzuführen, sondern nun hatte mich der Prinz dafür mit einem ganz besonders warmen und innigen Lächeln belohnt, bei dem er mir seine weißen Zähne und seine Grübchen zeigte.

»Was war das denn?«, wollte Bodhi wissen und ließ seinen Blick zwischen uns hin und her gleiten.

Aber ich zuckte nur die Schultern, lächelte und winkte dem Prinzen zum Abschied zu. »Glaub mir, das würdest du nicht verstehen.«

Riley - Im Schein der Finsternis -
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