ELF
Als ich meine Augen öffnete, starrte ich direkt auf Prinz Kantas schwielige, nackte Füße. Meine Wange war fest gegen die geflochtene Grasmatte gedrückt, und mein Körper lag auf der Seite.
Ich begriff, dass ich, obwohl ich alle diese Dinge gesehen hatte, tatsächlich nirgendwo hingegangen war.
Ich hatte mich nicht von diesem Strand wegbewegt, nicht einmal einen Fuß vor diese Hütte gesetzt.
Der Tee hatte diese Reise bewirkt.
Ich rappelte mich auf, und während ich Prinz Kanta ansah, überschlugen sich in meinem Kopf eine Menge widersprüchliche Gefühle.
Ich war sprachlos.
Vollkommen baff und fassungslos.
Ein Zustand, in dem ich mich selten befinde.
Zu Prinz Kantas Verteidigung muss ich sagen, dass er nicht versuchte, mich zu drängen. Tatsächlich schien er absolut damit zufrieden zu sein, auf seinem Kissen zu sitzen. Er hatte seine Beine verkreuzt, die Füße auf die Knie gelegt und beobachtete gelassen das unaufhörliche Kommen und Gehen der Wellen. Und gab mir die Zeit, die ich wahrscheinlich brauchte, um einen Sinn in all den schrecklichen Dingen zu erkennen, die ich gerade gesehen hatte.
»Rebecca spukt also auf der Erdebene, weil sie ermordet wurde?«, mutmaßte ich vorsichtig. Ich hatte das Gefühl, irgendwo anfangen zu müssen, und das war ein Punkt so gut wie jeder andere. »Und wenn das stimmt, ist das auch der Grund, warum du hier herumgeisterst? «
Er wandte sich mir zu und betrachtete mich mit dem ihm eigenen endlos langen Blick. So lange, dass ich ein wenig nervös wurde und mich unbehaglich fühlte. »Nicht direkt«, erwiderte er schließlich.
Ich wartete darauf, dass er das irgendwie näher erläuterte. Als er keine Anstalten dazu machte, beschloss ich, mit voller Kraft vorzupreschen. »Ich schätze, dann habe ich es wohl nicht ganz verstanden. Ich meine, warum ist sie hier? Was soll diese Seifenblase und … und alles andere?« Ich zuckte zusammen, als meine Stimme sich plötzlich überschlug. Mir war klar, dass ich damit das volle Ausmaß meiner Verzweiflung zeigte. Ich wollte so gern irgendeinen Sinn dahinter sehen.
Bei meinem ersten Auftrag als Seelenfängerin hatte ich nicht lange gebraucht, um zu begreifen, dass es mir half, die Motive eines Geistes zu verstehen, die Gründe zu kennen, warum er sich an die Erdebene klammerte, wenn ich mich mit ihm beschäftigen musste.
Also wartete ich. Das beinahe quälende Schweigen schien sich lächerlich lange hinzuziehen. Ich wartete, bis Kanta mich schließlich ansah. »Rebecca geistert auf der Erdebene herum, weil sie wütend ist. Sehr, sehr wütend«, erklärte er. »Und obwohl ihre Ermordung tatsächlich der Grund für ihren Zorn ist, ist es nicht der Mord, der sie hier festhält. Nur ihre Wut ist dafür verantwortlich. «
Okay, in gewisser Hinsicht verstand ich das, aber in einer anderen ganz und gar nicht. Und mir war klar, dass er nicht der Typ war, der seine Antworten einfach so herausrückte, sondern darauf bestand, dass ich sie mir erarbeitete. »Ist das der Grund, warum auch du zurückbleibst? Weil du ebenfalls wütend über das bist, was dir passiert ist?«
Nervös verschränkte ich meine Finger, denn sein Gesicht nahm eine Reihe von unterschiedlichen Ausdrücken an, die nahelegten, dass ich ihn auf irgendeine Art beleidigt hatte und irgendwelche unsichtbaren Grenzen überschritten hatte. Doch dann tat er etwas, was ich am wenigsten erwartet hatte.
Er lächelte.
Na gut, es war eher ein angedeutetes Lächeln, aber seine Wangen wurden breiter, seine Lippen öffneten sich, und seine Mundwinkel zogen sich ein kleines Stück nach oben, gerade so weit, dass seine beiden Grübchen sichtbar wurden. Ich konnte es direkt vor mir sehen – das war der Auftakt zu einem wirklich wunderschönen Lächeln –, doch dann verschwand dieser Ausdruck so rasch von seinem Gesicht, dass ich mich fragte, ob er jemals da gewesen war.
»Ja, zu Beginn wurde ich durch meinen Zorn hier festgehalten.« Er nickte, und sein Gesicht wirkte wieder bedeutungsvoll und ernst zugleich. »Aber dann nicht mehr.«
Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen, dachte sorgfältig darüber nach und wiederholte sie im Stillen immer wieder, ohne sie auszusprechen. Trotz all meiner Bemühungen, ihnen auf den Grund zu gehen, verstand ich nicht, was er mir sagen wollte.
Offensichtlich hatte ich den Teil über den Zorn verstanden, aber wenn er nicht mehr wütend war und nicht mehr auf diese bestimmte Weise an die Erdebene gebunden war, warum blieb er dann hier? Warum klammerte er sich an eine solch grauenhafte Vergangenheit, wenn er doch problemlos an einen anderen Ort gehen könnte – an einen Ort, der viel besser war, als dieser hier?
Ich fand, ich sollte noch einen letzten Versuch starten und ihn auf meine Dienste aufmerksam machen. »Also, wenn du deinen anfänglichen Zorn überwunden hast, warum solltest du dann jetzt nicht die Brücke überqueren? Ich meine, ich will jetzt nicht prahlen oder so, aber Leute auf die andere Seite zu bringen, ist eigentlich meine Spezialität.«
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als ich die Worte aussprach, denn sie bestärkten mich. Sie erinnerten mich daran, dass ich eine Bestimmung habe, eine, die ich tatsächlich gut finde, und zumindest für einen Augenblick minderten sie meine Schuldgefühle gegenüber meinen Freunden, weil ich sie in diese Situation gebracht habe.
Aber falls Prinz Kanta mein Fachgebiet beeindruckte, nun, lasst es mich so sagen, dann gelang es ihm recht gut, das vor mir zu verbergen.
Anscheinend war er überhaupt nicht an der Brücke, an dem Hier und Jetzt oder an dergleichen interessiert. Es schien ihm nichts auszumachen, sich mit dieser muffigen Grashütte, den schäbigen Klamotten und dem komischen Tee zufriedenzugeben.
»Ich kann nicht frei sein, solange meine Brüder und Schwestern nicht ebenfalls frei sind.« Er sprach diesen kurzen Satz mit einem Akzent, der mir allmählich zu gefallen begann. Und trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Worte nicht das bedeuteten, was sie zuerst zu sagen schienen.
Es war, als würde er in Rätseln sprechen.
Als ob er etwas vor mir verbergen wollte.
Und das reichte aus, um mein Misstrauen wieder aufflammen zu lassen.
»Zu viele stecken hier noch fest. Ich kann meine Befreiung nicht genießen, solange sie nicht auch frei sind«, fügte er hinzu, aber auch diese Worte besänftigten mich nicht.
Wenn er so sehr davor zurückschreckte, dann sollte es mir recht sein. Wie auch immer, es war seine Entscheidung. Ich meine, möglicherweise hatte Bodhi Recht – vielleicht sollte ich einfach bei den Aufgaben bleiben, die mir der große Rat zuteilte, und alle anderen zögernden Seelen, die mir zufällig über den Weg liefen, ignorieren.
Auf jeden Fall war mir klar, dass ich mit jeder Minute, die ich in dieser Hütte verbrachte, weitere sechzig Sekunden verlor, in denen ich meinen Freunden hätte helfen können.
Ich stand auf und sah Prinz Kanta direkt in die Augen. Meine Stimme klang erregt und sogar ein wenig zornig. »Hör zu, es tut mir leid, wenn ich das sagen muss, aber ich verstehe nicht so recht, warum du mir das nicht gleich am Anfang hättest sagen können. Ich meine, warum all das?« Ich fuhr mit dem Arm durch die Luft. »Warum hast du mich hierhergeschleppt, mir diesen komischen Tee zu trinken gegeben, wenn du mir die ganze Sache ebenso gut auf dem Friedhof hättest erzählen können?« Ich funkelte ihn wütend an und spürte, dass meine Gefühle mich überwältigten, aber in diesem Augenblick war mir das egal. »Ich meine, du weißt doch, dass meine Freunde gefangen sind und dringend meine Hilfe brauchen, und trotzdem hast du mich hierhergeführt, anstatt mir die Hilfe zu geben, die du mir versprochen hast. Damit hast du nur meine Zeit verschwendet.« Ich schüttelte den Kopf und stapfte zum Eingang, ohne noch einen Blick über meine Schulter zu werfen. »Hör zu, falls du jemals diesen Ort verlassen willst, dann lass es mich wissen. Ich werde dann nachschauen, wann ich einen Termin in meinem Kalender frei habe.«
Ich hatte die feste Absicht, mich aus dem Staub zu machen. Mit einem Fuß stand ich bereits vor der Tür, als seine Stimme mich zurückhielt. »Der Tee heißt Erinnerungstee «, sagte er.
Ich blieb stehen und blickte über meine Schulter zurück. Er warf mir einen intensiven Blick zu.
»Und du hast Recht. Ich hätte dir die Geschichte erzählen können. Das wäre dann ganz einfach für dich gewesen. Aber ich habe mich aus einem bestimmten Grund für den Tee entschieden. Ich wollte, dass du diese Geschichte selbst siehst, und nicht meine möglicherweise voreingenommene Version davon hörst. Ich hätte dich auch direkt in diese Szene hineinversetzen und sie dich miterleben lassen können, aber das hielt ich für zu erschreckend, zu beängstigend für ein Kind deines Alters. Außerdem sind diese Dinge eher Rebeccas Gebiet. «
Ich kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Und obwohl ich sicher war, dass seine Worte alle in seinen Ohren einen Sinn ergaben – für mich bedeuteten sie nicht wirklich etwas.
Es war lediglich ein weiteres Rätsel.
Noch mehr von seinen geschickt gewählten, aber unsinnigen Worten, die noch mehr Zweifel in mir wachriefen.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, verzog die Lippen und trat einen Schritt vor. Wieder hielt mich seine Stimme auf. »Worte können verletzen oder heilen, Riley. Sie können benützt werden, um viele emotionale Landschaften zu malen. Und oft werden sie von demjenigen, der sie ausspricht, beeinflusst, wenn nicht sogar verzerrt. Es war nötig, dass du diese Geschichte mit deinen eigenen Augen gesehen hast, durch deinen eigenen Filter, mit deinen eigenen Neigungen und Vorurteilen, unbeeinflusst durch mich. Um dir deine eigene Ansicht über etwas zu bilden, musst du dir etwas unverfälscht anschauen können. Also, Riley, sag mir: Warst du nicht berührt von dem, was du gesehen hast? Ich bin gespannt darauf zu hören, wie du das wahrgenommen hast.«
Anstatt wegzulaufen und dem Prinzen Lebewohl zu sagen, was ich am liebsten getan hätte, drehte ich mich um, so dass ich ihm wieder direkt in die Augen sehen konnte, und versuchte, ihm die verwirrende Flut der Gefühle zu erklären, die ich empfunden hatte – Gefühle, die ich möglichst nie wieder erleben wollte. Aber jetzt, da ich sie gespürt hatte, als diese schrecklichen Szenen sich vor mir abgespielt hatten, würde ich sie nie wieder loswerden, das war mir klar.
Vielleicht würde ich sie später irgendwo in einer dunklen Ecke meines Gehirns verstauen können und nur selten hervorholen, aber wirklich verschwinden würden sie wohl nie.
Sie hatten sich bei mir festgesetzt und würden für immer bei mir bleiben.
Für solche Gefühle gab es keine Müllkippe.
Bevor ich mich’s versah, stand ich wieder in der Hütte. Ich lehnte mich gegen einen der Bambusstöcke, die das Dach trugen, und wich seinem Blick aus, während ich nach den richtigen Worten suchte, um es ihm zu erklären. Ein Teil von mir wollte etwas Freches, Schnippisches sagen – etwas, was meine Mom als vorlaut bezeichnen würde.
Die Worte lagen mir bereits auf der Zunge und brannten darauf, ausgesprochen zu werden, aber als ich ihn wieder anschaute, nun, dann verschwanden diese Worte und wurden durch eine ganze Reihe anderer verdrängt.
»Zuerst war ich verblüfft, dass du tatsächlich ein Prinz warst. Ich war mir sicher, dass du mir das vorgeschwindelt hattest.« Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu und war erleichtert, als ich sah, dass er eher amüsiert als beleidigt wirkte. Das nahm ich als Zeichen, weitersprechen zu können. »Ich fühlte mich schrecklich, als du alles verloren hast, und noch schlechter, als ich sah, wie man dich schlug. Und als die Revolte begann, na ja, da wollte ich in Jubel ausbrechen, aber dann …« Ich zögerte und bemerkte, dass er mich mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Nicken ermutigte fortzufahren. »Aber dann hatte ich den Eindruck, dass es sich um einen furchtbaren Teufelskreis der Gewalt handelte. Vor allem, als ich sah, dass die Sklaven rebellierten, um dann die Macht zu übernehmen und sich eine Reihe neuer Sklaven zu holen. Das erschien mir so sinnlos. Wie ein Kampf, den nie jemand wirklich gewinnen konnte. Eine endlose Wiederholung von Missbrauch. Und das machte mich sehr traurig.«
Wieder huschte ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht. Es erinnerte mich an die Art, wie die Sonne auf der Erdebene an einem trüben Tag kurz hinter den Wolken hervorlugte, gerade lange genug, um einen Hauch von Wärme zu schenken, bevor sie verschwand und alles wieder grau wurde.
Und das war genau der Moment, in dem ich mir ein zweites Ziel setzte.
Nachdem ich für Bodhis und Buttercups Befreiung gesorgt hatte, wollte ich den Prinzen zu einem richtigen Lächeln verhelfen.
Ich sah zu, wie er sich erhob. »Du hast Recht. Es ist tatsächlich ein Teufelskreis. Während meiner Herrschaft als Prinz hielt ich selbst Sklaven, bis mein Schloss überfallen wurde und ich als Sklave verkauft wurde. Als ich rebellierte und meinen Herrn bekämpfte, hoffte ich, diese Insel übernehmen zu können und dann andere so zu versklaven, wie ich versklavt worden war.« Er schüttelte den Kopf und musterte mich eine Weile von Kopf bis Fuß. »Ich habe beide Seiten dieses Wahnsinns erlebt, und jetzt, nachdem ich dir das alles gezeigt habe und dein tiefes Verständnis dafür sehe, halte ich dich für bereit für die Reise in Rebeccas Welt.«