ACHT

 

Ich wich zurück, schreckte zurück, vor allem. Ich hatte Angst und fühlte mich hilflos. Ich fragte mich, ob es irgendetwas gab, was ich tun konnte, um das, was ich angerichtet hatte, nicht noch schlimmer zu machen.

Ich hatte bereits ihre Namen gerufen, Rebecca abwechselnd angefleht und gedroht, und war jetzt kurz davor, komplett durchzudrehen und total hysterisch zu werden.

Meine Verzweiflung steigerte sich so sehr, dass ich tatsächlich mit dem Gedanken spielte, ins Hier zurückzukehren, um dort eine Art Hilfstruppe zusammenzustellen, die mich unterstützen würde. Doch dann hörte ich es.

Ich drehte mich um und sah mich argwöhnisch nach der Quelle um. Und beobachtete, wie es langsam aus dem Gebüsch hervorkam – ein Fuß, ein Bein, ein Rumpf, ein Kopf. Es kam auf mich zu und fragte: »Bist du Riley?«

Sein Blick bohrte sich in meine Augen. Hätte ich noch atmen müssen, dann wäre das wohl genau der Moment gewesen, in dem ich meinen Atem angehalten hätte, bis mein Gesicht blau angelaufen wäre und meine Augen beinahe aus den Höhlen gequollen wären.

Unter den gegebenen Umständen starrte ich einfach nur zurück. Ich versuchte, Wirklichkeit und Illusion voneinander zu unterscheiden, aber ich konnte nicht sagen, ob das, was ich vor mir sah, tatsächlich real war.

Obwohl er mir nicht im Geringsten bekannt vorkam und auch seine folgenden Worte mir nichts sagten, hieß das nicht, dass nicht doch Rebecca auf irgendeine Weise dahintersteckte.

Es bedeutete nicht, dass sie ihn nicht geschickt hatte, nur zu dem Zweck, mich einzuschüchtern.

»Woher weißt du, wie ich heiße?« Ich kniff meine Augen zu Schlitzen zusammen.

»Ich bin Kanta. Prinz Kanta«, erwiderte er mit sanfter, unbewegter Miene. »Und du, Riley Bloom, brauchst keine Angst zu haben. Zumindest nicht vor mir.«

Ich straffte meine Schultern und reckte mein Kinn nach oben. Und hoffte, auf diese Weise selbstbewusster und eindrucksvoller auszusehen, als ich wahrscheinlich zu Beginn gewirkt hatte. Ich hielt seinem Blick unverwandt stand und sagte: »Das beantwortet zwar nicht meine Frage, aber ich habe von niemandem etwas zu befürchten, nur um das klarzustellen. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, ich bin tot.«

Er lächelte flüchtig. Man hätte große, ein wenig schiefe, weiße Zähne, rosa getönte Lippen und zwei sehr tiefe Grübchen in seiner glatten, dunklen Haut bewundern können, wäre das Lächeln nicht so schnell verflogen. »So wie ich.« Er nickte und sprach die Worte auf eine hoheitsvolle, dennoch freundliche und gleichzeitig ernste Weise aus. Dann verbeugte er sich tief vor mir. Sein glänzender Kahlkopf senkte und hob sich wieder, bevor er den Blick aus seinen ebenholzschwarzen Augen auf mich richtete. »Normalerweise würde ich mir mehr Zeit für eine förmliche Vorstellung nehmen, aber ich hoffe, wir können das überspringen und uns sofort den anstehenden Aufgaben zuwenden.«

»Welchen Aufgaben?« Ich zog meine Augenbrauen hoch und sah mir die Einzelheiten genauer an. Extrem hohe Wangenknochen, eine breite Nase, volle Lippen, ein kräftiges Kinn, ein muskulöser Körper mit ultrabreiten Schultern, gekleidet in etwas, was man nur als einen abscheulichen Haufen Lumpen bezeichnen konnte.

Mein Blick wanderte über ein fleckiges, einst weißes Hemd, ordentlich gesteckt in eine dunkle, stark zerrissene, abgewetzte Hose, die an den Knien abgeschnitten und ausgefranst war, und ich fragte mich unwillkürlich, was für ein Prinz wohl so herumlaufen würde. Warum ein Mitglied eines Adels- oder sogar Königshauses sich so … schäbig anziehen würde.

Eigentlich hätte mich das nicht so sehr überraschen sollen, denn er war nicht der Einzige. Keiner der Geister, die ich bisher kennen gelernt hatte, hatte sich dazu entschlossen, einen Zahn zuzulegen, mit der sich ändernden Zeit Schritt zu halten, oder auch nur ein klein wenig das wundervolle Geschenk der sofortigen Manifestierung zu nützen. Dabei kam es einem Schlüssel gleich, mit dem man jederzeit jeden Schrank öffnen konnte, den man sich in seinen wildesten Träumen vorstellte.

Alle Geister, die ich bisher getroffen hatte, steckten – zu meiner großen Enttäuschung – freiwillig in einer Art tragisch unmodischen Zeitfalle und bestanden darauf, die gleichen Klamotten zu tragen, in denen man sie zum letzen Mal lebend gesehen hatte – unabhängig von dem Zeitpunkt.

»Ich entschuldige mich dafür, falls mein bescheidenes Auftreten dich erschreckt hat oder dich in irgendeiner Weise an meiner Echtheit hat zweifeln lassen.« Er entledigte sich sofort seiner Lumpen und manifestierte an ihrer Stelle eine aufwändig gemusterte, farbenfrohe Tunika. »Ich hoffe, dieser Stil missfällt dir nicht.«

Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg und ich peinlich berührt das Gesicht verzog. Und ich fragte mich unwillkürlich, wann ich endlich lernen würde, nettere Gedanken zu formulieren, da mich doch jetzt jeder in meiner Nähe (na ja, zumindest jeder, der tot war) beim Denken hören konnte. Oder wann ich zumindest (und das war einleuchtender, wenn man bedachte, dass es sich nun mal um mich handelte) endlich lernen würde, wie ich meine Gedanken abschirmen konnte.

Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil er das alles mitbekommen hatte, und fing an, mich zu entschuldigen, aber schon nach wenigen Worten winkte er ab. Er hob seine Hand und zeigte dabei eine mit Schwielen bedeckte Handfläche. »Das ist nicht nötig. Und wir haben auch keine Zeit dafür. Bitte erlaube mir, direkt zur Sache zu kommen, da es sich um eine Angelegenheit von äußerster Dringlichkeit handelt. Rebecca hat deinen guten Freund in die Falle gelockt, richtig?«

»Wie kommst du darauf?« Ich blinzelte, nicht sicher, ob ich ihm trauen konnte. Und nicht überzeugt davon, dass er mir tatsächlich eine Hilfe sein konnte.

»Ich weiß alles, was hier in der Gegend geschieht. Alles. Das schließt auch deinen Namen ein. Ich wusste von dir und von deinem Problem von dem Moment an, in dem es begann. Das bedeutet, dass mir auch klar ist, dass du meine Hilfe brauchst.«

Ein Teil von mir hätte am liebsten abgestritten, dass es ein Problem gab, vor allem, weil ich ein wenig Angst hatte.

Okay, vielleicht hatte ich auch große Angst. Ich meine, er war einfach aus den Büschen gesprungen, praktisch aus dem Nichts aufgetaucht und behauptete, über alles Bescheid zu wissen – und da ich seine Gedanken nicht hören konnte, hatte ich keine Ahnung, was seine Motive sein mochten.

Aber als ich in seine freundlichen Augen schaute, erkannte ich, dass dieser Gedanke eher an meiner paranoiden Seite lag.

Meine vernünftigere Seite sagte mir, dass ich tatsächlich Hilfe brauchte.

Und zwar pronto, gelinde gesagt.

Ich hatte keine andere Wahl, als nach einer Lösung zu suchen, die außerhalb meiner eigenen, zugegebenermaßen recht kläglichen Möglichkeiten lag.

Ich war viel zu verloren und zu ratlos, um auch nur einen Versuch zu starten, es allein zu schaffen.

Und das ist so ziemlich der einzige Grund, warum ich beschloss, diesen Sprung zu wagen – und mich dafür entschied, mein ganzes Vertrauen in diesen merkwürdigen, heruntergekommenen Fremden zu setzen, der behauptete ein Prinz zu sein, obwohl eine Menge Beweise dagegen sprachen.

Ich erlaubte meiner eher von Logik beherrschten Seite die Führung zu übernehmen, sah ihm direkt in die Augen und sagte: »Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche sie wirklich. Sie hat nicht nur meinen Freund, sondern auch meinen Hund.«

Riley - Im Schein der Finsternis -
titlepage.xhtml
dummy_split_000.html
dummy_split_001.html
dummy_split_002.html
dummy_split_003.html
dummy_split_004.html
dummy_split_005.html
dummy_split_006.html
dummy_split_007.html
dummy_split_008.html
dummy_split_009.html
dummy_split_010.html
dummy_split_011.html
dummy_split_012.html
dummy_split_013.html
dummy_split_014.html
dummy_split_015.html
dummy_split_016.html
dummy_split_017.html
dummy_split_018.html
dummy_split_019.html
dummy_split_020.html
dummy_split_021.html
dummy_split_022.html
dummy_split_023.html
dummy_split_024.html
dummy_split_025.html
dummy_split_026.html
dummy_split_027.html
dummy_split_028.html
dummy_split_029.html
dummy_split_030.html
dummy_split_031.html
dummy_split_032.html
dummy_split_033.html
dummy_split_034.html
dummy_split_035.html
dummy_split_036.html
dummy_split_037.html
dummy_split_038.html
dummy_split_039.html
dummy_split_040.html
dummy_split_041.html
dummy_split_042.html
dummy_split_043.html
dummy_split_044.html
dummy_split_045.html
dummy_split_046.html
dummy_split_047.html
dummy_split_048.html
dummy_split_049.html
dummy_split_050.html
dummy_split_051.html
dummy_split_052.html
dummy_split_053.html
dummy_split_054.html
dummy_split_055.html
dummy_split_056.html
dummy_split_057.html
dummy_split_058.html
dummy_split_059.html
dummy_split_060.html
dummy_split_061.html
dummy_split_062.html
dummy_split_063.html
dummy_split_064.html
dummy_split_065.html
dummy_split_066.html
dummy_split_067.html
dummy_split_068.html
dummy_split_069.html