SECHS
In derselben Art und Weise, wie sie aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder.
In einem aufblitzenden, schimmernden Lichtstrahl, der über die Gräber huschte und schließlich einfach verschwand.
Ich blieb allein auf diesem gruseligen Friedhof zurück, ohne ein Zeichen von dem Psychohund oder dem Psychomädchen. Zurück blieb nur die längst vergessene Erinnerung, die sie so wirkungsvoll ausgegraben hatte.
Der Eindruck klang nach, hielt sich hartnäckig und breitete sich sogar immer weiter aus, bis dieser einzelne Vorfall so viel Platz in meinen Gedanken einnahm, dass er alles mit Leichtigkeit übertrumpfte.
Einschließlich der Version, die, wie ich wusste, die wahre war.
Eigentlich hätte mir mein logischer Verstand mühelos sagen können, dass diese peinliche Szene, die ich noch einmal erlebt hatte, nur eine kurze Episode gewesen war, die sich nur einmal ereignet hatte, ein einziger flüchtiger Vorfall, der mich mit Sicherheit nicht für alle Zeit als Außenseiterin brandmarkte. Er hätte mich daran erinnern sollen, dass es mir gelungen war, schon kurz darauf darüberzustehen, nämlich bereits einige Tage später, als zwei meiner Klassenkameradinnen, Sara und Emma, sich eine Schere geschnappt hatten, um – zum großen Entsetzen ihrer Eltern – meinen Haarschnitt nachzuahmen. Aber mein logischer Verstand schien an diesem Tag nicht zu arbeiten.
Mein logischer Verstand hatte sich selbst einen kleinen Urlaub gegönnt und mich im Stich gelassen, wehrlos, bedrängt von diesen vor langer Zeit begrabenen Gefühlen der Peinlichkeit, bestürzt und kochend vor Wut. Als ich mir den Weg aus dem Friedhof bahnte, schaute ich mich unwillkürlich gründlich um und wünschte, ich könnte einen Platz finden, an dem ich diese Gefühle ablegen konnte – eine Art emotionale Müllhalde –, damit ich sie hinter mir lassen konnte und ihre Last nicht mehr mit mir herumschleppen musste.
Schon bald riss mich Bodhis Anblick aus meinen Gedanken. Er kämpfte sich durch den Nebel, der immer noch rund um den Friedhof waberte. Sein stechender Blick passte perfekt zu seinem stählernen Ton. »Okay, Riley«, begann er. »Du hast deinen Spaß gehabt und deine kleine Rebellion genossen. Jetzt befehle ich dir, mit mir zu kommen.« Er beugte sich vor und starrte mich auf eine Weise an, die so wirkte, als wetteiferten seine Miene und seine Stimme darum, wer strenger war.
Ich schaute zwischen Buttercup und ihm hin und her und zuckte zusammen, als mein Hund, der Bodhis Energie aufsaugte, mich mit einem Blick ansah, in dem reines Mitleid lag.
»Falls du es vergessen haben solltest – das hier sollte nur ein Urlaub sein. Eine kleine Auszeit, um uns zu entspannen, ein wenig Spaß zu haben und, ja, vielleicht um uns ein wenig besser kennen zu lernen, damit ich dich in Zukunft besser führen kann. Aber das Einzige, was ich bisher gelernt habe, ist die Tatsache, dass du noch eigensinniger bist, als ich am Anfang dachte. Ich meine, wenn ich dir sage, dass du …«
Ich unterbrach ihn an dieser Stelle, gab mich geschlagen und hob eine Hand. »Okay, okay«, sagte ich und ging rasch an ihm vorbei. Ich konnte es kaum erwarten, diesen gruseligen Friedhof zu verlassen und zurück in den Nebel zu kommen – all das hinter mir zu lassen, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn, und den Rest des Tages in Angriff zu nehmen. »Ich bin jetzt bereit, von hier zu verschwinden und die Stadt zu erkunden. Dieser Psychohund interessiert mich nicht mehr. Ehrlich«, fügte ich hinzu und ging noch ein Stück weiter. Da ich sein Schweigen fälschlicherweise für Skepsis hielt, wollte ich ihn davon überzeugen, dass mein plötzlicher Sinneswandel ernst gemeint war. Ich wusste nur allzu gut, dass ich, wenn mir das nicht gelang, einen hohen Preis bezahlen musste. Und dieser bestand aus einer endlosen Reihe von Fragen, die ich nicht beantworten wollte.
Aus mehr als nur einem Grund wollte ich ihm nicht erzählen, was ich gerade durchgemacht hatte – zumindest noch nicht so bald. Nicht, während ich noch darüber nachdachte und versuchte, einen Sinn darin zu erkennen.
»Du hattest Recht.« Ich nickte ein wenig zu heftig. Wahrscheinlich übertrieb ich es und tat zu viel des Guten, aber davon ließ ich mich nicht aufhalten. Ich hatte einen Fehler gemacht – einen schrecklichen, impulsiven Fehler. Ich hatte meine Fähigkeiten falsch eingeschätzt, und, was noch schlimmer war, hatte unterschätzt, wie ernst es war, wenn man den großen Rat verärgerte. Es war wie ein Anfall von Unzurechnungsfähigkeit gewesen, aber den hatte ich jetzt überstanden. Vollkommen. Von jetzt an würde ich folgen und tun, was mir gesagt wurde. Ich hatte bereits damit abgeschlossen. Ich hoffte, dass Bodhi das ebenfalls tun würde. »Also, was meinst du? Sollen wir gehen oder von hier wegfliegen? Wie auch immer, ich überlasse die Entscheidung dir. Mir ist beides recht.«
Ich blieb stehen. Und hörte auf zu sprechen. Blieb einfach so stehen, mit dem Rücken zu ihm, und zögerte, mich umzuschauen und festzustellen, woran ich war. Aber als auf meine Worte nur ein anhaltendes Schweigen folgte, wirbelte ich zu ihm herum. Ich war bereit, alles zu sagen oder zu tun, was nötig war, um von diesem Ort wegzukommen, doch dann begriff ich, dass er kein einziges meiner Worte gehört hatte.
Bodhi war beschäftigt.
Er schenkte mir nicht die geringste Aufmerksamkeit.
Tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Er hatte sich abgewandt und rannte in eine ganz andere Richtung los.
Er bewegte sich von mir weg und lief auf ein wirklich hübsches, dunkelhaariges Mädchen zu, dicht gefolgt von dem Verräter Buttercup.
Ich rief Bodhis Namen immer wieder, aber ohne Erfolg. Entweder hörte er mich wirklich nicht, oder er wollte mich nicht hören. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf die zierliche Figur gerichtet, die im Zickzack durch die dichte Baumgruppe lief.
Er war ganz und gar gefesselt von diesem Mädchen, dessen langes Haar auf und ab wippte und wie ein schimmernder schwarzer Umhang um sie herumwirbelte.
Die wunderschönen dunklen Augen des Mädchens funkelten und blitzten. Ihre schimmernden, glatten Wangen glühten, und ihr ganzes Gesicht erhellte sich und strahlte vor Begeisterung, Liebe und freudiger Erwartung, als sie sich lächelnd umdrehte und ihm mit einer Geste bedeutete, näher zu kommen.
Er rief ihr etwas zu, und seine Stimme klang sanft. Es war kaum mehr als ein Flüstern, aber trotzdem unmissverständlich. Sein Tonfall war unverkennbar, und der Anklang von Sehnsucht und Verlangen war nicht zu überhören, als Bodhi stockend rief: »Nicole … bitte … geh nicht. Warte auf mich!«
Er rannte durch das verdorrte Gras und zwischen Grabfeldern hindurch. Er holte auf und kam ihr immer näher, bis sie schließlich neben einem besonders knorrigen Baum stehen blieb und ihren Blick von Bodhi abwendete und auf mich richtete.
Und dann sah ich es.
Sah, was sich hinter dieser zierlichen und hübschen Fassade befand.
Aber ich war die Einzige, die es sah.
Diese Enthüllung war nur für mich bestimmt.
Bodhi sah immer noch, was er vorher gesehen hatte, und das war etwas ganz anderes.
Und bevor ich ihm etwas zurufen konnte, bevor ich ihn einholen oder ihn irgendwie warnen konnte, war er schon weg. Mir blieb nichts anderes übrig, als dabei zuzuschauen, wie sie einen ihrer feingliedrigen Finger hob und damit Bodhi lächelnd auf die Schulter tippte.
Nur einmal.
Leicht und schnell.
Aber das genügte, um ihn einzusperren.
Um alles einzusperren.
Mir blieben nur Buttercups klägliches Gewinsel, Bodhis leiser werdende, sehnsuchtsvolle Bitten und die schreckliche Wahrheit darüber, was gerade vor meinen Augen passiert war.
Rebecca.
Das schreckliche, grässliche Geistermädchen Rebecca.
Sie hatte, ihren Höllenhund mit den glühenden Augen neben sich, meinen Führer und meinen Hund hereingelegt und mir beide gestohlen.