ZWEIUNDZWANZIG

 

Das kannst du nicht machen«, meinte Bodhi, aber ich drehte ihm den Rücken zu, wild entschlossen, es durchzuziehen, ganz gleich wie sehr er protestieren mochte. »Du kannst niemanden zwingen, über die Brücke zu gehen. Das verstößt gegen alle Regeln. Und ich kann es nicht fassen, dass ich dir das zum wiederholten Male sagen muss, obwohl du es doch weißt.«

Ich warf dem Prinzen einen flüchtigen Blick zu – es war mir peinlich, mich vor ihm mit Bodhi zu zanken. Trotzdem hatte ich die feste Absicht, mich zu behaupten. Und ich hatte eine Idee. Eine gute, wenn ich das so sagen darf. Und ich war sicher, dass sie funktionieren würde, wenn Bodhi mir nur eine kleine Chance geben würde.

»Niemand zwingt hier irgendjemanden zu irgendetwas«, erwiderte ich, verdrehte demonstrativ die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich meine, hallo, für wen hältst du mich? Für eine Dilettantin?« Ich verzog missbilligend die Lippen.

»Was dann?«, fragte er, und seine Stimme klang feindselig. »Du siehst doch, dass sie jegliche Zusammenarbeit verweigert. Wenn du nicht vorhast, sie zu zwingen, wie willst du sie dann überzeugen?«

Ich stemmte die Hände in die Hüften und sah mich um. Nur weil er mich anleiten sollte, hieß das noch lange nicht, dass er auch nur einen blassen Schimmer von meiner Vorstellungskraft hatte. »Ich werde sie nicht zwingen , und ich habe auch ernste Zweifel, ob ich sie überzeugen kann, aber ich weiß etwas, womit es zu schaffen sein könnte.«

Bodhi blinzelte und ließ seinen Ärger an dem Strohhalm aus, den er zwischen seinen Zähnen übel zurichtete.

»Die Brücke wird sie überzeugen.«

Er seufzte. Es war ein langer, lauter, gereizter Seufzer, gefolgt von: »Entschuldige, aber habe ich dir nicht soeben gesagt …« Ich schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.

»Vielleicht hast du Recht«, meinte ich und sah zwischen ihm und dem Prinzen hin und her. »Vielleicht kann ich sie nicht dazu zwingen, über die Brücke zu gehen, aber das heißt nicht, dass ich sie nicht dorthin führen kann.«

Sie schauten mich beide an.

»Und wenn sie begreift, was für Versprechen sie birgt, tja, dann wird sie nicht widerstehen können.«

»Ach ja? Und wenn sie trotzdem nicht will?« Bodhi weigerte sich hartnäckig, die unglaubliche Genialität meines Plans zu erkennen.

Ich zuckte nur die Schultern. »Nun, ich schätze, dann werden wir über die Brücke gehen und sie dort stehen lassen, damit sie sie für den Rest aller Zeiten anstarren kann. Aber dazu wird es auf keinen Fall kommen«, erwiderte ich. Meine Stimme klang viel überzeugter, als ich mich fühlte.

»Und was schlägst du vor, wie wir sie zu dieser … Brücke locken können?«, fragte der Prinz.

Ich ließ meine Hände sinken und sah mit zusammengekniffenen Augen zu ihr hinüber – in die Welt, die sie geschaffen hatte, eine Welt, die einmal so riesengroß und überwältigend gewirkt hatte und nun zu der Größe eines durchschnittlichen dreizehnjährigen Mädchens geschrumpft war.

Sie starrte uns alle an, hob zornig ihre Fäuste und stieß lautstark alle Drohungen hervor, die ihr in den Sinn kamen. Und als sie sah, dass ihr kleiner Hund Shucky (der mittlerweile wieder seine normale Größe angenommen hatte) direkt neben Buttercup saß, wurde sie so zornig, dass sie sogar ihn beschimpfte.

Ehrlich gesagt, wenn ihr mich in diesem Moment nach meinen Plänen gefragt hättet, wie ich sie auch nur in die Nähe der Brücke bringen wollte, tja, dann hätte ich keine Antwort darauf gehabt. Ich meine, die Reise war zwar nicht lang, da wir nur den goldenen Lichtschleier erreichen und dann durch diesen auf die andere Seite schlüpfen mussten, aber trotzdem – wie sollten wir sie dahin bringen?

Wie sollten wir sie zuerst ins Sommerland schaffen und von dort in das Hier und Jetzt, das direkt dahinter lag?

Und dann kam mir eine Idee. Warum sollten wir sie nicht einfach dorthin rollen?

Schließlich hatte die Seifenblase eine perfekte runde Form, und das sollte es einfach machen. Mir war klar, dass ihr das nicht gefallen würde, doch wir waren an einem Punkt angelangt, wo ich mir darüber nicht viele Gedanken machte.

Ich ging auf die Kugel zu, legte meine Hände dorthin, wo ihre Augen glühten und ihre Wangen flammend rot leuchteten, und begann zu schieben. Zuerst rollte ich die Kugel ganz langsam und sah zu, wie Rebecca taumelte und fiel und tobte, als ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt wurde und ein wild tanzender Aschewirbel über sie hinwegfegte.

Und gerade als ich glaubte, im Großen und Ganzen einen Sieg errungen zu haben, auch wenn ich mich ein wenig linkisch anstellte, legte einer von Prinz Kantas Brüdern, einer der ehemaligen Sklaven von Rebeccas Vater, seine Hand auf meinen Arm. Ich erkannte ihn von dem sadistischen Kegelspiel, und als sich unsere Blicke trafen, zwang mich der Ausdruck in seinen Augen beinahe in die Knie.

Verblüfft beobachtete ich, wie er meinen Platz einnahm, sich auf den Boden kniete und versuchte, die Kugel auf seinen Rücken zu hieven.

Zuerst verstand ich diese Geste nicht. Ich begriff nicht, warum er sich die Last aufbürden wollte. Doch dann, als sich die anderen Sklaven zu ihm gesellten, ergab es plötzlich einen Sinn.

Sie hatten ihr vergeben.

Sie hatten sich nicht nur aus ihrer manifestierten Welt befreit, sondern sich auch von der jahrhundertelangen Verbindung zu ihr gelöst.

Indem sie an ihrem Zorn, ihrer Wut und ihren Rachegelüsten festgehalten hatten, waren sie weit über ihren Tod hinaus Sklaven geblieben.

Ihre wahre Befreiung, ihr Weg in die Freiheit lag in der Fähigkeit, ihr zu verzeihen.

Diese Vergebung sprach Rebecca oder ihren Vater nicht von ihrer Schuld an den schrecklichen Dingen frei, die sie getan hatten, aber sie ermöglichte es den Sklaven, sich von diesen grauenhaften Dingen und von ihrer Verbindung zu denjenigen zu lösen, die ihnen all das angetan hatten. Jetzt konnten sie endlich weiterziehen.

Und als ich dachte, mich könnte nun nichts mehr überraschen, belehrte mich Prinz Kanta eines Besseren.

»Du gestattest?«, fragte er, und einen Augenblick später hatte er eine wunderschöne, luxuriöse Sänfte manifestiert – von der Art, in der Kleopatra sich hatte tragen lassen –, und gemeinsam hoben sie die Kugel darauf. Sie ließen sich nicht von Rebecca beirren, die um sich schlug, kreischte und eine gewaltige Aschewolke aufwirbelte. Die ganze Gruppe der ehemaligen Sklaven trat nach vorne und hielt die goldenen Schienen, die an den Seiten befestigt waren, und Bodhi und ich fassten uns an den Händen, schlossen die Augen und manifestierten das weiche goldfarbene Licht, das ins Sommerland führte.

Wir traten beide ehrfürchtig zurück und sahen zu, wie die Menschen, die von Rebecca und ihrem Vater versklavt worden waren, sie durch diesen Schleier trugen. Diesen Anblick würde ich für immer als das ideale Bild von Vergebung in meinem Gedächtnis behalten.

Riley - Im Schein der Finsternis -
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