EINUNDZWANZIG
Bodhi krümmte sich, seine Augen verdrehten sich nach
hinten. Als ich auf ihn zuschwimmen wollte, hob er jedoch sofort
warnend seine Hand und befahl mir, zu bleiben, wo ich war. Auf
telepathischem Weg erinnerte er mich an das Versprechen, das ich
ihm gegeben hatte, nämlich mich nicht von der Stelle zu rühren, so
schlimm die Dinge auch werden würden.
Diese spezielle
Aufgabe musste von ihm allein gelöst werden, und ich sollte daher
nicht näher kommen oder mich in irgendeiner Weise
einmischen.
Also wich ich zurück
und beobachtete, wie Krämpfe seinen ganzen Körper schüttelten, und
ich begriff, dass er nicht wirklich dagegen ankämpfte, wie ich
zuerst gedacht hatte. Er kämpfte nicht gegen die Welle des
überwältigenden Leids an, die ihn überrollte.
Er kämpfte gegen
sie.
Gegen ihre
Weigerung, sich davon zu befreien.
Ihm alles zu
geben.
Ihre Bürde abzugeben
und weiterzuziehen.
Offensichtlich hatte
sie so lange an diesem Fenster gestanden, so viele Jahre geweint,
gestöhnt und geklagt, und es hatte ihr das nicht mehr vorhandene
Herz so sehr zerrissen, dass sie sich an nichts anderes mehr
erinnern konnte.
Ihr Kummer hatte sie
ganz und gar im Griff.
Ohne ihn glaubte
sie, nicht mehr existieren zu können – sie fürchtete, dann komplett
zu verschwinden.
Und sie war sich
nicht bewusst, dass genau dieses Verschwinden die beste Lösung für
sie wäre.
Natürlich würde die
traurige, alte Gestalt verschwinden, ohne eine Spur zu
hinterlassen, aber nur damit sie in einer anderen, besseren,
glücklicheren Version ihrer selbst auf der anderen Seite der Brücke
ein neues Leben beginnen konnte.
Ich beobachtete den
Kampf. Mir war bewusst, dass ich kein Recht hatte, mich
einzumischen, dass es verboten war und Bodhi es nicht erlauben
würde. Aber das bedeutete nicht, dass ich ihn nicht mit Hoffnung
umgeben konnte. Ich stellte mir die Farbe dafür in meinen Gedanken
als das strahlende Pink einer Rosenblüte vor, verwandelte sie in
eine riesige glitzernde Seifenblase und hüllte ihn darin ein,
während ich ihm meine guten Wünsche schickte.
Ich wollte, dass das
bald ein Ende hatte und dass Bodhi die Kraft aufbringen würde, sie
von ihrem Leid zu befreien, damit sie endlich frei sein
konnte.
Und dabei versuchte
ich, nicht daran zu denken, was aus ihm werden würde, wenn er ihren
Kummer geschluckt hatte.
Wo würde der Schmerz
hingehen?
Würde er dann
gezwungen sein, ihren Platz am Fenster einzunehmen und die nächsten
Jahrhunderte zu wehklagen?
Oder konnte er einen
Weg finden, den Schmerz zu verarbeiten?
Ihn zu entsorgen, so
wie man es mit Abwasser und Müll und anderem ekelhaften Zeug
macht?
Eine Art
Aufarbeitung, damit sich keine Giftstoffe mehr darin befinden und
keine zerstörerische Gefahr mehr davon ausgeht.
Und wenn er es nicht
verarbeiten und auf irgendeine Weise aufbereiten konnte, was würde
dann aus mir werden?
Würde ich jemals
einen Weg aus diesem unergründlichen Meer finden?
Oder war ich
gezwungen, für den Rest der Ewigkeit in diesem schwarzen, öligen
Wasser herumzustrampeln?
Obwohl mir all diese
Gedanken durch den Kopf schossen, hielt ich mein Versprechen und
blieb an meinem Platz. Während ich mit den Beinen strampelte und
mit den Armen Halbkreise durch das Wasser zog, dachte ich ganz fest
an die leuchtende rosafarbene Blase der Hoffnung. Ich beobachtete,
wie Bodhi seinen verzweifelten Kampf weiterführte und mit seinem
Licht gegen ihre dunkle, schwere Seele ankämpfte.
Zitternd und bebend
rang er darum, ihr den Schmerz abzunehmen, während ich mir selbst
immer wieder zuflüsterte, dass alles gut werden würde. Am Ende
gewinnt immer das Licht. In allen meinen Lieblingsbüchern,
Lieblingsfilmen und Fernsehshows war das so – es ist nun einmal
so.
Aber was hier
ablief, war allzu wirklich.
Und ob es mir nun
gefiel oder nicht – Bodhi und ich waren in dieser Sache aneinander
gefesselt, und unser beider Dasein in der Ewigkeit hing davon ab,
wie diese Sache endete.
Ich schloss meine
Augen vor Erschöpfung und wollte nichts mehr sehen. Trotzdem
klammerte ich mich noch immer an die Hoffnung – und hoffte, dass
ihm das ein klein wenig auf eine für ihn annehmbare Weise helfen
würde.
Hoffte, dass sie
loslassen würde, ihren Kummer aufgeben und weiterziehen
würde.
Hoffte, dass Bodhi
bestimmt und stark bleiben und weiterkämpfen würde.
Und bevor ich mich’s
versah, war es vorbei.
Plötzlich war ich
weg von allem und befand mich wieder in dem kleinen, feuchten Raum.
Stumm sah ich zu, wie das Kleid der Geisterfrau weiß wurde, sich
ihr Haar aufhellte und wieder Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. So
musste sie ausgesehen haben, bevor all diese Dunkelheit über sie
hereingebrochen war.
Am
bemerkenswertesten war die Veränderung ihrer Augen.
Sie verwandelten
sich von abgrundtiefen, öligen, schwarzen Teichen – einem endlosen
Meer an Leid – in sanftes, strahlendes Blau.
Als sie mich
anschaute, mich direkt ansah, war ihr Lächeln so freudig, so
leuchtend und so von Hoffnung erfüllt, dass es sie wie einen
Heliumballon hochhob. Sie schwebte aus dem kleinen Fenster dem
Himmel entgegen.
Ich stupste
Buttercup an und sah zu, wie er die Pfoten von den Augen nahm. Dann
lief ich sofort zu Bodhi hinüber, der sich in einer Ecke
zusammengekauert hatte, die Arme fest um die Taille geschlungen. Er
war erfüllt von Kummer und Schmerz und wusste nicht, was er damit
anfangen sollte.
Ein kurzer Blick
verriet mir, dass er, obwohl er bei uns zu sein schien, nicht
wirklich da war. In seinen Gedanken, in seiner Seele war er noch
auf diesem kleinen verlassenen Felsen und kämpfte gegen die
Emotionen an, die er aus freiem Willen auf sich genommen hatte. Und
nun suchte er nach einem Weg, sie zu ertragen, sie zu verarbeiten,
so dass auch er sie loslassen und weitergehen konnte.
Ich kniete mich
neben ihn, legte meine Hand auf seinen Arm und verband mich mit
seinem Energiefeld. Vor langer Zeit, als ich im Sommerland gelebt
hatte, hatte ich gelernt, dass alles aus Energie besteht – unsere
Körper, unsere Gedanken, einfach alles.
Und das bedeutet,
dass wir alle miteinander verbunden sind.
Wenn wir jemanden
wirklich kennen lernen oder jemanden auf irgendeine Weise trösten
wollten, mussten wir ihm nur unsere Aufmerksamkeit schenken und uns
auf ihn einstellen.
Mehr ist dazu
wirklich nicht nötig.
Er kämpfte so lange,
dass ich befürchtete, er würde nicht mehr durchhalten. Aber ich
hielt mein Versprechen, und außer zuzusehen, wie der Kampf
weiterging, mischte ich mich nicht ein. Ich hielt mich zurück,
während er ihre gesamte emotionale Reise durchlebte – ihre Furcht,
als ihre Söhne nicht zurückkehrten, ihr überwältigender Schmerz,
als sie erfuhr, dass sie nie wieder kommen würden, ihre Empörung,
als sie beschuldigt wurde, ihren Groll, als sie das unfaire Urteil
akzeptieren musste. Und dann kam der Moment, in dem sie sich selbst
aufgab – derselbe Moment, in dem auch alle anderen sie aufgaben.
Obwohl sie wusste, dass sie am Tod ihrer Kinder unschuldig war,
räumte sie in ihrem Herzen einen Platz für die Schuld daran ein.
Und sie beschloss, sich selbst zu bestrafen, noch lange Zeit,
nachdem sie gehängt worden war. Obwohl sich ihre Söhne im selben
Gebäude aufhielten und dort Jahrhundert für Jahrhundert ihre
bösartigen, mutwilligen Streiche spielten, waren sie anscheinend
alle so in ihrer eigenen Welt versunken, dass sie sich der
Gegenwart des anderen nicht bewusst waren.
»Sie ist
zurückgekehrt«, flüsterte ich. Ich wusste, dass es so war. »Jetzt
sind sie alle wieder zusammen. Es ist endlich vorbei. Und das haben
sie dir zu verdanken.«
Ich drückte Bodhis
Arm und straffte meine Schultern, als er plötzlich zwinkerte und
sich bewegte. Er hob seine Hände, rieb sich die Augen und sah mich
blinzelnd an. »Bist du in Ordnung?«, fragte er.
Ich nickte, so aus
der Fassung gebracht, dass ich meiner Stimme nicht traute. In
Gedanken fragte ich ihn: Und du? Ich
wusste, dass er das genauso hören konnte wie gesprochene
Worte.
Er streckte seine
Beine aus, drehte seinen Hals hin und her, wölbte kurz seinen
Rücken und stand dann auf. Er reichte mir eine Hand, um mir
aufzuhelfen, bevor sich sein Gesichtsausdruck vollkommen
veränderte. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht
einmischen.«
Ich wich zurück –
ich konnte kaum glauben, was ich da gerade gehört
hatte.
»Ich habe dir
befohlen, dich herauszuhalten. Aber nein, du wolltest ja nicht
hören. Du hast ein ernsthaftes Problem, was das betrifft. Ehrlich
gesagt, weiß ich nicht, was ich mit dir tun soll, Riley«, fügte er
hinzu. »Ich bin nicht sicher, ob ich der richtige Führer für dich
bin. Ich meine, offensichtlich ist es sehr schwer für dich, selbst
nur zu versuchen, mich zu respektieren.«
»Was …« Ich
schüttelte den Kopf. Mir gingen so viele Argumente durch den Kopf,
dass ich nicht wusste, womit ich beginnen sollte. »Soll das ein
Witz sein?« Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und sah sofort, dass
er ganz und gar nicht zu Scherzen aufgelegt war. »Zu deiner
Information: Ich habe genau das getan, was du von mir verlangt
hast, und das war nicht leicht für mich, das kannst du mir glauben.
Falls du das nicht mitbekommen hast – ich war diejenige, die
zugesehen hat, wie du dich eigenartig verrenkt hast. Die ganze Zeit
hatte ich keine Ahnung, ob du es schaffen würdest oder nicht. Ganz
zu schweigen davon, dass ich auch nicht wusste, was aus mir werden
würde, falls du es nicht schaffen solltest. Trotzdem habe ich meine
Zweifel und Ängste hinuntergeschluckt und habe weiter im Wasser
gestrampelt, ohne dir auf irgendeine Weise oder in irgendeiner Form
zu helfen. Und dann, nachdem ich von dort ausgespuckt wurde, du
ihren Kummer geschluckt hattest und sie zum Himmel geschwebt ist,
habe ich dich lediglich am Arm berührt und mich vergewissert, dass
es dir gut geht. Das war alles. Ich schwöre es. Also hast du kein
Recht, so etwas zu sagen. Ganz und gar nicht. Tatsächlich
…«
Er sah mich an und
unterbrach mich. »Siehst du? Genau das habe ich gemeint. Die Art,
wie du mit mir sprichst! Sag mir, Riley, warst du zu deinen
Lebzeiten auch so? Hast du so mit deinen Eltern und den Lehrern in
deiner Schule gesprochen?«
Ich verzog meinen
Mund, stemmte die Hände in die Hüften und dachte darüber nach.
Lange und gründlich. »Manchmal schon. Na und?«, erwiderte ich
schließlich.
Er wandte sich ab,
zog seine Kleidung zurecht und steckte sein Hemd wieder in die
Hose. »Tatsache ist, dass du dich eingemischt hast.« Er starrte aus
dem kleinen, viereckigen Fenster. »Und deswegen weiß ich jetzt
nicht, ob ich für ihre Brückenüberquerung den Pluspunkt bekomme,
den ich so dringend brauche.« Er rieb sich über den Nasenrücken und
hielt kurz inne, um seine Gedanken zu sammeln. Dann brach es aus
ihm hervor. »Du hast keine Ahnung, was du angestellt hast. Du hast
keinen blassen Schimmer, wie das alles abläuft. Du stürzt dich
einfach hinein, glaubst, viel mehr zu wissen, als tatsächlich der
Fall ist, und weigerst dich, meine Anweisungen zu beachten.« Er
schob eine nasse Haarsträhne aus seinem Gesicht und hinter sein
Ohr. »Wahrscheinlich sollte ich dir das nicht sagen, denn dann
wirst du mir noch weniger Respekt entgegenbringen. Die weinende
Frau war meine letzte Chance. Mein letzter Versuch, mich zu
rehabilitieren und voranzukommen. Aber da du dich eingemischt hast,
obwohl ich dir befohlen habe, dich nicht vom Fleck zu rühren, werde
ich wahrscheinlich heruntergestuft, und das auch nur, wenn ich
Glück habe …«
»Aber ich habe mich
nicht eingemischt«, protestierte ich und fuhr mit den Armen durch
die Luft, verzweifelt bemüht, ihn davon zu überzeugen. »Das
versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu sagen. Du scheinst es
einfach nicht zu kapieren. Ich war dort, ja, aber das wissen wir
beide. Ich habe auch die ganze Sache beobachtet. Aber das war’s.
Ich habe nur versucht, dich mit dieser Hoffnung zu umgeben. Ich
habe gehofft, dass du deine innere Stärke erkennen würdest. Ich
habe gehofft, dass du die Sache durchstehst, dass du deine Mission,
sie an einen besseren Ort zu bringen, erledigen kannst. Das ist
alles! Ich schwöre es. Also sag mir, o du mächtiger Führer, seit
wann gilt Hoffnung als etwas Schlechtes? Seit wann wird eine Person
wegen Hoffnung degradiert? Ich meine, jetzt mal im Ernst, das ist
doch Mist! Wenn es im Hier und Jetzt so läuft, wenn sie dort
wirklich eine Art Kampagne gegen die Hoffnung laufen haben, dann
lehne ich dankend ab. Ich werde so schnell nicht wieder
zurückkehren, egal, wie viele gerissene Seelenfänger sie mir auf
den Hals hetzen werden. Und Buttercup werde ich auch nicht
zurückgehen lassen. Da bleibe ich lieber hier und übernehme mit ihm
die Rolle der neuen Geister in Warmington Castle. Ich muss mir nur
einen coolen Geistertrick einfallen lassen, den es bisher noch
nicht gibt, und …« Ich seufzte. Allmählich ging mir die Puste aus,
also schüttelte ich den Kopf und sah Bodhi in die
Augen.
»Du schwörst, dass
du dich nicht eingemischt hast?«, fragte er. Offensichtlich lag ihm
viel daran, mir glauben zu können.
»Ja!« Ich schrie
beinahe, damit er mir endlich zuhörte. »Das schwöre ich auf mein
eigenes Grab.«
»Schon, aber
schwörst du auch auf deinen Lieblingssong von Kelly Clarkson?« Er
neigte den Kopf zur Seite und musterte mich
aufmerksam.
Ich riss erstaunt
den Mund auf und fragte mich, woher er wusste, dass mein iPod voll
mit ihren Songs war. Dann begriff ich es. Er hatte das Filmmaterial
über mich gesehen. Es war Teil seiner Vorbereitung, bevor er die
Verantwortung für mich übernommen hatte. Er war gezwungen gewesen,
sich meine ganze lahme Lebensgeschichte anzuschauen, die
unglücklicherweise den Titel hatte: Das
(kurze, erbärmliche, vollkommen vergeudete) Leben von Riley. Alles
von A bis Z, was Sie jemals über sie wissen
wollten.
»Keine Sorge, es war
nicht die Version von A bis Z«, meinte er. »Nur die Highlights –
die Trailerfassung. Viel wichtiger ist, ob du tatsächlich glaubst,
dass ich das alles allein gemacht habe? Dass ich allein ihren
Kummer geschluckt und sie zur Brücke geführt habe?«
»Ja.« Ich nickte,
und zum ersten Mal, seit ich ihn kennen gelernt hatte, sah ich ihn
lächeln. Seine Miene hellte sich auf, und das veränderte ihn auf
eine erstaunliche Weise. »Wie ich schon sagte, habe ich dir
lediglich Hoffnung angeboten, sonst nichts. Und sie können doch
wohl niemanden für Hoffnung bestrafen, oder?«
Er lächelte immer
noch und sah mich an. »Nein, das können sie sicher nicht.« Er
führte mich und Buttercup aus dem Zimmer und warf mir einen Blick
über die Schulter zu. »Also, wie sieht es aus? Bist du immer noch
scharf auf den Flugunterricht?«