022
 
EINUNDZWANZIG
 
Bodhi krümmte sich, seine Augen verdrehten sich nach hinten. Als ich auf ihn zuschwimmen wollte, hob er jedoch sofort warnend seine Hand und befahl mir, zu bleiben, wo ich war. Auf telepathischem Weg erinnerte er mich an das Versprechen, das ich ihm gegeben hatte, nämlich mich nicht von der Stelle zu rühren, so schlimm die Dinge auch werden würden.
Diese spezielle Aufgabe musste von ihm allein gelöst werden, und ich sollte daher nicht näher kommen oder mich in irgendeiner Weise einmischen.
Also wich ich zurück und beobachtete, wie Krämpfe seinen ganzen Körper schüttelten, und ich begriff, dass er nicht wirklich dagegen ankämpfte, wie ich zuerst gedacht hatte. Er kämpfte nicht gegen die Welle des überwältigenden Leids an, die ihn überrollte.
Er kämpfte gegen sie.
Gegen ihre Weigerung, sich davon zu befreien.
Ihm alles zu geben.
Ihre Bürde abzugeben und weiterzuziehen.
Offensichtlich hatte sie so lange an diesem Fenster gestanden, so viele Jahre geweint, gestöhnt und geklagt, und es hatte ihr das nicht mehr vorhandene Herz so sehr zerrissen, dass sie sich an nichts anderes mehr erinnern konnte.
Ihr Kummer hatte sie ganz und gar im Griff.
Ohne ihn glaubte sie, nicht mehr existieren zu können – sie fürchtete, dann komplett zu verschwinden.
Und sie war sich nicht bewusst, dass genau dieses Verschwinden die beste Lösung für sie wäre.
Natürlich würde die traurige, alte Gestalt verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen, aber nur damit sie in einer anderen, besseren, glücklicheren Version ihrer selbst auf der anderen Seite der Brücke ein neues Leben beginnen konnte.
Ich beobachtete den Kampf. Mir war bewusst, dass ich kein Recht hatte, mich einzumischen, dass es verboten war und Bodhi es nicht erlauben würde. Aber das bedeutete nicht, dass ich ihn nicht mit Hoffnung umgeben konnte. Ich stellte mir die Farbe dafür in meinen Gedanken als das strahlende Pink einer Rosenblüte vor, verwandelte sie in eine riesige glitzernde Seifenblase und hüllte ihn darin ein, während ich ihm meine guten Wünsche schickte.
Ich wollte, dass das bald ein Ende hatte und dass Bodhi die Kraft aufbringen würde, sie von ihrem Leid zu befreien, damit sie endlich frei sein konnte.
Und dabei versuchte ich, nicht daran zu denken, was aus ihm werden würde, wenn er ihren Kummer geschluckt hatte.
Wo würde der Schmerz hingehen?
Würde er dann gezwungen sein, ihren Platz am Fenster einzunehmen und die nächsten Jahrhunderte zu wehklagen?
Oder konnte er einen Weg finden, den Schmerz zu verarbeiten?
Ihn zu entsorgen, so wie man es mit Abwasser und Müll und anderem ekelhaften Zeug macht?
Eine Art Aufarbeitung, damit sich keine Giftstoffe mehr darin befinden und keine zerstörerische Gefahr mehr davon ausgeht.
Und wenn er es nicht verarbeiten und auf irgendeine Weise aufbereiten konnte, was würde dann aus mir werden?
Würde ich jemals einen Weg aus diesem unergründlichen Meer finden?
Oder war ich gezwungen, für den Rest der Ewigkeit in diesem schwarzen, öligen Wasser herumzustrampeln?
Obwohl mir all diese Gedanken durch den Kopf schossen, hielt ich mein Versprechen und blieb an meinem Platz. Während ich mit den Beinen strampelte und mit den Armen Halbkreise durch das Wasser zog, dachte ich ganz fest an die leuchtende rosafarbene Blase der Hoffnung. Ich beobachtete, wie Bodhi seinen verzweifelten Kampf weiterführte und mit seinem Licht gegen ihre dunkle, schwere Seele ankämpfte.
Zitternd und bebend rang er darum, ihr den Schmerz abzunehmen, während ich mir selbst immer wieder zuflüsterte, dass alles gut werden würde. Am Ende gewinnt immer das Licht. In allen meinen Lieblingsbüchern, Lieblingsfilmen und Fernsehshows war das so – es ist nun einmal so.
Aber was hier ablief, war allzu wirklich.
Und ob es mir nun gefiel oder nicht – Bodhi und ich waren in dieser Sache aneinander gefesselt, und unser beider Dasein in der Ewigkeit hing davon ab, wie diese Sache endete.
Ich schloss meine Augen vor Erschöpfung und wollte nichts mehr sehen. Trotzdem klammerte ich mich noch immer an die Hoffnung – und hoffte, dass ihm das ein klein wenig auf eine für ihn annehmbare Weise helfen würde.
Hoffte, dass sie loslassen würde, ihren Kummer aufgeben und weiterziehen würde.
Hoffte, dass Bodhi bestimmt und stark bleiben und weiterkämpfen würde.
Und bevor ich mich’s versah, war es vorbei.
Plötzlich war ich weg von allem und befand mich wieder in dem kleinen, feuchten Raum. Stumm sah ich zu, wie das Kleid der Geisterfrau weiß wurde, sich ihr Haar aufhellte und wieder Farbe in ihre Wangen zurückkehrte. So musste sie ausgesehen haben, bevor all diese Dunkelheit über sie hereingebrochen war.
Am bemerkenswertesten war die Veränderung ihrer Augen.
Sie verwandelten sich von abgrundtiefen, öligen, schwarzen Teichen – einem endlosen Meer an Leid – in sanftes, strahlendes Blau.
Als sie mich anschaute, mich direkt ansah, war ihr Lächeln so freudig, so leuchtend und so von Hoffnung erfüllt, dass es sie wie einen Heliumballon hochhob. Sie schwebte aus dem kleinen Fenster dem Himmel entgegen.
Ich stupste Buttercup an und sah zu, wie er die Pfoten von den Augen nahm. Dann lief ich sofort zu Bodhi hinüber, der sich in einer Ecke zusammengekauert hatte, die Arme fest um die Taille geschlungen. Er war erfüllt von Kummer und Schmerz und wusste nicht, was er damit anfangen sollte.
Ein kurzer Blick verriet mir, dass er, obwohl er bei uns zu sein schien, nicht wirklich da war. In seinen Gedanken, in seiner Seele war er noch auf diesem kleinen verlassenen Felsen und kämpfte gegen die Emotionen an, die er aus freiem Willen auf sich genommen hatte. Und nun suchte er nach einem Weg, sie zu ertragen, sie zu verarbeiten, so dass auch er sie loslassen und weitergehen konnte.
Ich kniete mich neben ihn, legte meine Hand auf seinen Arm und verband mich mit seinem Energiefeld. Vor langer Zeit, als ich im Sommerland gelebt hatte, hatte ich gelernt, dass alles aus Energie besteht – unsere Körper, unsere Gedanken, einfach alles.
Und das bedeutet, dass wir alle miteinander verbunden sind.
Wenn wir jemanden wirklich kennen lernen oder jemanden auf irgendeine Weise trösten wollten, mussten wir ihm nur unsere Aufmerksamkeit schenken und uns auf ihn einstellen.
Mehr ist dazu wirklich nicht nötig.
Er kämpfte so lange, dass ich befürchtete, er würde nicht mehr durchhalten. Aber ich hielt mein Versprechen, und außer zuzusehen, wie der Kampf weiterging, mischte ich mich nicht ein. Ich hielt mich zurück, während er ihre gesamte emotionale Reise durchlebte – ihre Furcht, als ihre Söhne nicht zurückkehrten, ihr überwältigender Schmerz, als sie erfuhr, dass sie nie wieder kommen würden, ihre Empörung, als sie beschuldigt wurde, ihren Groll, als sie das unfaire Urteil akzeptieren musste. Und dann kam der Moment, in dem sie sich selbst aufgab – derselbe Moment, in dem auch alle anderen sie aufgaben. Obwohl sie wusste, dass sie am Tod ihrer Kinder unschuldig war, räumte sie in ihrem Herzen einen Platz für die Schuld daran ein. Und sie beschloss, sich selbst zu bestrafen, noch lange Zeit, nachdem sie gehängt worden war. Obwohl sich ihre Söhne im selben Gebäude aufhielten und dort Jahrhundert für Jahrhundert ihre bösartigen, mutwilligen Streiche spielten, waren sie anscheinend alle so in ihrer eigenen Welt versunken, dass sie sich der Gegenwart des anderen nicht bewusst waren.
»Sie ist zurückgekehrt«, flüsterte ich. Ich wusste, dass es so war. »Jetzt sind sie alle wieder zusammen. Es ist endlich vorbei. Und das haben sie dir zu verdanken.«
Ich drückte Bodhis Arm und straffte meine Schultern, als er plötzlich zwinkerte und sich bewegte. Er hob seine Hände, rieb sich die Augen und sah mich blinzelnd an. »Bist du in Ordnung?«, fragte er.
Ich nickte, so aus der Fassung gebracht, dass ich meiner Stimme nicht traute. In Gedanken fragte ich ihn: Und du? Ich wusste, dass er das genauso hören konnte wie gesprochene Worte.
Er streckte seine Beine aus, drehte seinen Hals hin und her, wölbte kurz seinen Rücken und stand dann auf. Er reichte mir eine Hand, um mir aufzuhelfen, bevor sich sein Gesichtsausdruck vollkommen veränderte. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht einmischen.«
Ich wich zurück – ich konnte kaum glauben, was ich da gerade gehört hatte.
»Ich habe dir befohlen, dich herauszuhalten. Aber nein, du wolltest ja nicht hören. Du hast ein ernsthaftes Problem, was das betrifft. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich mit dir tun soll, Riley«, fügte er hinzu. »Ich bin nicht sicher, ob ich der richtige Führer für dich bin. Ich meine, offensichtlich ist es sehr schwer für dich, selbst nur zu versuchen, mich zu respektieren.«
»Was …« Ich schüttelte den Kopf. Mir gingen so viele Argumente durch den Kopf, dass ich nicht wusste, womit ich beginnen sollte. »Soll das ein Witz sein?« Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und sah sofort, dass er ganz und gar nicht zu Scherzen aufgelegt war. »Zu deiner Information: Ich habe genau das getan, was du von mir verlangt hast, und das war nicht leicht für mich, das kannst du mir glauben. Falls du das nicht mitbekommen hast – ich war diejenige, die zugesehen hat, wie du dich eigenartig verrenkt hast. Die ganze Zeit hatte ich keine Ahnung, ob du es schaffen würdest oder nicht. Ganz zu schweigen davon, dass ich auch nicht wusste, was aus mir werden würde, falls du es nicht schaffen solltest. Trotzdem habe ich meine Zweifel und Ängste hinuntergeschluckt und habe weiter im Wasser gestrampelt, ohne dir auf irgendeine Weise oder in irgendeiner Form zu helfen. Und dann, nachdem ich von dort ausgespuckt wurde, du ihren Kummer geschluckt hattest und sie zum Himmel geschwebt ist, habe ich dich lediglich am Arm berührt und mich vergewissert, dass es dir gut geht. Das war alles. Ich schwöre es. Also hast du kein Recht, so etwas zu sagen. Ganz und gar nicht. Tatsächlich …«
Er sah mich an und unterbrach mich. »Siehst du? Genau das habe ich gemeint. Die Art, wie du mit mir sprichst! Sag mir, Riley, warst du zu deinen Lebzeiten auch so? Hast du so mit deinen Eltern und den Lehrern in deiner Schule gesprochen?«
Ich verzog meinen Mund, stemmte die Hände in die Hüften und dachte darüber nach. Lange und gründlich. »Manchmal schon. Na und?«, erwiderte ich schließlich.
Er wandte sich ab, zog seine Kleidung zurecht und steckte sein Hemd wieder in die Hose. »Tatsache ist, dass du dich eingemischt hast.« Er starrte aus dem kleinen, viereckigen Fenster. »Und deswegen weiß ich jetzt nicht, ob ich für ihre Brückenüberquerung den Pluspunkt bekomme, den ich so dringend brauche.« Er rieb sich über den Nasenrücken und hielt kurz inne, um seine Gedanken zu sammeln. Dann brach es aus ihm hervor. »Du hast keine Ahnung, was du angestellt hast. Du hast keinen blassen Schimmer, wie das alles abläuft. Du stürzt dich einfach hinein, glaubst, viel mehr zu wissen, als tatsächlich der Fall ist, und weigerst dich, meine Anweisungen zu beachten.« Er schob eine nasse Haarsträhne aus seinem Gesicht und hinter sein Ohr. »Wahrscheinlich sollte ich dir das nicht sagen, denn dann wirst du mir noch weniger Respekt entgegenbringen. Die weinende Frau war meine letzte Chance. Mein letzter Versuch, mich zu rehabilitieren und voranzukommen. Aber da du dich eingemischt hast, obwohl ich dir befohlen habe, dich nicht vom Fleck zu rühren, werde ich wahrscheinlich heruntergestuft, und das auch nur, wenn ich Glück habe …«
»Aber ich habe mich nicht eingemischt«, protestierte ich und fuhr mit den Armen durch die Luft, verzweifelt bemüht, ihn davon zu überzeugen. »Das versuche ich dir doch schon die ganze Zeit zu sagen. Du scheinst es einfach nicht zu kapieren. Ich war dort, ja, aber das wissen wir beide. Ich habe auch die ganze Sache beobachtet. Aber das war’s. Ich habe nur versucht, dich mit dieser Hoffnung zu umgeben. Ich habe gehofft, dass du deine innere Stärke erkennen würdest. Ich habe gehofft, dass du die Sache durchstehst, dass du deine Mission, sie an einen besseren Ort zu bringen, erledigen kannst. Das ist alles! Ich schwöre es. Also sag mir, o du mächtiger Führer, seit wann gilt Hoffnung als etwas Schlechtes? Seit wann wird eine Person wegen Hoffnung degradiert? Ich meine, jetzt mal im Ernst, das ist doch Mist! Wenn es im Hier und Jetzt so läuft, wenn sie dort wirklich eine Art Kampagne gegen die Hoffnung laufen haben, dann lehne ich dankend ab. Ich werde so schnell nicht wieder zurückkehren, egal, wie viele gerissene Seelenfänger sie mir auf den Hals hetzen werden. Und Buttercup werde ich auch nicht zurückgehen lassen. Da bleibe ich lieber hier und übernehme mit ihm die Rolle der neuen Geister in Warmington Castle. Ich muss mir nur einen coolen Geistertrick einfallen lassen, den es bisher noch nicht gibt, und …« Ich seufzte. Allmählich ging mir die Puste aus, also schüttelte ich den Kopf und sah Bodhi in die Augen.
»Du schwörst, dass du dich nicht eingemischt hast?«, fragte er. Offensichtlich lag ihm viel daran, mir glauben zu können.
»Ja!« Ich schrie beinahe, damit er mir endlich zuhörte. »Das schwöre ich auf mein eigenes Grab.«
»Schon, aber schwörst du auch auf deinen Lieblingssong von Kelly Clarkson?« Er neigte den Kopf zur Seite und musterte mich aufmerksam.
Ich riss erstaunt den Mund auf und fragte mich, woher er wusste, dass mein iPod voll mit ihren Songs war. Dann begriff ich es. Er hatte das Filmmaterial über mich gesehen. Es war Teil seiner Vorbereitung, bevor er die Verantwortung für mich übernommen hatte. Er war gezwungen gewesen, sich meine ganze lahme Lebensgeschichte anzuschauen, die unglücklicherweise den Titel hatte: Das (kurze, erbärmliche, vollkommen vergeudete) Leben von Riley. Alles von A bis Z, was Sie jemals über sie wissen wollten.
»Keine Sorge, es war nicht die Version von A bis Z«, meinte er. »Nur die Highlights – die Trailerfassung. Viel wichtiger ist, ob du tatsächlich glaubst, dass ich das alles allein gemacht habe? Dass ich allein ihren Kummer geschluckt und sie zur Brücke geführt habe?«
»Ja.« Ich nickte, und zum ersten Mal, seit ich ihn kennen gelernt hatte, sah ich ihn lächeln. Seine Miene hellte sich auf, und das veränderte ihn auf eine erstaunliche Weise. »Wie ich schon sagte, habe ich dir lediglich Hoffnung angeboten, sonst nichts. Und sie können doch wohl niemanden für Hoffnung bestrafen, oder?«
Er lächelte immer noch und sah mich an. »Nein, das können sie sicher nicht.« Er führte mich und Buttercup aus dem Zimmer und warf mir einen Blick über die Schulter zu. »Also, wie sieht es aus? Bist du immer noch scharf auf den Flugunterricht?«