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ZWÖLF
Buttercup und ich folgten ihm durch den riesigen
Garten und durchquerten eine Reihe von sorgfältig geschnittenen
Hecken, die einen recht komplizierten Irrgarten bildeten, wenn man
nicht, wie wir, einfach hindurchgehen konnte. Wir marschierten
durch die dicke Hauswand und gelangten auf der anderen Seite in
einen riesigen Raum mit extrem hoher Decke, großen
Buntglasfenstern, abgewetzten Teppichen, verstaubten Kronleuchtern
und einer Unmenge von altem Zeug, bei dem es sich, wie ich annahm,
um unbezahlbare Antiquitäten handelte.
»Angeblich spukt er
in dem blauen Zimmer«, flüsterte Bodhi, obwohl niemand außer uns
hier war und uns hören konnte. Sein Blick irrte hin und her, bis er
eine große, breite Treppe entdeckte. Er legte sein Board auf den
Boden und skatete darauf zu.
»Dann gibt es hier
also so viele Zimmer, dass sie Kennfarben brauchen?«, fragte ich.
Seit ich tot war, hatte ich mir schon einige Villen von berühmten
Persönlichkeiten angeschaut, aber in einem richtigen Schloss, das
so riesig, so ausladend und beeindruckend war, war ich noch nicht
gewesen.
Bodhi zuckte jedoch
nur die Schultern. Er war bereits am oberen Treppenabsatz angelangt
und neigte den Kopf nach rechts. »Wenn ich mich richtig erinnere,
geht es hier entlang. Es ist die dritte Tür auf der linken
Seite.«
Ich blieb wie
angewurzelt stehen. Das gefiel mir nicht. Das gefiel mir ganz und
gar nicht. Kein bisschen.
»Was meinst du
damit? Wenn du dich richtig erinnerst?«
Ich musterte ihn aufmerksam, um irgendein verräterisches Zeichen zu
entdecken, irgendeinen nervösen Tick, ein Zucken des Augenlids,
eine ruckartige Bewegung des Knies, irgendetwas. Aber außer dass er
wieder so komisch auf seiner Unterlippe herumkaute, konnte ich
nichts bemerken. Sein Gesicht war wie versteinert, seine Miene
nicht zu deuten. Er wollte nichts preisgeben. »Heißt das, dass du
schon einmal hier warst?«, bohrte ich nach. Ich wusste, dass er mir
irgendetwas verheimlichte, etwas, was ich nicht zuletzt für die
Zukunft wissen sollte, und ich war fest entschlossen, das aus ihm
herauszuquetschen. »War es wegen Radiant Boy? Bist du
hierhergeschickt worden, um ihn dazu zu bewegen, mit dir zu kommen?
Und wenn das so war, bist du gescheitert? Heißt das, du hast es
nicht geschafft, ihn …«, ich hob meine Hände und deutete mit den
Fingern in der Luft Anführungszeichen an, bevor ich fortfuhr, »…
ihn zu beschwatzen? Du hast es nicht geschafft, einen Zehnjährigen
dazu zu überreden, die Brücke zu überqueren?«
Er sah mich
ausdruckslos an. »Das ist eine lange Geschichte, Riley. Und dafür
haben wir mit Sicherheit keine Zeit, wenn du nach London willst.«
Und obwohl seine Stimme barsch und auch herablassend klang, wirkte
seine Bemerkung nicht bei mir. Jetzt war ich ihm auf der Spur. Das
spürte ich in meinen nicht mehr vorhandenen Knochen.
Er hatte versagt,
und ich sollte das nun schaffen.
Ha! Ein toller
Führer!
»Gut.« Er seufzte
und gab ein wenig nach – aber nur ein wenig. »Sagen wir einfach, du
bist nicht die Erste, die versucht, diesen Jungen zu knacken.
Während der letzten Jahre, ähm, es waren einige Hundert, haben das
schon viele versucht. Aber das heißt nur, dass die Latte so
unglaublich tief liegt, dass jetzt niemand sehr viel von dir
erwartet. Das ist dein Glück, denn ich setze zehn Dollar darauf,
dass du schreiend davonrennst, sobald du ihn siehst.«
»Zehn Dollar?« Ich
verdrehte die Augen und warf mein blondes Haar über die Schulter.
»Also bitte. Ich kann Berge von Zehn-Dollar-Scheinen manifestieren.
Ebenso wie du. Wenn du wirklich wetten willst, dann muss es um
etwas gehen, was tatsächlich etwas wert ist. Im Ernst, biete mir
etwas an, wofür sich meine Mühe hier lohnt.«
Er kniff die Augen
zusammen und zog seine Mundwinkel nach oben. »Wie wäre es mit
deinem Ausflug nach London? Wenn du den Radiant Boy dazu bringst,
die Brücke zu überqueren, dann darfst du diese Reise machen. Wenn
nicht …« Er zuckte die Schultern und ließ das Ende des Satzes
unausgesprochen in der Luft hängen. Aber es war klar, was er
meinte.
Ich schüttelte nur
den Kopf. Wir hatten bereits beschlossen, dass ich gehen und diesen
Auftrag in einem angemessenen Zeitraum erledigen würde. Er konnte
jetzt nicht einfach die Regeln ändern. Nicht, nachdem alles bereits
festgelegt war.
Er wandte sich von
mir ab und versuchte, das Lächeln zu verbergen, das über sein
Gesicht huschte. Ein Lächeln, das ich nicht sehen musste, um zu
wissen, dass es da war. Als er sich wieder umdrehte, war es
verschwunden, weggewischt und von einem skeptischen
Gesichtsausdruck ersetzt worden. »Also gut, wenn du nicht schreiend
davonläufst, wenn dir gelingt, was die anderen vergeblich versucht
haben, wenn du es tatsächlich schaffst, dass der Radiant Boy die
Brücke ganz überquert, dann werde ich dir beibringen, wie du nach
London fliegen kannst, okay? Wie gefällt dir das?«
Er sah mich an und
war offensichtlich stolz auf sich. Er war sich sicher, dass das
niemals eintreffen würde, dass ich kläglich versagen würde und die
ganze Sache damit erledigt war.
Das war okay für
mich. Als jüngstes Mitglied meiner Familie war ich daran gewöhnt,
dass man mich unterschätzte, und es gab nichts, was ich lieber tat,
als alle eines Besseren zu belehren.
»Was ist mit
Buttercup? Kann er dann auch fliegen?«
Bodhi sah zwischen
meinem Hund und mir hin und her und zuckte nur die
Schultern.
»Prima«, sagte ich
und strich mir die Haare hinter die Ohren. Ich bereitete mich auf
den bevorstehenden Kampf vor und ging davon aus, dass die Details
später geklärt werden konnten. »Der Deal ist geritzt.«
Ich ging neben ihm
her, bis er abrupt stehen blieb. »Tja, hier ist es«, verkündete er
und deutete auf eine schwere, kunstvoll bemalte Tür nur wenige
Zentimeter vor uns. »Das blaue Zimmer. Dort wohnt dein neuer
Freund.«
»Das Heim eines
Zehnjährigen«, murmelte ich kopfschüttelnd.
Ich wollte gerade
durch die Tür gehen, als Bodhi seinen Arm nach mir ausstreckte. Er
fuchtelte herum und fuhr damit durch die Luft, bis er ihn wieder
sinken ließ und seine ernste Miene einen freundlichen Ausdruck
annahm. »Riley …«, begann er.
Als ich mich
umdrehte, sah ich in seinen Augen aufrichtige Besorgnis
aufblitzen.
»Es … es ist nicht
so, wie du denkst. Hinter dieser Geschichte steckt noch viel mehr.
Es geht um Dinge, die du wahrscheinlich wissen solltest, bevor du
hineingehst.«
Aber ich seufzte
nur. Ich nahm an, dass das wieder eine Verzögerungstaktik war, oder
eine Methode, um mich fertigzumachen. Ich ging davon aus, dass er
jetzt bereit war, alles zu versuchen, um diese Wette zu gewinnen
und mir keine Flugstunde geben zu müssen. Offensichtlich
widerstrebte ihm schon der Gedanke daran.
»Er ist ein
Geist. Er ist zehn Jahre alt. Er hat einen seltsamen Namen, den er sich entweder selbst
eingehandelt hat oder auch nicht – das muss ich noch herausfinden
-, und ich muss ihn dazu überreden, weiterzuziehen«, stellte ich
fest. Für jeden Punkt meiner Aufzählung streckte ich einen Finger
aus, bis ich schließlich nur noch meinen Daumen gegen die Mitte
meiner Handfläche presste. »Also mal im Ernst, wie schwer kann das
schon sein? Und was kann er mir schlimmstenfalls antun? Umbringen
kann er mich ja nicht, oder? Also, nachdem wir das geklärt haben,
kann ich jetzt bitte zu ihm? Ich möchte ihn von meiner Liste
abhaken – schließlich wartet eine Flugstunde auf
mich.«
Bodhi warf mir einen
langen, starren, besorgten Blick zu. Dann schüttelte er den Kopf
und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich gehen
sollte. Vielleicht murmelte er noch irgendetwas davon, dass er mir
Glück wünschte und hier draußen auf mich warten würde, für den
Fall, dass ich Hilfe brauchen sollte – aber vielleicht tat er das
auch nicht.
Das werde ich wohl
nie erfahren.
Ich war bereits
losmarschiert.
Buttercup und ich
befanden uns schon auf der anderen Seite der kunstvoll bemalten
Tür.