013
 
ZWÖLF
 
Buttercup und ich folgten ihm durch den riesigen Garten und durchquerten eine Reihe von sorgfältig geschnittenen Hecken, die einen recht komplizierten Irrgarten bildeten, wenn man nicht, wie wir, einfach hindurchgehen konnte. Wir marschierten durch die dicke Hauswand und gelangten auf der anderen Seite in einen riesigen Raum mit extrem hoher Decke, großen Buntglasfenstern, abgewetzten Teppichen, verstaubten Kronleuchtern und einer Unmenge von altem Zeug, bei dem es sich, wie ich annahm, um unbezahlbare Antiquitäten handelte.
»Angeblich spukt er in dem blauen Zimmer«, flüsterte Bodhi, obwohl niemand außer uns hier war und uns hören konnte. Sein Blick irrte hin und her, bis er eine große, breite Treppe entdeckte. Er legte sein Board auf den Boden und skatete darauf zu.
»Dann gibt es hier also so viele Zimmer, dass sie Kennfarben brauchen?«, fragte ich. Seit ich tot war, hatte ich mir schon einige Villen von berühmten Persönlichkeiten angeschaut, aber in einem richtigen Schloss, das so riesig, so ausladend und beeindruckend war, war ich noch nicht gewesen.
Bodhi zuckte jedoch nur die Schultern. Er war bereits am oberen Treppenabsatz angelangt und neigte den Kopf nach rechts. »Wenn ich mich richtig erinnere, geht es hier entlang. Es ist die dritte Tür auf der linken Seite.«
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Das gefiel mir nicht. Das gefiel mir ganz und gar nicht. Kein bisschen.
»Was meinst du damit? Wenn du dich richtig erinnerst?« Ich musterte ihn aufmerksam, um irgendein verräterisches Zeichen zu entdecken, irgendeinen nervösen Tick, ein Zucken des Augenlids, eine ruckartige Bewegung des Knies, irgendetwas. Aber außer dass er wieder so komisch auf seiner Unterlippe herumkaute, konnte ich nichts bemerken. Sein Gesicht war wie versteinert, seine Miene nicht zu deuten. Er wollte nichts preisgeben. »Heißt das, dass du schon einmal hier warst?«, bohrte ich nach. Ich wusste, dass er mir irgendetwas verheimlichte, etwas, was ich nicht zuletzt für die Zukunft wissen sollte, und ich war fest entschlossen, das aus ihm herauszuquetschen. »War es wegen Radiant Boy? Bist du hierhergeschickt worden, um ihn dazu zu bewegen, mit dir zu kommen? Und wenn das so war, bist du gescheitert? Heißt das, du hast es nicht geschafft, ihn …«, ich hob meine Hände und deutete mit den Fingern in der Luft Anführungszeichen an, bevor ich fortfuhr, »… ihn zu beschwatzen? Du hast es nicht geschafft, einen Zehnjährigen dazu zu überreden, die Brücke zu überqueren?«
Er sah mich ausdruckslos an. »Das ist eine lange Geschichte, Riley. Und dafür haben wir mit Sicherheit keine Zeit, wenn du nach London willst.« Und obwohl seine Stimme barsch und auch herablassend klang, wirkte seine Bemerkung nicht bei mir. Jetzt war ich ihm auf der Spur. Das spürte ich in meinen nicht mehr vorhandenen Knochen.
Er hatte versagt, und ich sollte das nun schaffen.
Ha! Ein toller Führer!
»Gut.« Er seufzte und gab ein wenig nach – aber nur ein wenig. »Sagen wir einfach, du bist nicht die Erste, die versucht, diesen Jungen zu knacken. Während der letzten Jahre, ähm, es waren einige Hundert, haben das schon viele versucht. Aber das heißt nur, dass die Latte so unglaublich tief liegt, dass jetzt niemand sehr viel von dir erwartet. Das ist dein Glück, denn ich setze zehn Dollar darauf, dass du schreiend davonrennst, sobald du ihn siehst.«
»Zehn Dollar?« Ich verdrehte die Augen und warf mein blondes Haar über die Schulter. »Also bitte. Ich kann Berge von Zehn-Dollar-Scheinen manifestieren. Ebenso wie du. Wenn du wirklich wetten willst, dann muss es um etwas gehen, was tatsächlich etwas wert ist. Im Ernst, biete mir etwas an, wofür sich meine Mühe hier lohnt.«
Er kniff die Augen zusammen und zog seine Mundwinkel nach oben. »Wie wäre es mit deinem Ausflug nach London? Wenn du den Radiant Boy dazu bringst, die Brücke zu überqueren, dann darfst du diese Reise machen. Wenn nicht …« Er zuckte die Schultern und ließ das Ende des Satzes unausgesprochen in der Luft hängen. Aber es war klar, was er meinte.
Ich schüttelte nur den Kopf. Wir hatten bereits beschlossen, dass ich gehen und diesen Auftrag in einem angemessenen Zeitraum erledigen würde. Er konnte jetzt nicht einfach die Regeln ändern. Nicht, nachdem alles bereits festgelegt war.
Er wandte sich von mir ab und versuchte, das Lächeln zu verbergen, das über sein Gesicht huschte. Ein Lächeln, das ich nicht sehen musste, um zu wissen, dass es da war. Als er sich wieder umdrehte, war es verschwunden, weggewischt und von einem skeptischen Gesichtsausdruck ersetzt worden. »Also gut, wenn du nicht schreiend davonläufst, wenn dir gelingt, was die anderen vergeblich versucht haben, wenn du es tatsächlich schaffst, dass der Radiant Boy die Brücke ganz überquert, dann werde ich dir beibringen, wie du nach London fliegen kannst, okay? Wie gefällt dir das?«
Er sah mich an und war offensichtlich stolz auf sich. Er war sich sicher, dass das niemals eintreffen würde, dass ich kläglich versagen würde und die ganze Sache damit erledigt war.
Das war okay für mich. Als jüngstes Mitglied meiner Familie war ich daran gewöhnt, dass man mich unterschätzte, und es gab nichts, was ich lieber tat, als alle eines Besseren zu belehren.
»Was ist mit Buttercup? Kann er dann auch fliegen?«
Bodhi sah zwischen meinem Hund und mir hin und her und zuckte nur die Schultern.
»Prima«, sagte ich und strich mir die Haare hinter die Ohren. Ich bereitete mich auf den bevorstehenden Kampf vor und ging davon aus, dass die Details später geklärt werden konnten. »Der Deal ist geritzt.«
Ich ging neben ihm her, bis er abrupt stehen blieb. »Tja, hier ist es«, verkündete er und deutete auf eine schwere, kunstvoll bemalte Tür nur wenige Zentimeter vor uns. »Das blaue Zimmer. Dort wohnt dein neuer Freund.«
»Das Heim eines Zehnjährigen«, murmelte ich kopfschüttelnd.
Ich wollte gerade durch die Tür gehen, als Bodhi seinen Arm nach mir ausstreckte. Er fuchtelte herum und fuhr damit durch die Luft, bis er ihn wieder sinken ließ und seine ernste Miene einen freundlichen Ausdruck annahm. »Riley …«, begann er.
Als ich mich umdrehte, sah ich in seinen Augen aufrichtige Besorgnis aufblitzen.
»Es … es ist nicht so, wie du denkst. Hinter dieser Geschichte steckt noch viel mehr. Es geht um Dinge, die du wahrscheinlich wissen solltest, bevor du hineingehst.«
Aber ich seufzte nur. Ich nahm an, dass das wieder eine Verzögerungstaktik war, oder eine Methode, um mich fertigzumachen. Ich ging davon aus, dass er jetzt bereit war, alles zu versuchen, um diese Wette zu gewinnen und mir keine Flugstunde geben zu müssen. Offensichtlich widerstrebte ihm schon der Gedanke daran.
»Er ist ein Geist. Er ist zehn Jahre alt. Er hat einen seltsamen Namen, den er sich entweder selbst eingehandelt hat oder auch nicht – das muss ich noch herausfinden -, und ich muss ihn dazu überreden, weiterzuziehen«, stellte ich fest. Für jeden Punkt meiner Aufzählung streckte ich einen Finger aus, bis ich schließlich nur noch meinen Daumen gegen die Mitte meiner Handfläche presste. »Also mal im Ernst, wie schwer kann das schon sein? Und was kann er mir schlimmstenfalls antun? Umbringen kann er mich ja nicht, oder? Also, nachdem wir das geklärt haben, kann ich jetzt bitte zu ihm? Ich möchte ihn von meiner Liste abhaken – schließlich wartet eine Flugstunde auf mich.«
Bodhi warf mir einen langen, starren, besorgten Blick zu. Dann schüttelte er den Kopf und gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, dass ich gehen sollte. Vielleicht murmelte er noch irgendetwas davon, dass er mir Glück wünschte und hier draußen auf mich warten würde, für den Fall, dass ich Hilfe brauchen sollte – aber vielleicht tat er das auch nicht.
Das werde ich wohl nie erfahren.
Ich war bereits losmarschiert.
Buttercup und ich befanden uns schon auf der anderen Seite der kunstvoll bemalten Tür.