SECHZEHN
Hätte ich wie die Geisterjägerin eine dieser
Spezialkameras gehabt, hätte ich ein Bild von Bodhis Gesicht
geschossen, als ich mit der ganzen Bande der (nicht wirklich
strahlenden) Radiant Boys aus dem blauen Zimmer kam.
»Und was jetzt?«,
fragte ich, während sich alle um mich scharten. Ich kniff die Augen
zusammen und schüttelte den Kopf, als Buttercup auf mich zugerannt
kam, mir die Finger ableckte und mich mit seinen großen braunen
Augen ansah. Er bettelte mich an, ihm zu vergeben, dass er mich im
Stich gelassen hatte, und wollte sich bei mir
einschmeicheln.
»Wie bringen wir sie
jetzt zur Brücke?«, fragte ich.
Aber Bodhi gab mir
keine Antwort.
Er war einfach
sprachlos.
Sein Blick wanderte
zwischen den Jungs hin und her. Er zählte sie immer wieder und war
offensichtlich jedes Mal von Neuem verblüfft, dass es tatsächlich
drei waren.
»Wie hast du …« Er
nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen und blinzelte mehrmals,
bevor er sie wieder aufsetzte und wieder zwinkerte.
»Das ist doch egal,
wie ich es geschafft habe. Sag mir jetzt, wie ich diese Jungs zur
Brücke bringen soll, bevor sie den Schwanz einziehen und kneifen«,
erwiderte ich. Ich hatte nicht vor, ihm meine Tricks zu verraten –
nicht, solange ich sie selbst noch nicht wirklich
beherrschte.
»Wen nennst du hier
einen Feigling?« Der Erdbeerkopf ließ seine Augen und seinen Mund
wieder so Furcht erregend aussehen, dass Buttercup winselte und
Bodhi beinahe vom Treppengeländer rutschte.
Aber ich sah ihn
einfach nur an. »Dich«, erwiderte ich. »Ich nenne dich einen Feigling. Ich wette zehn Dollar darauf,
dass du und deine Freunde losheulen wie Babys und sich nicht
trauen, über die Brücke zu gehen.«
»Du hast wohl
vergessen, dass Geld keinen Wert für uns besitzt. Oder vielleicht
hast du es auch nicht vergessen.« Erdbeerkopf zog eine Augenbraue
nach oben und grinste wissend. »Du musst uns nicht austricksen, um
uns zum Überqueren der Brücke zu bewegen. Deine kleine Ansprache
war schon überzeugend genug.«
»Tatsächlich?« Ich
versuchte, mein Lächeln zu unterdrücken, aber es gelang mir nicht.
Ich war einfach stolz auf mich und auch stolz auf sie, weil sie
diese Entscheidung getroffen hatten. »Na ja, mal ehrlich – ihr habt
mir auch geholfen.« Zumindest so weit, wie
drei Zehnjährige einem älteren, klügeren und reiferen zwölfjährigen
Mädchen helfen konnten. »Also vielen Dank.«
»Gern geschehen«,
erwiderte der Erdbeerkopf und hörte sich plötzlich sehr reif für
sein Alter an. »Und nur um das klarzustellen – wir sind fast elf.
Oh, und mein Name ist nicht Erdbeerkopf.« Er sah mir in die Augen,
aber glücklicherweise war sein Blick nicht feindselig. »Ich heiße
Hans. Und das sind Dieter und Wolfgang.« Er deutete auf seine
blonden Brüder. »Wir sind Drillinge, und ich bin der Älteste – um
siebzig Sekunden.«
Ich nickte. Es war
mir peinlich, dass er meine Gedanken gelesen hatte. Ich würde mich
vorsehen müssen, wenn ich im Jenseits Freunde gewinnen
wollte.
»Also? Wo ist nun
diese Brücke?«, fragte Wolfgang, und seine Brüder neben ihm nickten
zustimmend, offensichtlich begierig darauf, ein neues Abenteuer zu
erleben.
Bodhi schob den
Strohhalm auf die andere Seite seines Munds, nachdem er sich von
dem Schock, die drei zu sehen, erholt hatte, und schien wieder ganz
der Alte zu sein. »Okay, dann haltet euch jetzt alle an den Händen.
Und, Riley, du hältst Buttercup fest. Dann stellen wir uns alle
einen schimmernden Schleier aus weichem goldenen Licht vor
…«
Die Reise ins
Sommerland war kurz. So kurz, dass ich mich nicht einmal umschauen,
Freunde begrüßen oder meine Lieblingsorte aufsuchen
konnte.
Gerade eben waren
wir noch durch den goldenen Nebel gegangen, genau am Fuß der Brücke
gelandet, wo wir uns von den Radiant Boys verabschiedeten, und in
der nächsten Minute waren wir schon wieder dort, wo wir vorher
gestanden hatten. In dem langen Flur in Warmington Castle. Ich
schaute Bodhi an. »Glaubst du, dass sie mit irgendjemandem wieder
zusammenkommen? Mit ihrer Mutter vielleicht? Oder ist die
Zeitspanne dafür zu lang gewesen?«
Aber Bodhi zuckte
nur die Schultern, verhielt sich zurückhaltend und tat meine Frage
so uninteressiert ab, dass ich sofort genervt war.
Ich meine, ein wenig
Anerkennung wäre nett gewesen.
Vielleicht ein
Gut gemacht! Gute Arbeit! Selbst ein
High Five hätte mir gereicht.
Aber
nichts.
Er würdigte kaum die
Bewältigung der schwierigen Aufgabe, die ich hinter mich gebracht
hatte, und hatte uns auch noch genau dorthin zurückgebracht, wo wir
vorher gewesen waren. Und das war weder in der Nähe von London noch
von einer Start-und-Lande-Bahn.
»Was ist los?« Ich
runzelte die Stirn und fragte mich, warum er uns wieder hierher
gebracht hatte.
Ich hatte getan, was
man mir aufgetragen hatte, meine Aufgabe erledigt und erfolgreich
dieses Schloss von seinen Geistern befreit – von allen dreien. Ich
hatte die Wette gewonnen, also war es meiner Meinung nach an der
Zeit für meine Flugstunde und auch für meine Reise nach
London.
So war es eindeutig
vereinbart worden.
Ganz
einfach.
Und ich würde es auf
keinen Fall zulassen, dass Bodhi sich ein Schlupfloch suchte, um
sich vor unserer Vereinbarung zu drücken.
Eine derartige
Ungerechtigkeit würde ich ihm nicht durchgehen lassen.
Bodhi sah mich
jedoch nur an, ließ die Schultern hängen und grinste verlegen. Der
grüne Strohhalm wippte auf und ab, als er sagte: »Ähm, vielleicht
habe ich es noch nicht erwähnt, aber da gibt es noch etwas. Wir
müssen uns noch um eine Sache kümmern, aber dann können wir von
hier verschwinden, das verspreche ich dir.«
»Was meinst du
damit? Noch eine Sache?« Ich stemmte die Hände in die Hüften und
zeigte sowohl mit meinem Gesichtsaudruck als auch mit meiner
Stimme, wie wütend ich war. »Du kannst meine Aufgabe nicht einfach
erweitern! Das ist nicht fair! Ich habe genau das getan, was man
mir aufgetragen hat, und ich habe meine Aufgabe sehr schnell
erledigt, wenn ich das mal sagen darf. Warum also diese
Verzögerung? Lass uns gehen! Sofort! Im Ernst – auf geht’s! Ich
will bei Sonnenaufgang über der Themse schweben – sonst werde ich
sauer!« Ich sah ihn finster an. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie
ich ihm dann zeigen sollte, dass ich sauer war, aber zumindest
hatte ich es ausgesprochen. Und Recht musste Recht bleiben. Ich war
fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass die klar vereinbarten
Regeln nicht nur festgelegt worden waren, sondern auch eingehalten
wurden.
Ich war völlig
verwirrt, als Bodhi mich ansah und sagte: »Dieses Mal betrifft es
nicht dich, Riley. Es geht um mich.«