DREI
Als ich an diesem Morgen aufwachte – oh, das ist noch
so eine Sache -, ihr habt wahrscheinlich gedacht, ich müsse nicht
schlafen, richtig? Tja, das habe ich zuerst auch geglaubt. Aber wie
mir meine Eltern erklärten, sind wir in gewisser Weise lebendiger
als je zuvor und bestehen aus Energie in Reinform. Und nach einem
langen Tag des Schaffens und Manifestierens und nach allem, was die
Leute im Hier gerne tun, brauchen wir eine kleine Auszeit, um
wieder Energie zu tanken, ein kleines Schläfchen, um uns
auszuruhen, uns zu erholen und uns zu regenerieren – und auch das
unterscheidet sich nicht vom Leben auf der Erdebene.
Wie auch immer, als
ich heute Morgen aufgewacht bin, hat Buttercup mit dem Schwanz
gewedelt und mir das Gesicht abgeleckt. Obwohl das eine nette Art
ist, geweckt zu werden, habe ich ihn weggeschubst, mir die Decke
über den Kopf gezogen, mich herumgerollt und ihm den Rücken
zugekehrt. Ich kniff die Augenlider so fest zusammen, wie ich nur
konnte, und versuchte, wieder in meinen Traum zurückzufinden,
während Buttercup unablässig winselte und mich mit seinen Pfoten
anstupste.
Und gerade, als ich
ihn zum wiederholten Male wegschubsen wollte, begriff ich
es.
Buttercup war
meinetwegen so aufgeregt.
Alle waren
meinetwegen aufgeregt.
Von dem Augenblick
an, in dem ich ins Hier gelangt war, hatte ich meine Zeit
hauptsächlich damit verbracht, mich an mein neues Leben zu gewöhnen
und mich wieder mit meiner Familie vertraut zu machen. Und in
erster Linie hatte ich mich darum bemüht, zu lernen, wie man an
diesem Ort alles regelte. Jetzt, da ich mich eingewöhnt hatte, war
es Zeit für meinen ersten Tag in der Schule (ja, wir müssen im Hier
zur Schule gehen – wir hängen nicht nur den ganzen Tag auf einer
Wolke herum und spielen Harfe), und da sich jeder meinetwegen in
freudiger Aufregung befand, blieb mir nichts anderes übrig, als
mich ebenfalls so zu verhalten.
Also musste ich
freudig aufgeregt aus dem Bett springen, mich zurechtmachen und ein
paar coole Klamotten manifestieren, damit ich zu einem Ort
aufbrechen konnte, wo ich, so wie zumindest meine Eltern es sahen,
»neue Freunde treffen würde, einige neue Dinge
lernen würde und im Handumdrehen genau da würde weitermachen
können, wo ich zu Hause aufgehört hatte.«
Und egal, wie groß
meine Zweifel daran waren und wie sehr ich alles darauf wetten
würde, dass sich das nicht mal im Entferntesten bewahrheiten würde,
lächelte ich einfach und machte das Spielchen mit. Ich wollte sie
glauben lassen, dass ich mich genauso auf diesen Moment freute, wie
sie es taten.
Ich wollte sie nicht
wissen lassen, wie sehr ich mein altes Leben in meinem früheren
Zuhause vermisste. Ich vermisste es so sehr, dass ich einen
ständigen Schmerz in der Magengegend verspürte. Und ich war
verdammt sicher, dass diese Schule niemals mit der konkurrieren
konnte, die ich zurückgelassen hatte – auch wenn sie mir noch so
oft erzählten, wie cool es dort sei.
Nachdem ich mir mit
Mom and Dad ein kleines Frühstück gegönnt hatte (und, nein, wir
müssen eigentlich nichts mehr essen, aber würdet ihr auf den
Geschmack von leckerem Müsli mit Marshmallows verzichten, wenn ihr
nicht müsstet?), machte ich mich auf den Weg. Zuerst hatte ich mir
eine typische Schuluniform angezogen, weil ich schon immer in eine
Privatschule hatte gehen wollen, wo man so etwas anziehen musste:
weiße Bluse, karierter Rock, blauer Blazer, weiße Socken und coole
Schuhe. Doch auf halbem Weg änderte ich meine Meinung und tauschte
die Schuluniform gegen Röhrenjeans, Ballerinas und eine weiche,
flauschige blaue Strickjacke, unter der ich ein weißes Top mit dem
Schriftzug meiner Lieblingsband trug.
Ehrlich, etwas zu
manifestieren ist tatsächlich so einfach – oder zumindest ist es
das im Hier. Du denkst einfach an etwas, was du haben willst, egal,
worum es sich handelt, stellst es dir ganz genau vor – et voilà – schon gehört es dir!
Jedenfalls wechselte
ich auf dem Weg zur Schule immer zwischen den beiden Outfits hin
und her, und her und hin. Mal war ich wie eine Internatsschülerin
angezogen, mal wie eine sehr modebewusste Zwölfjährige. Ich
beschloss, bei dem Ensemble zu bleiben, das ich gerade tragen
würde, wenn ich den Campus erreichte. Und ich wusste, dass ich es
immer noch im Handumdrehen ändern konnte, sollte es die falsche
Wahl sein.
Aber dann, irgendwo,
an irgendeiner Stelle des Wegs, sah ich ihn.
Den
Aussichtsraum.
Den Ort, vor dem
meine Eltern mich gewarnt hatten.
Sie hatten mir
eingeschärft, dass er mir nicht guttun würde. Dass ich mich nur
wieder hineinsteigern würde, obwohl ich doch jetzt meine Energie
darauf konzentrieren sollte, weiterzugehen, mich einzufinden und
die Tatsache zu akzeptieren, dass ich nun ganz offiziell im Hier
und Jetzt lebte. Sie hatten betont, dass es höchste Zeit für mich
sei, meinem alten Leben den Rücken zuzukehren und mich darauf zu
konzentrieren, das Leben im Jenseits anzunehmen.
»Du hast lange genug
auf der Erdebene herumgetrödelt«, sagte mein Dad und musterte mich
mitfühlend, wenn auch besorgt.
Meine Mom
beobachtete mich mit zusammengekniffenen Augen und vor der Brust
verschränkten Armen und ließ sich nicht eine Sekunde lang täuschen,
als ich vorgab, daran kaum interessiert zu sein. »Deine Schwester
muss ihre eigenen Lektionen lernen und ihr Schicksal tragen, und du
darfst dich da nicht einmischen«, erklärte sie, nicht bereit,
nachzugeben oder zumindest zu versuchen, meinen Standpunkt zu
verstehen.
Natürlich meinten
sie es nur gut, aber sie kannten meine Schwester nicht annähernd so
gut wie ich. Sie wussten nicht, dass sie mich auf eine Art
brauchte, die meine Eltern nicht einmal ansatzweise verstehen
konnten. Wenn es außerdem wahr war, dass es hier keine Zeit gab,
dann konnte ich auch nicht zu spät zur Schule kommen, richtig? Was
konnte mir also im schlimmsten Fall passieren?
Mein Entschluss war
gefasst. Ich machte einen kleinen Umweg, schlüpfte hinein, zog
rasch ein Ticket aus dem Automaten an der Wand und stellte mich
dann an das Ende der langen Schlange. Um mich herum unterhielten
sich etliche Grauhaarige unablässig über ihre Enkel und konnten es
kaum mehr erwarten, einen Blick auf sie zu werfen. Endlich
leuchtete meine Nummer auf dem Bildschirm über meinem Kopf auf, und
ich marschierte schnurstracks in die frei gewordene Kabine. Nachdem
ich den Vorhang hinter mir zugezogen und mich auf dem harten
Metallhocker niedergelassen hatte, tippte ich den gewünschten Ort
ein und starrte gebannt auf den Bildschirm, bis ich sie
entdeckte.
Ever. Meine
Schwester.
Ein blonder Teenager
mit blauen Augen, der mir sehr ähnlich sieht – bis auf die Nase.
Meine Schwester hatte das Glück gehabt, die perfekt geformte,
gerade Nase unserer Mom zu erben, während ich die, äh, etwas
knubbelige meines Dads hatte.
»Eine
Charakternase«, pflegte mein Dad zu sagen. »Es gibt keine zweite
wie sie, nirgendwo -nur in deinem Gesicht!« Dabei zwickte er mich
immer leicht in den Nasenflügel und brachte mich damit zum
Lachen.
Aber obwohl ich
eine, wie es mir vorkam, sehr lange Zeit auf den Bildschirm
starrte, konnte ich nicht behaupten, viel zu sehen. Zumindest
nichts Wichtiges. Nichts, was meinen Herzschlag stocken ließ (und,
nein, mein Herz schlägt nicht mehr, das ist nur eine Redewendung).
Im Grunde genommen sah ich nur ein Mädchen, das versuchte, ihre
Tagesroutine beizubehalten, und sich verzweifelt bemühte, ihre
Umgebung davon zu überzeugen, dass sie ein vollkommen normales
Leben führte. Das entsprach jedoch alles andere als der Wahrheit,
wie ich mit Sicherheit wusste.
Trotzdem konnte ich
nicht aufhören, sie zu beobachten. Und ich konnte nichts gegen das
altbekannte Gefühl tun, das mich wieder übermannte.
Ein Gefühl, bei dem
mein Herz so stark anschwoll, dass ich sicher war, es würde gleich
platzen und ein großes Loch direkt in meinen Brustkorb
schlagen.
Ein Gefühl, bei dem
sich meine Kehle zuschnürte und heiß wurde, meine Augen zu brennen
begannen und mich ein Sehnen erfüllte, ein überwältigendes, so
starkes Verlangen, dass ich bereit war, alles zu tun, um
zurückkehren zu können.
Zurück auf die
Erdebene.
Zurück dorthin, wo
ich wirklich hingehörte.
So sehr ich mich
auch bemühte, ein tapferes Gesicht aufzusetzen und alle davon zu
überzeugen, dass ich mich gut eingewöhnte und allmählich Gefallen
an meinem neuen Leben im Hier fand, war das nicht wahr – und das
war Tatsache.
Ich konnte mich
nicht an das Leben im Hier gewöhnen.
Ich fand keinen
Gefallen daran.
Überhaupt
nicht.
Tatsächlich hätte
ich alles getan, um zu dieser Brücke zurückzukehren, wenn ich die
Gelegenheit dazu gehabt hätte. Und dann hätte ich sie im
Laufschritt überquert, ohne auch nur einen einzigen Blick
zurückzuwerfen.
Ich hätte alles
getan, um nach Hause zurückzukehren, in mein wirkliches Heim, und dort wieder mit meiner
Schwester zusammenzuleben.
Und ich musste nicht
lange auf den Bildschirm vor mir schauen, um zu erkennen, dass Ever
so ziemlich das Gleiche empfand. Sie vermisste mich nicht nur,
sondern es war ganz klar, dass sie mich ebenso brauchte wie ich
sie.
Und das zeigte mir
deutlich, dass ich das Richtige getan hatte.
Das reichte mir
vollkommen, um mich kein bisschen schlecht zu fühlen, weil ich
gegen die Wünsche meiner Eltern gehandelt und mich in den
Aussichtsraum geschlichen hatte.
Und ehrlich gesagt,
war ich der Meinung, dass ich ein Recht darauf hatte.
Manchmal muss man
einfach eigenmächtig handeln.
Manchmal muss man
tun, was man tief in seinem Inneren für richtig hält.