012
 
ELF
 
Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass Bodhi überhaupt nicht so Skateboard fuhr, wie ich es gedacht hatte. Ehrlich gesagt, hatte ich mit einem schrecklichen Schauspiel gerechnet – einer Vorstellung, bei der jeder zusammenzuckte. Doch er fiel nicht hin, fuhr volles Risiko und war kein bisschen unsicher dabei.
Im Gegenteil – er fuhr so viele Loops, Spins und Tricks, dass ich Mühe hatte, ihm zu folgen.
Das hatte ich wirklich nicht erwartet.
Ich war total überwältigt.
Und falls ihr glaubt, das läge alles daran, dass er tot ist, dann habt ihr euch getäuscht. Ich bin auch tot, und ich konnte mich kaum aufrecht auf dem Board halten, geschweige denn Loops und Spins fahren, als wir diesen steilen, kurvenreichen Weg entlangbrausten, der im Wechsel nach oben und nach unten führte. Nein, das war reines Können, eine Fähigkeit, die er hatte und die mir eindeutig fehlte. Als wir oben angelangt waren, beobachtete ich staunend, wie er sein Board an einem Ende mit dem Fuß so antippte, dass es problemlos in seiner Hand landete. Er warf mir einen Blick zu. »Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich Profi werden wollte.« Er neigte den Kopf und deutete auf das Gebäude vor uns. »Was sagst du? Ziemlich beeindruckend, oder?«
Ich nickte. Obwohl es das erste Schloss war, das ich zu Gesicht bekam, und ich allein schon deshalb schwer beeindruckt war, erkannte ich, dass das offensichtlich ein besonders tolles Exemplar war. Es war aus glattem grauen Stein erbaut, groß und imposant, und es sah so aus, als würde es dort schon seit einer Ewigkeit stehen. Oben ragten unzählige dieser hohen, spitz zulaufenden Aufbauten hoch, die man, wie ich glaube, Türmchen nennt. Das Einzige, was fehlte, war ein Burggraben voller Alligatoren, aber darüber konnte ich hinwegsehen.
Ich schluckte heftig – ich war mir nicht sicher, ob ich dafür bereit war. Ich meine, wenn ich an einem so beeindruckenden Ort wohnen würde, wäre ich auch nicht so leicht bereit, mich davon zu trennen.
Ich hielt meinen Blick nervös auf Buttercup gerichtet, der die riesige, gut gepflegte Rasenfläche beschnüffelte und markierte. Ich räusperte mich. »Also, was genau machen wir hier eigentlich?« Unauffällig stieß ich mein Skateboard mit dem Fuß unter einen nahegelegenen Busch und hoffte, dass ich es so schnell nicht wieder benutzen musste.
»Dort wohnt er.« Bodhis Stimme klang ehrfürchtig. »Der Radiant Boy. Er ist schon seit Jahren dort. Tatsächlich schon seit Jahrhunderten.«
»Warum nennst du ihn so?« Ich kniff die Augen zusammen. Eigentlich war mir mehr daran gelegen, die Sache noch hinauszuzögern, als die Antwort auf meine Frage zu erfahren.
»Weil das sein Name ist.« Er zuckte die Schultern und kaute auf diese merkwürdige, ihm eigene Weise auf seiner Unterlippe.
»Willst du damit sagen, dass ihn seine Mom tatsächlich Radiant Boy genannt hat?« Ich schüttelte den Kopf, verdrehte die Augen und trommelte mit den Fingern an meinen karierten Rock. »Kein Wunder, dass er immer noch hier ist und herumspukt. Er ist sauer. Er will einen neuen Versuch. Eine zweite Chance mit einem besseren Namen. Es ist nicht seine Schuld. Der Junge hat die Arschkarte gezogen.«
Bodhi sah mich von der Seite an. Offensichtlich fand er das nicht witzig. »Niemand kennt seinen wirklichen Namen, und niemand weiß, woher er kommt. Man weiß nur, dass er seit Hunderten von Jahren Leute erschreckt. Wie und warum, ist ein Rätsel, und da kommst du ins Spiel.«
Er wandte sich mir zu und starrte zuerst in meine hervorquellenden Augen und dann auf meinen offen stehenden Mund. Mein Führer, mein Boss, mein Lehrer, mein Trainer, was immer er auch war, welche Macht auch immer er glaubte, über mich zu haben, konnte doch wohl nicht meine Aufgabenstellung auf diese Weise erweitern. Das bezweifelte ich stark. Der Rat hatte mir gesagt, ich würde als Seelenfängerin angelernt werden. Als jemand, der erdverwurzelte Seelen auf den Weg bringen sollte. Das war es. Niemand hatte davon gesprochen, dass ich die persönlichen Geschichten und die Beweggründe der Leute erfahren musste oder irgendwelche Rätsel lösen sollte.
»Soviel ich weiß, ist es meine Aufgabe, ihn zu der Brücke zu bringen – nicht mehr und nicht weniger«, erklärte ich. Das wollte ich klarstellen, bevor ich mich weiter darauf einließ. Beim Skateboardfahren mochte ich mich vielleicht blamiert haben, aber ansonsten brauchte er nicht zu versuchen, sich mit mir anzulegen.
Er grinste. Na ja, eigentlich grinste er nicht wirklich – seine Lippen hoben sich nur ein winziges Stück an den Mundwinkeln, bevor er sie wieder nach unten zog. »Und wie genau willst du das machen, wenn du nicht zuvor sein Vertrauen gewinnst?«, fragte er.
Ich schluckte. Daran hatte ich nicht gedacht. Eigentlich hatte ich über gar nichts nachgedacht, was geschehen sollte, wenn ich wieder auf der Erdebene war. Jetzt begriff ich das enorme Ausmaß meiner Aufgabe, und ich … na ja, sagen wir einfach, ich fing an, meine neue Schule zu vermissen. Perseus, die Cheerleaderin, den Jungen mit der Tunika und alles, was damit zu tun hatte.
Ich schluckte hart. Mit einem Mal fühlte ich mich sehr klein und unzulänglich und unsicher, ob ich fähig war, das zu meistern.
Und Bodhi war keine Hilfe. Er quatschte immer weiter, wie ein Sprecher in einem dieser langweiligen Dokumentarfilme, die wir uns an Regentagen in der Schule anschauen mussten. »Man sagt, er sei ein Gespenst mit goldblondem Haar, der tatsächlich im Dunkeln leuchtet. Der Legende nach ist es ein Omen für Pech oder Verderben, wenn man ihn sieht. Obwohl das im letzten Jahrhundert anscheinend widerlegt wurde, denn viele Menschen haben ihn gesehen, aber keiner von ihnen hat, ähm, sozusagen Schaden erlitten – zumindest nicht bis jetzt. Außerdem gibt es Gerüchte, dass er möglicherweise Deutscher ist und vielleicht von seiner eigenen Mutter ermordet wurde, aber auch das ist reine Spekulation. Allerdings kann ich dir mit Sicherheit sagen, dass es einige Berichte über eine Reihe von Radiant Boys gibt, die verschiedene Schlösser in den Grafschaften Cumberland und Northumberland heimgesucht haben, aber meiner Meinung nach handelt es sich dabei um einen Schwindel. Die Schlossbesitzer haben versucht, mit einer Lüge mit Warmington gleichzuziehen, damit ein gutes Geschäft zu machen und bekannt zu werden. Ganz zu schweigen von …«
»Warte – welche Grafschaften hast du gerade genannt?«, fragte ich, starrte auf das riesige Steinschloss vor mir und versuchte verzweifelt, Zeit zu schinden.
»Einige Grafschaften hier in England. Wie auch immer, man sagt auch, dass …«
»Warte mal. Wir sind in England?« Ich starrte ihn an und riss aufgeregt die Augen auf. Das waren die ersten guten Nachrichten an diesem Tag. Bodhi nickte und brannte darauf, mit seinem Vortrag fortzufahren, aber ich war nicht daran interessiert. Meine Gedanken kreisten darum, dass ich gerade meine erste Fernreise gemacht hatte. »Können wir uns London anschauen? Nachdem wir … äh, den Radiant Boy über die Brücke geschubst haben?«, fragte ich. Ich kreuzte heimlich meine Finger und hoffte darauf, denn dann hätte sich der ganze Aufwand gelohnt. Das wäre wirklich, wirklich cool.
Bodhi runzelte verärgert die Stirn. »Ja, klar, meinetwegen. Aber zuerst musst du mir gut zuhören. Du musst wissen, womit du es hier zu tun hast. Ganz zu schweigen davon, dass hier niemand irgendjemanden irgendwohin schubst. Du wirst ihm gut zureden und ihn davon überzeugen, dass er die Brücke aus eigenem Willen überqueren wird.«
Ich warf Bodhi einen Blick zu. Ich fand es witzig, dass er sich manchmal wie ein normaler Vierzehnjähriger verhielt und Wörter wie spaßender verwendete, und im nächsten Moment so etwas wie »aus eigenem Willen« von sich gab und damit ernst und geschäftsmäßig rüberkam. Da ich auch gern meinen Wortschatz kombinierte, beschloss ich, dass mir das an ihm gefiel.
Aber nur das.
Ich starrte nach oben auf das Schloss, überwältigt und total aufgeregt.
Ich würde nach London fahren!
Der Wohnsitz von Orlando Bloom, Daniel Radcliffe, Prinz William und Prinz Harry, und nicht zu vergessen von der absoluten Lieblingsband meines Vaters, den Beatles (okay, sie stammen eigentlich aus Liverpool, aber für mich war das nahe genug dran).
Ich musste einfach nur einen Geist von diesem Ort vertreiben, und schon war ich dort. Ich musste nur ein verwöhntes Muttersöhnchen mit einem bedauernswerten Namen, der sich weigerte, ein riesiges Haus mit einem tollen Garten, Springbrunnen und spitzen Türmchen zu verlassen, dazu bewegen, das alles gegen eine in meinen Augen wirklich merkwürdige Schule und einen peinlichen Rückblick auf sein Leben einzutauschen.
Und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich das konnte. Es war kinderleicht. Ich meine, ich war mir meiner selbst plötzlich so sicher, dass ich vor Selbstbewusstsein beinahe geplatzt wäre.
Ich unterbrach Bodhi bei seinem endlosen Vortrag. »Okay, also lass uns jetzt die Sache auf den Punkt bringen. Womit genau habe ich es zu tun? Wie alt ist dieser Junge eigentlich?« Ich war der Meinung, ich sollte einen Plan haben, bevor ich dort hineinging, und wenn ich sein Alter wusste, könnte ich besser einschätzen, wie ich auf ihn zugehen sollte.
Entweder war er jünger als ich und damit weniger beängstigend, mir sogar vielleicht in jeder Hinsicht unterlegen. Oder er war älter als ich. Na ja, dann würde ich mich etwas mehr anstrengen müssen, aber auch das würde ich sicher hinkriegen.
»Ich weiß es nicht.« Bodhi seufzte. »Niemand weiß es. Dieser Junge ist wirklich ein Rätsel, ein absolutes Mysterium. Aber wie man sich erzählt, scheint er ungefähr zehn zu sein.«
»Zehn?« Ich riss erstaunt den Mund auf und ließ meinen Blick zwischen dem Schloss und Bodhi hin und her wandern. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Dieses Kind, dieser Furcht einflößende Geist, war erst zehn Jahre alt? »Ich bitte dich.« Ich lachte, schüttelte den Kopf und erlaubte mir ein dramatisches Augenrollen. »Zehn. Das werde ich mir merken.« Ich blies mir meinen Pony aus der Stirn, straffte die Schultern, zog meinen Rock zurecht und bereitete mich darauf vor, in das Schloss zu gehen. »Also, wo ist er? Wo steckt dieser Furcht erregende Zehnjährige? Lass mich zu ihm. Auf mich wartet ein Ausflug nach London.«
Bodhi sah mich an. Offensichtlich wägte er in Gedanken etwas ab und entschied sich dann dagegen – worum auch immer es sich gehandelt haben mochte. Er zuckte die Schulter. »Gut, dann machen wir es so, wie du willst. Vorerst. Komm mit.«