ELF
Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass Bodhi
überhaupt nicht so Skateboard fuhr, wie ich es gedacht hatte.
Ehrlich gesagt, hatte ich mit einem schrecklichen Schauspiel
gerechnet – einer Vorstellung, bei der jeder zusammenzuckte. Doch
er fiel nicht hin, fuhr volles Risiko und war kein bisschen
unsicher dabei.
Im Gegenteil – er
fuhr so viele Loops, Spins und Tricks, dass ich Mühe hatte, ihm zu
folgen.
Das hatte ich
wirklich nicht erwartet.
Ich war total
überwältigt.
Und falls ihr
glaubt, das läge alles daran, dass er tot ist, dann habt ihr euch
getäuscht. Ich bin auch tot, und ich konnte mich kaum aufrecht auf
dem Board halten, geschweige denn Loops und Spins fahren, als wir
diesen steilen, kurvenreichen Weg entlangbrausten, der im Wechsel
nach oben und nach unten führte. Nein, das war reines Können, eine
Fähigkeit, die er hatte und die mir eindeutig fehlte. Als wir oben
angelangt waren, beobachtete ich staunend, wie er sein Board an
einem Ende mit dem Fuß so antippte, dass es problemlos in seiner
Hand landete. Er warf mir einen Blick zu. »Ich habe dir ja schon
gesagt, dass ich Profi werden wollte.« Er neigte den Kopf und
deutete auf das Gebäude vor uns. »Was sagst du? Ziemlich
beeindruckend, oder?«
Ich nickte. Obwohl
es das erste Schloss war, das ich zu Gesicht bekam, und ich allein
schon deshalb schwer beeindruckt war, erkannte ich, dass das
offensichtlich ein besonders tolles Exemplar war. Es war aus
glattem grauen Stein erbaut, groß und imposant, und es sah so aus,
als würde es dort schon seit einer Ewigkeit stehen. Oben ragten
unzählige dieser hohen, spitz zulaufenden Aufbauten hoch, die man,
wie ich glaube, Türmchen nennt. Das Einzige, was fehlte, war ein
Burggraben voller Alligatoren, aber darüber konnte ich
hinwegsehen.
Ich schluckte heftig
– ich war mir nicht sicher, ob ich dafür bereit war. Ich meine,
wenn ich an einem so beeindruckenden Ort wohnen würde, wäre ich
auch nicht so leicht bereit, mich davon zu trennen.
Ich hielt meinen
Blick nervös auf Buttercup gerichtet, der die riesige, gut
gepflegte Rasenfläche beschnüffelte und markierte. Ich räusperte
mich. »Also, was genau machen wir hier eigentlich?« Unauffällig
stieß ich mein Skateboard mit dem Fuß unter einen nahegelegenen
Busch und hoffte, dass ich es so schnell nicht wieder benutzen
musste.
»Dort wohnt er.«
Bodhis Stimme klang ehrfürchtig. »Der Radiant Boy. Er ist schon
seit Jahren dort. Tatsächlich schon seit
Jahrhunderten.«
»Warum nennst du ihn
so?« Ich kniff die Augen zusammen. Eigentlich war mir mehr daran
gelegen, die Sache noch hinauszuzögern, als die Antwort auf meine
Frage zu erfahren.
»Weil das sein Name
ist.« Er zuckte die Schultern und kaute auf diese merkwürdige, ihm
eigene Weise auf seiner Unterlippe.
»Willst du damit
sagen, dass ihn seine Mom tatsächlich Radiant
Boy genannt hat?« Ich schüttelte den Kopf, verdrehte die
Augen und trommelte mit den Fingern an meinen karierten Rock. »Kein
Wunder, dass er immer noch hier ist und herumspukt. Er ist sauer.
Er will einen neuen Versuch. Eine zweite Chance mit einem besseren
Namen. Es ist nicht seine Schuld. Der Junge hat die Arschkarte
gezogen.«
Bodhi sah mich von
der Seite an. Offensichtlich fand er das nicht witzig. »Niemand
kennt seinen wirklichen Namen, und niemand weiß, woher er kommt.
Man weiß nur, dass er seit Hunderten von Jahren Leute erschreckt.
Wie und warum, ist ein Rätsel, und da kommst du ins
Spiel.«
Er wandte sich mir
zu und starrte zuerst in meine hervorquellenden Augen und dann auf
meinen offen stehenden Mund. Mein Führer, mein Boss, mein Lehrer,
mein Trainer, was immer er auch war, welche Macht auch immer er
glaubte, über mich zu haben, konnte doch wohl nicht meine
Aufgabenstellung auf diese Weise erweitern. Das bezweifelte ich
stark. Der Rat hatte mir gesagt, ich würde als Seelenfängerin
angelernt werden. Als jemand, der erdverwurzelte Seelen auf den Weg
bringen sollte. Das war es. Niemand hatte davon gesprochen, dass
ich die persönlichen Geschichten und die Beweggründe der Leute
erfahren musste oder irgendwelche Rätsel lösen sollte.
»Soviel ich weiß,
ist es meine Aufgabe, ihn zu der Brücke zu bringen – nicht mehr und
nicht weniger«, erklärte ich. Das wollte ich klarstellen, bevor ich
mich weiter darauf einließ. Beim Skateboardfahren mochte ich mich
vielleicht blamiert haben, aber ansonsten brauchte er nicht zu
versuchen, sich mit mir anzulegen.
Er grinste. Na ja,
eigentlich grinste er nicht wirklich – seine Lippen hoben sich nur
ein winziges Stück an den Mundwinkeln, bevor er sie wieder nach
unten zog. »Und wie genau willst du das machen, wenn du nicht zuvor
sein Vertrauen gewinnst?«, fragte er.
Ich schluckte. Daran
hatte ich nicht gedacht. Eigentlich hatte ich über gar nichts
nachgedacht, was geschehen sollte, wenn ich wieder auf der Erdebene
war. Jetzt begriff ich das enorme Ausmaß meiner Aufgabe, und ich …
na ja, sagen wir einfach, ich fing an, meine neue Schule zu
vermissen. Perseus, die Cheerleaderin, den Jungen mit der Tunika
und alles, was damit zu tun hatte.
Ich schluckte hart.
Mit einem Mal fühlte ich mich sehr klein und unzulänglich und
unsicher, ob ich fähig war, das zu meistern.
Und Bodhi war keine
Hilfe. Er quatschte immer weiter, wie ein Sprecher in einem dieser
langweiligen Dokumentarfilme, die wir uns an Regentagen in der
Schule anschauen mussten. »Man sagt, er sei ein Gespenst mit
goldblondem Haar, der tatsächlich im Dunkeln leuchtet. Der Legende
nach ist es ein Omen für Pech oder Verderben, wenn man ihn sieht.
Obwohl das im letzten Jahrhundert anscheinend widerlegt wurde, denn
viele Menschen haben ihn gesehen, aber keiner von ihnen hat, ähm,
sozusagen Schaden erlitten – zumindest nicht bis jetzt. Außerdem
gibt es Gerüchte, dass er möglicherweise Deutscher ist und
vielleicht von seiner eigenen Mutter ermordet wurde, aber auch das
ist reine Spekulation. Allerdings kann ich dir mit Sicherheit
sagen, dass es einige Berichte über eine Reihe von Radiant Boys
gibt, die verschiedene Schlösser in den Grafschaften Cumberland und
Northumberland heimgesucht haben, aber meiner Meinung nach handelt
es sich dabei um einen Schwindel. Die Schlossbesitzer haben
versucht, mit einer Lüge mit Warmington gleichzuziehen, damit ein
gutes Geschäft zu machen und bekannt zu werden. Ganz zu schweigen
von …«
»Warte – welche
Grafschaften hast du gerade genannt?«, fragte ich, starrte auf das
riesige Steinschloss vor mir und versuchte verzweifelt, Zeit zu
schinden.
»Einige Grafschaften
hier in England. Wie auch immer, man sagt auch, dass
…«
»Warte mal. Wir sind
in England?« Ich starrte ihn an und
riss aufgeregt die Augen auf. Das waren die ersten guten
Nachrichten an diesem Tag. Bodhi nickte und brannte darauf, mit
seinem Vortrag fortzufahren, aber ich war nicht daran interessiert.
Meine Gedanken kreisten darum, dass ich gerade meine erste
Fernreise gemacht hatte. »Können wir uns London anschauen? Nachdem
wir … äh, den Radiant Boy über die Brücke geschubst haben?«, fragte
ich. Ich kreuzte heimlich meine Finger und hoffte darauf, denn dann
hätte sich der ganze Aufwand gelohnt. Das wäre wirklich, wirklich
cool.
Bodhi runzelte
verärgert die Stirn. »Ja, klar, meinetwegen. Aber zuerst musst du
mir gut zuhören. Du musst wissen, womit du es hier zu tun hast.
Ganz zu schweigen davon, dass hier niemand irgendjemanden
irgendwohin schubst. Du wirst ihm gut
zureden und ihn davon überzeugen, dass er die Brücke aus eigenem Willen
überqueren wird.«
Ich warf Bodhi einen
Blick zu. Ich fand es witzig, dass er sich manchmal wie ein
normaler Vierzehnjähriger verhielt und Wörter wie spaßender verwendete, und im nächsten Moment so
etwas wie »aus eigenem Willen« von sich gab und damit ernst und
geschäftsmäßig rüberkam. Da ich auch gern meinen Wortschatz
kombinierte, beschloss ich, dass mir das an ihm
gefiel.
Aber nur
das.
Ich starrte nach
oben auf das Schloss, überwältigt und total aufgeregt.
Ich würde nach
London fahren!
Der Wohnsitz von
Orlando Bloom, Daniel Radcliffe, Prinz William und Prinz Harry, und
nicht zu vergessen von der absoluten Lieblingsband meines Vaters,
den Beatles (okay, sie stammen eigentlich aus Liverpool, aber für
mich war das nahe genug dran).
Ich musste einfach
nur einen Geist von diesem Ort vertreiben, und schon war ich dort.
Ich musste nur ein verwöhntes Muttersöhnchen mit einem
bedauernswerten Namen, der sich weigerte, ein riesiges Haus mit
einem tollen Garten, Springbrunnen und spitzen Türmchen zu
verlassen, dazu bewegen, das alles gegen eine in meinen Augen
wirklich merkwürdige Schule und einen peinlichen Rückblick auf sein
Leben einzutauschen.
Und in diesem Moment
wurde mir klar, dass ich das konnte. Es war kinderleicht. Ich
meine, ich war mir meiner selbst plötzlich so sicher, dass ich vor
Selbstbewusstsein beinahe geplatzt wäre.
Ich unterbrach Bodhi
bei seinem endlosen Vortrag. »Okay, also lass uns jetzt die Sache
auf den Punkt bringen. Womit genau habe ich es zu tun? Wie alt ist
dieser Junge eigentlich?« Ich war der Meinung, ich sollte einen
Plan haben, bevor ich dort hineinging, und wenn ich sein Alter
wusste, könnte ich besser einschätzen, wie ich auf ihn zugehen
sollte.
Entweder war er
jünger als ich und damit weniger beängstigend, mir sogar vielleicht
in jeder Hinsicht unterlegen. Oder er war älter als ich. Na ja,
dann würde ich mich etwas mehr anstrengen müssen, aber auch das
würde ich sicher hinkriegen.
»Ich weiß es nicht.«
Bodhi seufzte. »Niemand weiß es. Dieser Junge ist wirklich ein
Rätsel, ein absolutes Mysterium. Aber wie man sich erzählt, scheint
er ungefähr zehn zu sein.«
»Zehn?« Ich riss erstaunt den Mund auf und ließ
meinen Blick zwischen dem Schloss und Bodhi hin und her wandern.
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Dieses Kind, dieser Furcht
einflößende Geist, war erst zehn Jahre
alt? »Ich bitte dich.« Ich lachte, schüttelte den Kopf und erlaubte
mir ein dramatisches Augenrollen. »Zehn. Das werde ich mir merken.«
Ich blies mir meinen Pony aus der Stirn, straffte die Schultern,
zog meinen Rock zurecht und bereitete mich darauf vor, in das
Schloss zu gehen. »Also, wo ist er? Wo steckt dieser Furcht
erregende Zehnjährige? Lass mich zu ihm. Auf mich wartet ein
Ausflug nach London.«
Bodhi sah mich an.
Offensichtlich wägte er in Gedanken etwas ab und entschied sich
dann dagegen – worum auch immer es sich gehandelt haben mochte. Er
zuckte die Schulter. »Gut, dann machen wir es so, wie du willst.
Vorerst. Komm mit.«