VIERZEHN
Der Raum hinter ihm bebte.
Dinge flogen durch
die Luft.
Das
Geisterjägerpärchen schoss zur Tür hinaus. Sie ließen ihre
Habseligkeiten liegen, ohne auch nur einen weiteren Blick darauf zu
werfen. Das kreischende Echo des Schreis von dem Mann hing noch
lange in der Luft, nachdem sie schon längst geflüchtet
waren.
Und nun musste ich
dem Radiant Boy allein gegenübertreten, während beinahe alles, was
nicht festgenagelt oder mehr als 100 Kilo schwer war, durch die
Luft geschleudert wurde und direkt auf mich gerichtet
war.
Ein Stuhl spaltete
mich beinahe in zwei Hälften.
Eine Lampe schlug
mir fast den Kopf ab.
Und dann hob sich
ein Paar langer Baumwollstrümpfe mit Löchern an den Zehen und
Fersen aus dem Koffer des Pärchens und kam auf meinen Hals
zugeflogen, eindeutig in der Absicht, mich zu
erwürgen.
Alles wirbelte wie
von einem stürmischen Windstoß getrieben herum, der einem Tornado
im Mittleren Westen glich und nicht aufhörte, bis der gesamte Raum
und alles, was sich darin befand, entweder zerbrochen, umgeworfen
oder nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz war.
Ich kauerte mich
gegen die Wand und entkam um Haaresbreite einem defekten Föhn, der
sich wie eine Giftschlange zischend an mir vorbeischlängelte. Ich
hatte zu große Angst, meine Augen zu schließen, weil ich dann etwas
verpassen könnte, aber ich hatte genauso große Angst, sie offen zu
lassen, weil ich nicht wusste, was ich dann noch zu sehen bekommen
würde. Ich blinzelte trotz des Winds und der herumfliegenden
Trümmer nach oben zu Radiant Boy, der finster auf mich
herunterschaute, und wünschte, ich hätte Buttercups Schwanz gepackt
und wäre mit ihm nach draußen gelaufen, als ich dazu noch eine
Möglichkeit hatte.
Aber jetzt war es zu
spät. Da ich es versäumt hatte, rechtzeitig wegzulaufen, blieb mir
nichts anderes übrig, als mit der Situation zurechtzukommen. Wenn
ich nach London wollte, fliegen lernen wollte, oder den Mut
besitzen wollte, Bodhi jemals wieder gegenüberzutreten, dann musste
ich das jetzt durchstehen, egal, was noch auf mich
zukam.
Ganz gleich, was aus
mir wurde.
Der Radiant Boy
ragte bedrohlich vor mir auf. In den letzten paar Sekunden war er
zum Dreifachen seiner Größe angewachsen. Die blonden Locken, die
gerade noch flauschig seinen Kopf umspielt hatten, verwandelten
sich in bösartige Schlangen mit drei Köpfen, während sein Körper
ein grelles Licht ausstrahlte – so glühend, dass ich es nur mit
Mühe schaffte, nicht die Hände vors Gesicht zu schlagen. In seinen
Augen lag ein wütender, Unheil verkündender Ausdruck. Zwei
feuerrote, flammende, hasserfüllte Punkte waren auf mich gerichtet.
Aber das war nichts im Vergleich zu seinem Mund – einem riesigen
schwarzen Loch, einem gähnenden Abgrund, der sich so weit auftat,
dass mich das untrügliche Gefühl beschlich, er würde mich gleich
mit Haut und Haar verschlingen.
Ich presste meine
Lippen aufeinander und versuchte verzweifelt, meinen Schrei zu
unterdrücken. Ich starrte auf diese beiden flammenden Augenhöhlen,
während er immer näher an mich herankam. Das war das Unheimlichste,
was ich sowohl als Lebende wie auch als Tote jemals zu Gesicht
bekommen hatte. Und das schließt meine schlimmsten Albträume,
TV-Shows und sogar die Filme mit ein, die ich eigentlich nicht
hätte anschauen dürfen, es aber trotzdem getan hatte.
So etwas
Furchterregendes hatte ich noch niemals gesehen.
Die Wut in seinen
Augen war so heftig, dass ich beinahe die sengende Hitze spüren
konnte, als sein riesiger Schlund die Luft aus dem Raum
saugte.
Und eine Sache war
mir ganz klar: Eine Reise nach London war das nicht
wert.
Und auch die
Flugstunden wurden wohl überbewertet.
Aber als ich mich
umdrehte, einige Zentimeter zurückwich und mich bereits auf halbem
Weg durch die Wand befand, um schleunigst abzuhauen, dachte ich an
Bodhi.
Ich stellte mir vor,
wie er mich ganz sicher herablassend angrinsen würde, wenn er mich
im Gang sähe, mit weit aufgerissenen Augen und zu Tode
erschrocken.
Ich dachte daran,
dass ich dann versagt hätte und wie schrecklich ich mich dabei
fühlen würde.
Und ich wusste, dass
ich das nicht bringen konnte.
So schnell durfte
ich nicht aufgeben.
Nicht, bevor ich
nicht zumindest versucht hatte, mich tapfer zu
schlagen.
Egal, was aus mir
werden würde, ganz gleich, was der Radiant Boy vorhatte – ich
musste das jetzt durchziehen.
Ich drehte mich auf
dem Absatz um, stemmte die Hände in die Hüften und straffte meine
Schultern. Dann kniff ich die Augen zusammen und nahm all meinen
Mut zusammen. »Was willst du hier eigentlich beweisen?«, stieß ich
hervor und hoffte, dass er nicht bemerkte, wie meine Glieder
zitterten.
Er schlich sich noch
näher an mich heran. Seine Augen glühten auf, und sein Mund öffnete
sich noch weiter – er riss ihn so weit auf, wie ich es nie für
möglich gehalten hatte. Und mit erstaunlicher Geschwindigkeit
verringerte er den Abstand zwischen uns. Diese zornigen, feurigen
Augäpfel schienen mir die Augenbrauen zu versengen, als er sich zu
mir vorbeugte und die Schlangen aus seinen Haaren schüttelte.
Hunderte widerliche, rotäugige, dreiköpfige Schlangen, die wütend
ihre rasiermesserscharfen Giftzähne zeigten, krümmten und wanden
sich und schlängelten auf mich zu.
Ich sprang auf das
Sofa zu und versuchte, mich an dem glatten Marmortisch
festzuhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie glitten
alle auf mich zu und vermehrten sich so rasch, dass sie schon bald
den ganzen Holzboden bedeckten und ihn in ein unergründliches,
zischendes Meer verwandelten.
Ich bemühte mich
darum, ruhig zu bleiben, mich daran zu erinnern, dass ich bereits
tot war, dass sie mich nicht verletzen konnten, so sehr sie das
auch versuchen mochten, aber das half nichts. Ich konnte meine
Angst trotzdem nicht unterdrücken.
Ein Meer von
Schlangen, und kein Ausweg in Sicht.
Jetzt wurde einer
meiner schlimmsten Albträume wahr.
Zumindest dachte ich
das, bis der Radiant Boy mit den feurigen Augen, den Schlangen in
den Haaren und dem Gesicht eines Dämons sich in etwas noch viel
Schlimmeres verwandelte.
Er gestaltete sich
zu einem völlig verrückten Zirkusclown um. Mit roten Schuhen, die
direkt auf die Schlangen trampelten, so dass diese sich in wildem
Zorn wanden. Das Gesicht, das mich anstarrte, war auf gruselige
Weise überzeichnet. Der riesige, schlampig aufgemalte rote Mund
glich einer klaffenden Wunde. Breite Blutbäche flossen über seine
Stirn, und aus seinen Augen schlugen immer noch
Flammen.
Er beugte sich zu
mir vor und ließ die gereizten, schnappenden Schlangen auf seinen
Armen auf- und abgleiten. Ich war drauf und dran wegzurennen, mich
geschlagen zu geben und mich in Sicherheit zu bringen. Was Bodhi
davon halten würde, war mir nicht mehr wichtig – nichts kümmerte
mich mehr. Doch dann stellte ich fest, dass ich nicht abhauen
konnte.
Ich konnte mich
nicht bewegen.
Nicht laufen, so
sehr ich mich auch bemühte.
Irgendwie war ich,
ganz gegen meinen Willen und ohne es bemerkt zu haben, an einen
Stuhl gefesselt worden. Und ich stellte rasch fest, dass es sich um
einen Zahnarztstuhl handelte.
Ich öffnete meinen
Mund, um zu schreien und damit Bodhi, Buttercup oder das
Geistjägerpärchen aufmerksam zu machen, einfach irgendjemanden. Mir
war klar, dass ich jetzt alle Hilfe brauchte, die ich bekommen
konnte. In dem Moment, als ich die Schrecken erregende Ansammlung
von Bohrern, Dentalsonden und Nadeln sah, mit der er vor meiner
Nase herumwedelte, presste ich schnell meine Lippen wieder
aufeinander. Ich hatte keine andere Wahl, als mich selbst zum
Schweigen zu bringen.
Und dann begriff
ich, was hier tatsächlich vor sich ging.
Dieser grauenhafte,
sadistische, vollkommen verrückte, Bohrer schwingende, Schlangen
beschwörende Kieferorthopäde und Clown namens Radiant Boy hatte in
mich hineingeschaut. Direkt in mein Herz und in meine
Seele.
Er hatte meine
schlimmsten Ängste angezapft.
Schlangen – noch
dazu mit drei Köpfen!
Clowns. Das stammte
von einem schrecklichen Sommertag auf dem Jahrmarkt Oregon Country
Fair. Ich war noch ein kleines Mädchen, und irgendein
durchgeknallter Pantomime und Clown fiel mir auf die Nerven. Er
hörte nicht auf, mir hinterherzulaufen und mich nachzuäffen, bis
mein Dad sich gezwungen sah, einzugreifen.
Zahnärztliche
Instrumente – eine erprobte Foltermethode. Daran gab es keinen
Zweifel.
Allerdings wusste
ich nicht, wie er das geschafft hatte. Wie hatte er mich so gut
durchschauen können?
Und es versetzte
mich in Angst und Schrecken, wenn ich mir vorstellte, was er sonst
noch alles wissen könnte.
Seine flammenden
Augen und sein blutender Mund kamen immer näher, und ein Knäuel
Schlangen landete auf meinem Stuhl. Ich zuckte zusammen, drückte
mich so fest es ging nach hinten gegen die Stuhllehne und wünschte,
ich könnte schreien und Hilfe herbeiholen, aber ich wusste, dass
ich damit nur diesen grässlichen, surrenden Instrumenten den Weg in
meinen Mund öffnen würde. Ich stemmte mich gegen die dicken
Leinengurte und versuchte mit aller Kraft, mich zu befreien. Aber
es war zwecklos.
Er hatte bereits
gewonnen.
Ich war auf dem
besten Weg, mich in die Riege der Seelenfänger einzureihen, die vor
mir schon hier waren und gescheitert waren.