015
 
VIERZEHN
 
Der Raum hinter ihm bebte.
Dinge flogen durch die Luft.
Das Geisterjägerpärchen schoss zur Tür hinaus. Sie ließen ihre Habseligkeiten liegen, ohne auch nur einen weiteren Blick darauf zu werfen. Das kreischende Echo des Schreis von dem Mann hing noch lange in der Luft, nachdem sie schon längst geflüchtet waren.
Und nun musste ich dem Radiant Boy allein gegenübertreten, während beinahe alles, was nicht festgenagelt oder mehr als 100 Kilo schwer war, durch die Luft geschleudert wurde und direkt auf mich gerichtet war.
Ein Stuhl spaltete mich beinahe in zwei Hälften.
Eine Lampe schlug mir fast den Kopf ab.
Und dann hob sich ein Paar langer Baumwollstrümpfe mit Löchern an den Zehen und Fersen aus dem Koffer des Pärchens und kam auf meinen Hals zugeflogen, eindeutig in der Absicht, mich zu erwürgen.
Alles wirbelte wie von einem stürmischen Windstoß getrieben herum, der einem Tornado im Mittleren Westen glich und nicht aufhörte, bis der gesamte Raum und alles, was sich darin befand, entweder zerbrochen, umgeworfen oder nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz war.
Ich kauerte mich gegen die Wand und entkam um Haaresbreite einem defekten Föhn, der sich wie eine Giftschlange zischend an mir vorbeischlängelte. Ich hatte zu große Angst, meine Augen zu schließen, weil ich dann etwas verpassen könnte, aber ich hatte genauso große Angst, sie offen zu lassen, weil ich nicht wusste, was ich dann noch zu sehen bekommen würde. Ich blinzelte trotz des Winds und der herumfliegenden Trümmer nach oben zu Radiant Boy, der finster auf mich herunterschaute, und wünschte, ich hätte Buttercups Schwanz gepackt und wäre mit ihm nach draußen gelaufen, als ich dazu noch eine Möglichkeit hatte.
Aber jetzt war es zu spät. Da ich es versäumt hatte, rechtzeitig wegzulaufen, blieb mir nichts anderes übrig, als mit der Situation zurechtzukommen. Wenn ich nach London wollte, fliegen lernen wollte, oder den Mut besitzen wollte, Bodhi jemals wieder gegenüberzutreten, dann musste ich das jetzt durchstehen, egal, was noch auf mich zukam.
Ganz gleich, was aus mir wurde.
Der Radiant Boy ragte bedrohlich vor mir auf. In den letzten paar Sekunden war er zum Dreifachen seiner Größe angewachsen. Die blonden Locken, die gerade noch flauschig seinen Kopf umspielt hatten, verwandelten sich in bösartige Schlangen mit drei Köpfen, während sein Körper ein grelles Licht ausstrahlte – so glühend, dass ich es nur mit Mühe schaffte, nicht die Hände vors Gesicht zu schlagen. In seinen Augen lag ein wütender, Unheil verkündender Ausdruck. Zwei feuerrote, flammende, hasserfüllte Punkte waren auf mich gerichtet. Aber das war nichts im Vergleich zu seinem Mund – einem riesigen schwarzen Loch, einem gähnenden Abgrund, der sich so weit auftat, dass mich das untrügliche Gefühl beschlich, er würde mich gleich mit Haut und Haar verschlingen.
Ich presste meine Lippen aufeinander und versuchte verzweifelt, meinen Schrei zu unterdrücken. Ich starrte auf diese beiden flammenden Augenhöhlen, während er immer näher an mich herankam. Das war das Unheimlichste, was ich sowohl als Lebende wie auch als Tote jemals zu Gesicht bekommen hatte. Und das schließt meine schlimmsten Albträume, TV-Shows und sogar die Filme mit ein, die ich eigentlich nicht hätte anschauen dürfen, es aber trotzdem getan hatte.
So etwas Furchterregendes hatte ich noch niemals gesehen.
Die Wut in seinen Augen war so heftig, dass ich beinahe die sengende Hitze spüren konnte, als sein riesiger Schlund die Luft aus dem Raum saugte.
Und eine Sache war mir ganz klar: Eine Reise nach London war das nicht wert.
Und auch die Flugstunden wurden wohl überbewertet.
Aber als ich mich umdrehte, einige Zentimeter zurückwich und mich bereits auf halbem Weg durch die Wand befand, um schleunigst abzuhauen, dachte ich an Bodhi.
Ich stellte mir vor, wie er mich ganz sicher herablassend angrinsen würde, wenn er mich im Gang sähe, mit weit aufgerissenen Augen und zu Tode erschrocken.
Ich dachte daran, dass ich dann versagt hätte und wie schrecklich ich mich dabei fühlen würde.
Und ich wusste, dass ich das nicht bringen konnte.
So schnell durfte ich nicht aufgeben.
Nicht, bevor ich nicht zumindest versucht hatte, mich tapfer zu schlagen.
Egal, was aus mir werden würde, ganz gleich, was der Radiant Boy vorhatte – ich musste das jetzt durchziehen.
Ich drehte mich auf dem Absatz um, stemmte die Hände in die Hüften und straffte meine Schultern. Dann kniff ich die Augen zusammen und nahm all meinen Mut zusammen. »Was willst du hier eigentlich beweisen?«, stieß ich hervor und hoffte, dass er nicht bemerkte, wie meine Glieder zitterten.
Er schlich sich noch näher an mich heran. Seine Augen glühten auf, und sein Mund öffnete sich noch weiter – er riss ihn so weit auf, wie ich es nie für möglich gehalten hatte. Und mit erstaunlicher Geschwindigkeit verringerte er den Abstand zwischen uns. Diese zornigen, feurigen Augäpfel schienen mir die Augenbrauen zu versengen, als er sich zu mir vorbeugte und die Schlangen aus seinen Haaren schüttelte. Hunderte widerliche, rotäugige, dreiköpfige Schlangen, die wütend ihre rasiermesserscharfen Giftzähne zeigten, krümmten und wanden sich und schlängelten auf mich zu.
Ich sprang auf das Sofa zu und versuchte, mich an dem glatten Marmortisch festzuhalten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie glitten alle auf mich zu und vermehrten sich so rasch, dass sie schon bald den ganzen Holzboden bedeckten und ihn in ein unergründliches, zischendes Meer verwandelten.
Ich bemühte mich darum, ruhig zu bleiben, mich daran zu erinnern, dass ich bereits tot war, dass sie mich nicht verletzen konnten, so sehr sie das auch versuchen mochten, aber das half nichts. Ich konnte meine Angst trotzdem nicht unterdrücken.
Ein Meer von Schlangen, und kein Ausweg in Sicht.
Jetzt wurde einer meiner schlimmsten Albträume wahr.
Zumindest dachte ich das, bis der Radiant Boy mit den feurigen Augen, den Schlangen in den Haaren und dem Gesicht eines Dämons sich in etwas noch viel Schlimmeres verwandelte.
Er gestaltete sich zu einem völlig verrückten Zirkusclown um. Mit roten Schuhen, die direkt auf die Schlangen trampelten, so dass diese sich in wildem Zorn wanden. Das Gesicht, das mich anstarrte, war auf gruselige Weise überzeichnet. Der riesige, schlampig aufgemalte rote Mund glich einer klaffenden Wunde. Breite Blutbäche flossen über seine Stirn, und aus seinen Augen schlugen immer noch Flammen.
Er beugte sich zu mir vor und ließ die gereizten, schnappenden Schlangen auf seinen Armen auf- und abgleiten. Ich war drauf und dran wegzurennen, mich geschlagen zu geben und mich in Sicherheit zu bringen. Was Bodhi davon halten würde, war mir nicht mehr wichtig – nichts kümmerte mich mehr. Doch dann stellte ich fest, dass ich nicht abhauen konnte.
Ich konnte mich nicht bewegen.
Nicht laufen, so sehr ich mich auch bemühte.
Irgendwie war ich, ganz gegen meinen Willen und ohne es bemerkt zu haben, an einen Stuhl gefesselt worden. Und ich stellte rasch fest, dass es sich um einen Zahnarztstuhl handelte.
Ich öffnete meinen Mund, um zu schreien und damit Bodhi, Buttercup oder das Geistjägerpärchen aufmerksam zu machen, einfach irgendjemanden. Mir war klar, dass ich jetzt alle Hilfe brauchte, die ich bekommen konnte. In dem Moment, als ich die Schrecken erregende Ansammlung von Bohrern, Dentalsonden und Nadeln sah, mit der er vor meiner Nase herumwedelte, presste ich schnell meine Lippen wieder aufeinander. Ich hatte keine andere Wahl, als mich selbst zum Schweigen zu bringen.
Und dann begriff ich, was hier tatsächlich vor sich ging.
Dieser grauenhafte, sadistische, vollkommen verrückte, Bohrer schwingende, Schlangen beschwörende Kieferorthopäde und Clown namens Radiant Boy hatte in mich hineingeschaut. Direkt in mein Herz und in meine Seele.
Er hatte meine schlimmsten Ängste angezapft.
Schlangen – noch dazu mit drei Köpfen!
Clowns. Das stammte von einem schrecklichen Sommertag auf dem Jahrmarkt Oregon Country Fair. Ich war noch ein kleines Mädchen, und irgendein durchgeknallter Pantomime und Clown fiel mir auf die Nerven. Er hörte nicht auf, mir hinterherzulaufen und mich nachzuäffen, bis mein Dad sich gezwungen sah, einzugreifen.
Zahnärztliche Instrumente – eine erprobte Foltermethode. Daran gab es keinen Zweifel.
Allerdings wusste ich nicht, wie er das geschafft hatte. Wie hatte er mich so gut durchschauen können?
Und es versetzte mich in Angst und Schrecken, wenn ich mir vorstellte, was er sonst noch alles wissen könnte.
Seine flammenden Augen und sein blutender Mund kamen immer näher, und ein Knäuel Schlangen landete auf meinem Stuhl. Ich zuckte zusammen, drückte mich so fest es ging nach hinten gegen die Stuhllehne und wünschte, ich könnte schreien und Hilfe herbeiholen, aber ich wusste, dass ich damit nur diesen grässlichen, surrenden Instrumenten den Weg in meinen Mund öffnen würde. Ich stemmte mich gegen die dicken Leinengurte und versuchte mit aller Kraft, mich zu befreien. Aber es war zwecklos.
Er hatte bereits gewonnen.
Ich war auf dem besten Weg, mich in die Riege der Seelenfänger einzureihen, die vor mir schon hier waren und gescheitert waren.