ACHTZEHN
Er führte mich und Buttercup den Gang hinunter, weit
weg von dem blauen Zimmer, in dem ich meine Aufgabe erfüllt hatte,
dann die Treppe hinunter, quer durch ein riesiges Foyer und eine
andere Treppenflucht hinauf, die zu einem weiteren langen Flur
führte. Dann ging es eine schmalere Treppe hinauf, durch einen sehr
engen Korridor, an dessen Ende sich eine winzige Tür befand. Die
meisten Leute hätten sich bücken müssen, um hindurchzugehen, aber
wir mussten das natürlich nicht. Es folgten noch ein paar Stufen,
bis wir schließlich eines dieser Türmchen betraten. Eines dieser
spitzen Gebilde, die jedes schöne Schloss hatte und die ich immer
schon einmal von innen hatte sehen wollen.
Ich wollte rasch
durch die Tür zischen und mir schnell lange, blonde Haare
manifestieren, um mich endlich einmal wie Rapunzel zu fühlen. Das
hatte ich mir schon lange gewünscht. Doch Bodhi streckte seinen Arm
aus und hielt mich auf. »Bist du dir ganz sicher?«
Also bitte. Ich konnte mich nur mit Mühe
zurückhalten, direkt vor seinem Gesicht die Augen zu verdrehen.
Gerade soeben war ich drei glühenden Radiant Boys mit roten Kugeln
anstelle von Augäpfeln und tiefen, dunklen Höhlen als Münder
entgegengetreten, und nun wollte er wissen, ob ich damit klarkäme?
Also, ernsthaft, das war beinahe eine Beleidigung. Wie schlimm
konnte das wohl sein?
»Es ist keine
Schande, sich zu fürchten«, erklärte er, musterte mich aufmerksam
und kaute dabei immer noch auf diesem doofen Strohhalm herum, der
sich allmählich in seine Einzelteile auflöste. »Ganz und gar nicht.
Es ist vollkommen natürlich, und ich würde es dir nicht übel
nehmen, wenn du jetzt umkehren würdest, solange du dazu noch die
Möglichkeit hast. Du hast dich bereits bewährt. Du hast die Sache
in Angriff genommen und Erfolg gehabt, wo viele vor dir gescheitert
sind. Du bist ein erstaunliches Mädchen, Riley Bloom. Du bist die
beste Seelenfängerin, die ich jemals kennen gelernt habe, und das
ist erst dein erster Tag! Aber dies hier ist meine Aufgabe, nicht
deine. Und, glaub mir, dafür gibt es auch einen
Grund.«
Ich konnte einfach
nicht anders. Eigentlich war ich jemand, der nicht genug
Komplimente bekommen konnte, aber ich war nicht besonders gut
darin, sie dann auch anzunehmen. Nachdem er das alles gesagt hatte,
begannen meine Augen zu brennen und in meiner Kehle bildete sich
ein Kloß. Ich konnte nur wortlos nicken und zur Seite schauen. Sein
Lob war mir peinlich und beschämte mich.
»Okay«, flüsterte
ich heiser. »Aber lass es mich zumindest versuchen. Bitte. Ich
möchte so viel lernen wie möglich.«
Er sah mich lange
an, bevor er zustimmend nickte. Und in dem Moment, in dem er die
Tür öffnete, hörte ich es.
Tatsächlich hörten
wir alle es.
Einschließlich
Buttercup.
Dieses leise,
wehklagende Stöhnen.
Ein Geräusch der
Verzweiflung.
Ein Geräusch, das
jemand von sich gab, der so sehr in seinem Kummer versunken war,
dass er zu nichts mehr fähig war, sondern nur noch Töne von sich
geben konnte, die nach Tod klangen.
Das Geräusch ertönte
durchgehend. Unaufhörlich, so als würde es bis in alle Ewigkeit
anhalten.
Und es verursachte
mir Gänsehaut.
Bodhi warf mir einen
Blick zu, und einen Moment lang sahen wir uns in die Augen, bevor
er an mir vorbeiging und die steile, schmale Treppe hinaufstieg.
Buttercup und ich stapften hinter ihm her.
Als wir oben
angelangt waren, sah ich sie. Es dauerte einen Augenblick, bis ich
genau erkennen konnte, woher das Geräusch kam. Es klingt
wahrscheinlich komisch, aber die Frau war so alt, so grau, so welk
und blass, dass sie sich praktisch kaum gegen die alten, grauen,
verblassten und verwaschenen Wände abhob.
Beinahe so, als
hätte sie so viel Zeit in diesem Raum verbracht, dass sie begonnen
hatte, sich ihm anzupassen.
Und ein Teil davon
zu werden.
Wie ein altes,
massives und schweres Möbelstück, das nie von seinem Platz gerückt
worden war.
Ich wich zurück und
lehnte mich gegen die am weitesten entfernte Wand, während Bodhi
auf sie zuging. Wäre ich noch am Leben gewesen, hätte ich jetzt vor
Schreck den Atem angehalten und hätte mir in Panik überlegt, was
wohl als Nächstes passieren würde.
So aber blieb ich
wie angewurzelt stehen. Die geballte Energie, die die neue, tote,
geisterhafte Version von mir normalerweise antrieb, kam mit
quietschenden Bremsen zum Stillstand. Ich blieb schwankend stehen,
und Buttercup kauerte sich neben mich.
Bodhi schlich immer
näher an sie heran, aber die Frau nahm seine Gegenwart gar nicht
wahr. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass wir den Raum betreten
hatten.
Sie stand da und
presste sich so nahtlos an die Wand, dass sie scheinbar mit ihr
verschmolz. Sie war klein und schlank, und ihr Rücken krümmte sich,
als sie ihre schmalen Schultern hochzog. Hin und wieder, wenn sie
wieder von einem erneuten Weinkrampf geschüttelt wurde, richtete
sie sich auf, bevor sie sich dann wieder zurücksinken ließ und noch
tiefer nach unten sank als zuvor. Ihr langes Baumwollkleid klebte
wenig schmeichelhaft in klatschnassen Falten an ihr. Alles an ihr
war so farblos, so matt, so unscheinbar. Nur ihr Haar stach hervor.
Es war das Einzige an ihr, was Farbe besaß – es war lang, wellig
und dunkel und in einem lockeren Knoten nach oben gesteckt, der von
zwei perlenbesetzten Haarnadeln notdürftig zusammengehalten
wurde.
Wir drei
beobachteten, wie sie aus einem kleinen, quadratischen Fenster
starrte und sich über etwas grämte, was wir nicht einmal erahnen,
geschweige denn sehen konnten.
Ihr Wehklagen klang
so herzzerreißend, so befremdlich, so aufwühlend und so verwirrend,
dass Buttercup sich auf den Bauch sinken ließ, sein Kinn auf den
alten Steinboden presste und seine Pfoten auf seine Ohren legte, in
dem verzweifelten Versuch, es nicht mehr mit anhören zu
müssen.
Ganz ehrlich, als
ich das sah, war ich kurz davor, es ihm gleichzutun. Aber dann warf
Bodhi mir einen Blick über die Schulter zu, um nachzuschauen, wie
es uns ging. Ich wollte mir nicht anmerken lassen, dass ich völlig
geschockt und kurz vorm Ausrasten war, also hob ich meine Hand und
fuhr mit den Fingern durch die Luft, um ihm zu bedeuten, dass er
sich nicht um uns kümmern, sondern einfach mit seiner Aufgabe
fortfahren sollte. Je schneller er zur Sache kam, umso schneller
konnten wir dieses enge, stickige Gefängnis aus Stein
verlassen.
Die wenigen Minuten
in ihrer Gegenwart hatten gereicht, um meine Träume von einem
Rapunzeldasein zunichtezumachen, ganz zu schweigen von meiner
bisherigen Begeisterung für Schlösser, Türmchen und ähnliche Dinge.
Es war grässlich hier drin – winzig, dunkel, schmutzig und feucht.
Man bekam Platzangst, selbst wenn man wie wir nicht mehr atmen
musste. Ich begriff nicht, warum irgendjemand einen Teil seines
Lebens nach dem Tod so verbringen wollte oder Hunderte Jahre hier
ausharrte.
Was sich manche
Geister dabei dachten, konnte ich nicht
nachvollziehen.
Das Verhalten von
einigen ergab überhaupt keinen Sinn.
Bodhi sprach leise
und ruhig auf sie ein, und obwohl ich die Worte nicht verstand, war
mir klar, dass er versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, ihr
Vertrauen zu gewinnen und sie dazu zu bewegen, sich umzudrehen und
ihn anzusehen.
Er nahm sogar seine
lächerliche Brille ab und steckte sie in die Tasche. Ich war nicht
sicher, ob er sie so besser sehen konnte oder ob sie ihn somit
leichter erkennen sollte – falls sie sich überhaupt jemals zu ihm
umdrehen würde.
Obwohl er ohne diese
Brille x-mal besser aussah und das ein riesiger Schritt weg vom
Langweilerlook und ein winziger Schritt hin zu … na ja, hin zu dem
Gegenteil davon war, machte es im Endeffekt nicht den geringsten
Unterschied. Zumindest nicht für sie.
Sie blieb weiter wie
angewurzelt an derselben Stelle stehen. Und sie weinte immer noch
und starrte weiterhin aus dem schmalen, quadratischen
Fenster.
Selbstvergessen.
Desinteressiert.
Zu sehr in ihren
Kummer versunken.
Während ich sie
dabei beobachtete, fragte ich mich, ob sie jemals davon genug haben
und damit aufhören würde.
Ob sie wohl jemals
nur für ein paar Minuten innehalten und sich über die Augen wischen
oder ihre Nase putzen würde, bevor sie wieder anfing.
Dann erfuhr ich,
dass sie das tatsächlich tat.
Und dass das
Wehklagen schon bald durch etwas noch viel Schlimmeres ersetzt
werden würde.