019
 
ACHTZEHN
 
Er führte mich und Buttercup den Gang hinunter, weit weg von dem blauen Zimmer, in dem ich meine Aufgabe erfüllt hatte, dann die Treppe hinunter, quer durch ein riesiges Foyer und eine andere Treppenflucht hinauf, die zu einem weiteren langen Flur führte. Dann ging es eine schmalere Treppe hinauf, durch einen sehr engen Korridor, an dessen Ende sich eine winzige Tür befand. Die meisten Leute hätten sich bücken müssen, um hindurchzugehen, aber wir mussten das natürlich nicht. Es folgten noch ein paar Stufen, bis wir schließlich eines dieser Türmchen betraten. Eines dieser spitzen Gebilde, die jedes schöne Schloss hatte und die ich immer schon einmal von innen hatte sehen wollen.
Ich wollte rasch durch die Tür zischen und mir schnell lange, blonde Haare manifestieren, um mich endlich einmal wie Rapunzel zu fühlen. Das hatte ich mir schon lange gewünscht. Doch Bodhi streckte seinen Arm aus und hielt mich auf. »Bist du dir ganz sicher?«
Also bitte. Ich konnte mich nur mit Mühe zurückhalten, direkt vor seinem Gesicht die Augen zu verdrehen. Gerade soeben war ich drei glühenden Radiant Boys mit roten Kugeln anstelle von Augäpfeln und tiefen, dunklen Höhlen als Münder entgegengetreten, und nun wollte er wissen, ob ich damit klarkäme? Also, ernsthaft, das war beinahe eine Beleidigung. Wie schlimm konnte das wohl sein?
»Es ist keine Schande, sich zu fürchten«, erklärte er, musterte mich aufmerksam und kaute dabei immer noch auf diesem doofen Strohhalm herum, der sich allmählich in seine Einzelteile auflöste. »Ganz und gar nicht. Es ist vollkommen natürlich, und ich würde es dir nicht übel nehmen, wenn du jetzt umkehren würdest, solange du dazu noch die Möglichkeit hast. Du hast dich bereits bewährt. Du hast die Sache in Angriff genommen und Erfolg gehabt, wo viele vor dir gescheitert sind. Du bist ein erstaunliches Mädchen, Riley Bloom. Du bist die beste Seelenfängerin, die ich jemals kennen gelernt habe, und das ist erst dein erster Tag! Aber dies hier ist meine Aufgabe, nicht deine. Und, glaub mir, dafür gibt es auch einen Grund.«
Ich konnte einfach nicht anders. Eigentlich war ich jemand, der nicht genug Komplimente bekommen konnte, aber ich war nicht besonders gut darin, sie dann auch anzunehmen. Nachdem er das alles gesagt hatte, begannen meine Augen zu brennen und in meiner Kehle bildete sich ein Kloß. Ich konnte nur wortlos nicken und zur Seite schauen. Sein Lob war mir peinlich und beschämte mich.
»Okay«, flüsterte ich heiser. »Aber lass es mich zumindest versuchen. Bitte. Ich möchte so viel lernen wie möglich.«
Er sah mich lange an, bevor er zustimmend nickte. Und in dem Moment, in dem er die Tür öffnete, hörte ich es.
Tatsächlich hörten wir alle es.
Einschließlich Buttercup.
Dieses leise, wehklagende Stöhnen.
Ein Geräusch der Verzweiflung.
Ein Geräusch, das jemand von sich gab, der so sehr in seinem Kummer versunken war, dass er zu nichts mehr fähig war, sondern nur noch Töne von sich geben konnte, die nach Tod klangen.
Das Geräusch ertönte durchgehend. Unaufhörlich, so als würde es bis in alle Ewigkeit anhalten.
Und es verursachte mir Gänsehaut.
Bodhi warf mir einen Blick zu, und einen Moment lang sahen wir uns in die Augen, bevor er an mir vorbeiging und die steile, schmale Treppe hinaufstieg. Buttercup und ich stapften hinter ihm her.
Als wir oben angelangt waren, sah ich sie. Es dauerte einen Augenblick, bis ich genau erkennen konnte, woher das Geräusch kam. Es klingt wahrscheinlich komisch, aber die Frau war so alt, so grau, so welk und blass, dass sie sich praktisch kaum gegen die alten, grauen, verblassten und verwaschenen Wände abhob.
Beinahe so, als hätte sie so viel Zeit in diesem Raum verbracht, dass sie begonnen hatte, sich ihm anzupassen.
Und ein Teil davon zu werden.
Wie ein altes, massives und schweres Möbelstück, das nie von seinem Platz gerückt worden war.
Ich wich zurück und lehnte mich gegen die am weitesten entfernte Wand, während Bodhi auf sie zuging. Wäre ich noch am Leben gewesen, hätte ich jetzt vor Schreck den Atem angehalten und hätte mir in Panik überlegt, was wohl als Nächstes passieren würde.
So aber blieb ich wie angewurzelt stehen. Die geballte Energie, die die neue, tote, geisterhafte Version von mir normalerweise antrieb, kam mit quietschenden Bremsen zum Stillstand. Ich blieb schwankend stehen, und Buttercup kauerte sich neben mich.
Bodhi schlich immer näher an sie heran, aber die Frau nahm seine Gegenwart gar nicht wahr. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass wir den Raum betreten hatten.
Sie stand da und presste sich so nahtlos an die Wand, dass sie scheinbar mit ihr verschmolz. Sie war klein und schlank, und ihr Rücken krümmte sich, als sie ihre schmalen Schultern hochzog. Hin und wieder, wenn sie wieder von einem erneuten Weinkrampf geschüttelt wurde, richtete sie sich auf, bevor sie sich dann wieder zurücksinken ließ und noch tiefer nach unten sank als zuvor. Ihr langes Baumwollkleid klebte wenig schmeichelhaft in klatschnassen Falten an ihr. Alles an ihr war so farblos, so matt, so unscheinbar. Nur ihr Haar stach hervor. Es war das Einzige an ihr, was Farbe besaß – es war lang, wellig und dunkel und in einem lockeren Knoten nach oben gesteckt, der von zwei perlenbesetzten Haarnadeln notdürftig zusammengehalten wurde.
Wir drei beobachteten, wie sie aus einem kleinen, quadratischen Fenster starrte und sich über etwas grämte, was wir nicht einmal erahnen, geschweige denn sehen konnten.
Ihr Wehklagen klang so herzzerreißend, so befremdlich, so aufwühlend und so verwirrend, dass Buttercup sich auf den Bauch sinken ließ, sein Kinn auf den alten Steinboden presste und seine Pfoten auf seine Ohren legte, in dem verzweifelten Versuch, es nicht mehr mit anhören zu müssen.
Ganz ehrlich, als ich das sah, war ich kurz davor, es ihm gleichzutun. Aber dann warf Bodhi mir einen Blick über die Schulter zu, um nachzuschauen, wie es uns ging. Ich wollte mir nicht anmerken lassen, dass ich völlig geschockt und kurz vorm Ausrasten war, also hob ich meine Hand und fuhr mit den Fingern durch die Luft, um ihm zu bedeuten, dass er sich nicht um uns kümmern, sondern einfach mit seiner Aufgabe fortfahren sollte. Je schneller er zur Sache kam, umso schneller konnten wir dieses enge, stickige Gefängnis aus Stein verlassen.
Die wenigen Minuten in ihrer Gegenwart hatten gereicht, um meine Träume von einem Rapunzeldasein zunichtezumachen, ganz zu schweigen von meiner bisherigen Begeisterung für Schlösser, Türmchen und ähnliche Dinge. Es war grässlich hier drin – winzig, dunkel, schmutzig und feucht. Man bekam Platzangst, selbst wenn man wie wir nicht mehr atmen musste. Ich begriff nicht, warum irgendjemand einen Teil seines Lebens nach dem Tod so verbringen wollte oder Hunderte Jahre hier ausharrte.
Was sich manche Geister dabei dachten, konnte ich nicht nachvollziehen.
Das Verhalten von einigen ergab überhaupt keinen Sinn.
Bodhi sprach leise und ruhig auf sie ein, und obwohl ich die Worte nicht verstand, war mir klar, dass er versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie dazu zu bewegen, sich umzudrehen und ihn anzusehen.
Er nahm sogar seine lächerliche Brille ab und steckte sie in die Tasche. Ich war nicht sicher, ob er sie so besser sehen konnte oder ob sie ihn somit leichter erkennen sollte – falls sie sich überhaupt jemals zu ihm umdrehen würde.
Obwohl er ohne diese Brille x-mal besser aussah und das ein riesiger Schritt weg vom Langweilerlook und ein winziger Schritt hin zu … na ja, hin zu dem Gegenteil davon war, machte es im Endeffekt nicht den geringsten Unterschied. Zumindest nicht für sie.
Sie blieb weiter wie angewurzelt an derselben Stelle stehen. Und sie weinte immer noch und starrte weiterhin aus dem schmalen, quadratischen Fenster.
Selbstvergessen.
Desinteressiert.
Zu sehr in ihren Kummer versunken.
Während ich sie dabei beobachtete, fragte ich mich, ob sie jemals davon genug haben und damit aufhören würde.
Ob sie wohl jemals nur für ein paar Minuten innehalten und sich über die Augen wischen oder ihre Nase putzen würde, bevor sie wieder anfing.
Dann erfuhr ich, dass sie das tatsächlich tat.
Und dass das Wehklagen schon bald durch etwas noch viel Schlimmeres ersetzt werden würde.